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Es werden ihm bereits allerhand bestimmte Pläne zugeschrieben, u. A. auch der, da- dem Zentrum recht unbequeme BolkSschulgesetz zurückzuziehen. Mit der Deutung, welche seine Berufung an die Stelle des Herrn vod Göhler gefunden hat, würde eine solche Absicht allerdings zusammen stimmen. Graf Zedlitz soll ja, wie eS heißt, die Zentrumspartei durch weitere Befriedigung ihrer Ansprüche noch näher an die Regierung heran zuziehen gewillt sein. Auch die Worte, mit welchen Herr von Göhler von den Beamten des Kultusministeriums sich verabschiedete, legt man in diesem Sinne aus. Herr von Göhler sagte nämlich, er sei nicht zurückgetreten, weil er müde wäre, sondern weil er sah, das eine Politik ein geschlagen werde, für welche er ein Hinderniß zu sein befürchtete. Freilich hat das Ableben Windthorst's in das Regierungskonzept eine ge wisse Verwirrung gebracht. Man weiß nicht, ob das Zentrum unter anderer Führung noch ferner die geschlossene Partei bilden wird, als welche es der Regierung die erwünschte Unterstützung zu leihen vermag. Am Todestage Windthorst's bot das Zentrum im Reichstage bereits ein Bild innerer Zerklüftung. Zweimal bei zwei verschiedenen Berathungsgegenständen traten Redner aus der Zentrümspartei einander gegenüber. Der Berliner Korrespondent eines süddeutschen Blattes sagt, es sei eine Situation eingetreten, wie man sie seit dem Bestände des neuen deutschen Reiches noch nicht erlebt habe. In der Presse nehmen denn auch die akademischen Erörterungen über die Zukunft des Zentrums und über die Person seines zukünftigen Führers ihren munteren Fortgang. Sehr richtig bemerkt zu diesem Streit der Meinungen die „Nat.-Ztg.": „Solche Spekulationen scheinen uns ziemlich müßige zu sein. Man kann einen Fraktionsvorsitzenden wählen — im Reichstag ist es beim Zentrum schon jetzt Graf Ballestrem, im Abgeordneten haus Herr von Heereman; aber ein politischer Führer wird nicht auf so mechanische Art einge setzt, auch Windthorst wurde es s. Z. nicht. Eine solche Position kann nur mit der Zeit durch Leistungen erworben werden, und je nach diesen ist das damit verbundene Maß von Autorität bei den verschiedenen Parteien ein sehr verschiedenes. Die Frage, ob das Zentrum jemals wieder einen Führer von der Machtstellung Windthorst's haben wird, fällt theilweise zusammen mit der Frage, ob das Zentrum als einheitliche Partei zusammen bleibt; und sie wird nicht von heute auf morgen beantwortet werden." Jeden falls hat die Führerlosigkeit des Zentrums auf die Berathungen des Reichstages als erschwerendes Moment gewirkt. Wenigstens hat der Reichstag um einen Tag früher seine am 7. April endenden Osterferien angetreten, und zwar mit Rücksicht auf das am 18. März statlgefundene Leichenbe- gängnih Windthorst's und die dadurch veranlaßte Abreise aller Zentrumsmitglieder nach Hannover. Vor seinem Auseinandergehen hat der Reichstag noch die dritte Lesung des Etats beendet. Nach den hierbei gefaßten Beschlüssen balanciren die Ausgaben und Einnahmen mit 1,102,435,132 Mark, und zwar entfallen 941,723,025 Mark auf die fortdauernden Ausgaben, 71,721,279 Mark auf die außerordentlichen Ausgaben des ordentlichen Etats und 88,990,820 Mark auf die Ausgaben des außerordentlichen Etats. Einen bemerkenswerthen Artikel über die Gründe, welche zur Anknüpfung der deutsch-österreichischen Handelsvertragsverhandlungen führten, brachte am 19. d. M. Abends