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. -—— — ——— Nr. 26. 2. AM-e;m Weißeritz Jeitmz. 71. Jahrgang Sonnabend, den 4. März 190S. Tagesgeschichls. Berlin. Die diplomatischen Vertreter des Reiches in Rom, Brüssel, Bern und Belgrad haben die bestehenden Handelsverträge mit Italien, Belgien, der Schweiz und Serbien in derselben Weise, wie es in Wien und Bukarest geschehen ist, gekündigt. — In der Sitzung der Budgetkommission des Reichstages am I. März, in der die Beratung der Friedenspräsenzstärke fortgesetzt wurde, verbreitete sich der Staatssekretär des Reichsschatzamtes Frhr. v. Stengel über die Finanzlage des Reiches. Aus den« neuen Zolltarif gesetz und den neuen Handelsverträgen berechnet er sür den Reichshaushalt einen jährlichen Mehrbetrag von 20 bis 30 Millionen Mark. Die gleiche Summe sei nach der lex Trimborkl für Witwen- und Waisenversicherung zurück- zulegen. Diese Summe reiche aber zur Sanierung der Reichsfinanzen nicht aus. Es sei daher eine große Reichs finanz- und Steuerreform erforderlich. Er hege die Hoff nung, die Vorarbeiten dazu in allernächster Zeit zum Ab schluß zu bringen. Die Finanz-Verhältnisse zwischen Reich und Einzelstaaten würden durch die Reform auf das tiefste berührt werden. Die neuen Steueroorlagen würden vor denk Herbste nicht vorgelegt werden, aber dann so, daß nachträglich die Mehrausgaben schon sür das laufende Jahr noch durch sie gedeckt werden könnten. Mit einem bestimmten Steuerprogramm könne er nicht hervortreten, bevor die verbündeten Regierungen seine Pläne gutgeheißen hätten. Seine Zurückhaltung aber dürfte den Reichstag nicht veranlassen, notwendige Forderungen für die Schlag fertigkeit des Heeres zu beanstanden. — Der Reichstag vollbesetzt! Nachdem die Stichwahl im Wahlkreise Hof stattgefunden hat, sind jetzt alle Reichstagsmandate besetzt. Wenn nur die Herren Ab geordneten auch alle regelmäßig jm Reichstage erscheinen wollten! — Man raunt wieder einmal im Blätterwalde davon, daß ein paar preußisch-deutsche Minister amtsmüde ge worden seien und im stillen Kämmerlein eine Sehnsucht verspüren nach dem Glück eines ruhigen, weder von Amts- sorgen, noch vor den Vorwürfen der Volksvertretung oder gar von der Kritik der Presse angekränkelten Daseins. Das Raunen hat sich die Herren Möller und Studt als betrübliche Objekte erkoren, zwei Männer, die einst so hoffnungsfroh hinaussegelten in das weite Meer der Politik, und die jetzt, nach manchem Sturm und mancher Enttäuschung, zu der Erkenntnis durchgedrungen sein sollen, daß die Politik „in finsteren Stürmen den Frieden der kleinen Hütte wild zerstört und jede holde Blume dieses Lebens in blinder Wut zerknickt". Daß hinter den Ge rüchten ein Stückchen Wahrheit lauert, ist recht wohl mög lich I daß das deutsche Volk, wenn Studt und Möller scheiden, in heiße Tränen ausbrechen und im Stile von Friedrichsruh Pilgerfahrten nach Vrackwede oder zum Tuskulum des von Herrn Althoff gefesselten Prometheus, der kein Lichtbringer war, antreten könnte, ist wenig wahr scheinlich: In ruhigem Gleichmaß würden die Tage ver gehen, auch wenn beide Kämpfer über Bord gingen. — Zwischen der schweizerischen und der deutschen Re gierung hat ein Meinungsaustausch über die Schiffbar machung des Rheins von Basel bis Straßburg stattge funden. — Auf das Mittelmeer wird durch die bevorstehende Kaiserfahrt nach dem Süden das allgemeine Interesse wieder einmal gelenkt. Der Kaiser benutzt zur Ausreise einen Dampfer der Hamburg-Amerika-Linie, die aber speziell in der Mittelmeerschiffahrt die deutsche Flagge nicht an erster Stelle repräsentiert. Dies gilt mehr vom Norddeutschen Lloyd, der hier sowohl in bezug auf die Größe seiner Dampfer als die Bedeutung seiner Linien für den internationalen Reise- und Frachtverkehr alle Konkurrenten überflügelt. Dem Kaiser wird auf der Süd landfahrt die deutsche Handelsflagge weit häufiger be gegnen, als auf den Nordlandrei en, und wiederum nicht nur auf Kauffahrteischiffen und Übersee-Steamern. Es ist neuerdings die Seetouristik in Aufnahme gekommen mit dem Mittelmeer als bevorzugtem Gebiet. Die von den deutschen Reedereien veranstalteten Sonderfahrten und Rundreisen erlangen allmäblich internationale Bedeutung. So charterte eine amerikanische Reisegesellschaft für eine Orientfahrt den Lloyddampfer „Großer Kurfürst". Es ist kein ZwAfel, daß durch die Südlandfahrten des Kaisers der Seetouristik neue Anhänger und den deutschen Reedereien erhöhte Einnahmen zugeführt werden, die den durch die niedrigen Seefrachten verursachten Gewinn-Ausfall weniger empfindlich machen. — Der neue Cuxhavener Hafen, der seinerzeit als Anlegeplatz für die Schnelldampfer der Hamburg- Amerika-Linie diente, soll, da sich die Paketfahrtgesellschast weigert, den Pachtvertrag zu erneuern, von dem Neichs- marineamt für Zwecke der Kriegsmarine gepachtet werden, so wird wenigstens aus Hamburg gemeldet. Übrigens hat di« Hamburg-Amerika-Linie elf ihrer Schiffe nach aus wärts verkauft. Wie der „Berliner Ztg." aus Hamburg gemeldet wird, sind die Schiffe an Rußland als Transport schiffe verchartert worden, um das zweite und dritte russische Geschwader als Kohlenschiffe von Madagaskar aus nach dem Kriegsschauplätze zu begleiten. Da die Japaner, so heißt es in der Meldung weiter, erklärten, jedes Transportschiff im Gefolge der russischen Kriegsflotte als feindliches Schiff zu betrachten, so hat die Hamburg- Amerika-Linie einen Vertrag festgesetzt, daß im Falle des Verlustes eines Schisses ein bestimmter Verkaufspreis von Rußland erstattet werden muß. Kapitäne, Offiziere, sowie Mannschaften erhalten eine außerordentlich hohe Monats heuer, ferner sollen im Falle eines Unglücks die Hinter bliebenen sehr hohe Versicherungssummen ausgezahlt er halten. Es ist wenig wahrscheinlich, daß die an Rußland vercharteten Dampfer die deutsche Bemannung behalten werden. Letztere wird die Dampfer wohl nur bis Mada gaskar bringen und sic dort den Russen zur Besatzung mit eigenen Leuten übergeben. Andernfalls liefen deutsche Offiziere und Matrosen Gefahr, von den Japanern als Feinde behandelt zu werden. Ünd das kann nicht beab sichtigt sein. — Bayern und der Toleranzantrag. Durch den nun erschienenen offiziellen stenographischen Bericht über die Reichstagsverhandlungen zum Toleranzantrage ist es ermöglicht, aus der Rede vr. Hiebers noch einige Einzelheiten nachzutragen, welche ein sehr bezeichnendes Licht auf Bayern, das klassische Land der Zentrumsherr