der „Reichsanzeiger." In dem Artikel wurde nach einem längeren geschicht lichen Rückblick in erster Reihe das in den Ver einigten Staaten von Nordamerika, in Rußland und Frankreich hervorgetreteue System des strengsten Schutzzolles als Gründe genannt. Die Gefahr einer vollständigen Umwälzung der europäischen wirthschaftlichen Verhältnisse habe sich neuerdings immer intensiver gestaltet, und bei einer solchen Sachlage müsse man erwarten, daß in beiden Reichen der Zielpunkt der schwebenden Verhandlungen mehr und mehr von den betheiligten Kreisen gewürdigt werde. Zum Schluß wurde betont, der Beitritt anderer Staaten zu der Konvention sei bestimmt zu er warten. Urber den Gang der Verhandlungen selbst ist die offiziös bediente „Pol. Korresp." von österreichischer Seite ermächtigt, die Unzuver lässigkeit aller Zeitungsmeldungen über die HandelSvertragSverhandlungcn, welche bekanntlich geheim geführt werden, hervorzuheben. Die „Polit. Korresp." versichert, daß in dem Stande der Verhandlungen keine „wesentliche" Verände rung einaetteten sei und die Hoffnung auf das Zustandekommen des Vertrages fortdauernd auf recht erhalten werd«. Bisher haben die Besprechungen des öster reichischen Ministerpräsidenten Grafen Taaffe mit den Führern der verschiedenen Parteien, so weit eS sich um die Sicherung einer Majorität in dem demnächst zusammcntretenden RrichSrath handelt, zu keinem Ergebniß geführt. Die ent- gegenstehrnden Schwierigkeiten haben sich vor läufig als unübersteiglich erwiesen. Eine Ver bindung der Polen mit den Deutschliberalen wurde durch die einander entgegengesetzten, aber den gleichen Zweck verfolgenden Bedingungen, welche beide Parteien stellten, unmöglich. Beide machten ihre Mitwirkung zur Bildung einer gemeinsamen Majorität davon abhängig, daß sie nicht innerhalb derselben majorisirt werden können. Die Deutschen wiesen deshalb den Hin zutritt von Gruppen, die, vereint mit den Polen, das Uebergewicht über die deutsch-liberale Partei erlangt hätten, mithin vor Allem den Hinzutritt der Hohenwart'schen Gruppe zurück, während die Polen zu einer mit den Deutschen zu bildende» Majorität nur dann die Hand bieten wollten, wenn sie ge rade durch den Hinzutritt anderer Gruppen gegen die Majorisirung durch die Deutschen sicherge stellt würden. Die Ueberbrückung dieser Gegen sätze erwies sich als unmöglich. Graf Taaffe will es nun versuchen, mit Hilfe der Polen, des föderalistischen Hohenwartklubs, der Altczechen, Klerikalen rc. eine Majorität ohne die Deutschen zu bilden. Ob's ihnen gelingen wird, ist eine andere Frage. Aller Voraussicht nach wird bei der Fassung der Thronrede durch Aufstellung eines für alle Parteien annehmbaren, also jeden falls sehr allgemein gehaltenen Programms für die Ermöglichung einer Adresse, der alle Par teien zustimmen könnten, gesorgt werden. Dies wird aber nicht zu verhindern im Stande fein, daß jede Partei mit einem ihre speziellen Wünsche enthaltenden Adreßentwurfe hervortreten wird, und da wird es sich denn zeigen müssen, für welchen Adreßentwurf sich eine Mehrheit findet. Ein ArmuthSzeugniß hat sich die eidge nössische Republik durch die jüngste Volksab stimmung ausgestellt: Das schweizer Volk kann sich noch nicht zu dem Gedanken aufschwingen, daß es Pflicht des Staates ist, für seine alten und arbeitsunfähig gewordenen Beamten nach langer und treuer Dienstzeit durch Ruhegehalte zu sorgen und sie in ihren alten Tagen vor Nahrungssorgen zu schützen. Die Schweizer er wiesen sich den überzeugendsten Gründen unzu gänglich. In der Volksabstimmung über das Bundesgesetz, betreffend die Ruhcgehalte der arbeitsunfähigen eidgenössischen Beamten, wurde das Gesetz aber mit der überwältigenden Mehr heit von 342,137 gegen 90,641 Stimmen abge- lehut. Das Endurtheil ist damit aber jedenfalls nicht gesprochen. Die Forderung wird nicht mehr von der Tagesordnung verschwinden, bis die gesunde Vernunft über die Vorurtheile, mit denen die Vorlagezu kämpfen hat, gesiegt haben wird. Der in Rom nach langem Todeskampfe er folgte Tod des Prinzen Jerome Napoleon hat zwar in Frankreich allerhand Erinnerungen an den „rothen Prinzen" aufgefrischt, wird aber im Uebrigen als ein Ereigniß untergeordneten Ranges betrachtet, ein Zeichen, daß cs mit dem Ansehen der bonapartistischen Partei immer mehr abwärts geht. Der Zwist zwischen Jerome und seinem ältesten Sohne, dem Prinzen Viktor, der mit Uebergehung des Vaters als Haupt der Partei ausgerufen worden war, ist dem Ansehen des Imperialismus nicht gerade förderlich gewesen. Auch angesichts des Todes hat eine Versöhnung offenbar nicht stattgefunden, und es wird ziemlich allgemein geglaubt, daß Prinz Viktor von seinem Vater enterbt worden ist. Trotzdem ist er vom Familienrath als Haupt der Familie anerkannt worden, und auch die bonapartistische Partei wird sich in ihrer bisherigen Haltung nicht beeinflussen lassen, mag das Testament deS Prinzen Jerome ausfallen wie es will. Alle vorliegenden Nachrichten halten daran fest, daß Prinz Jerome Napoleon vor seinem Tode seinen Frieden mit der Kirche gemacht habe. Die Nachrichten sind indeß sämmtlich auf die nächsten Angehörigen des Prinzen als gemeinsamen Ursprung zurückzuführen, und es wird schwer halten, wenn nicht unmöglich sein, den Schleier zu lüsten. Mit dem dieser Tage verstorbenen General Campenon hat Frankreich wieder einen jener Generale verloren, welche mit der Geschichte der letzten 30 Jahre eng verknüpft sind. Der Verstorbene hat dreimal das Kriegs ministerium verwaltet: in den Jahren 1881, 1883 und 1885, und hat in dieser Stellung nicht wenig zur Förderung des französischen Heerwesens beigetragen. Augenblicklich bilden die in Rew-OrleanS verübten Greurlthaten den Gegenstand diplomati scher Verhandlungen zwischen Italien und den 18AL. Der sächsische Erzähler. Seite S. Bereinigten Staaten, ohne daß voraussichtlich etwa« dabei berauSspringen wird. Zweifellos aber ist die daselbst verübte Lynchjustiz unerhört in der Geschichte einer gesitteten Stadtgemeinde und übertrifft Alles, was in Amerika, seitdem der WachauSschuß in San Francisco unmittelbar nach der Entdeckung der Goldfelder eingesetzt worden, überhaupt auf diesem Gebiete geleistet worden ist. Und dennoch wurde sie von nam haften Rechtsanwälten und Kaufleuten geleitet und von der Presse gebilligt. Wir haben die Vorgänge bereits ausführlich geschildert. ES sei deshalb nur Folgendes wiederholt: Die Ur sache deS blutigen Ereignisses liegt in der Existenz geheimer Gesellschaften von Italienern, wie die Mafia, die aus Rachsucht gegenseitig Meuchelmorde begingen. In kurzer Zeit waren 40 Morde vorgekommen. Als daher im vorigen Juni wiederum sechs Morde ruchbar wurden, beschloß die Stadtbrhörde die Ausrottung der Mafia. Polizei-Direktor Hennessy, der sich dabei auszeichnete, brachte fünf Sicilianer auf die Anklagebank, ward aber im vorigen Oktober mitsammt den Hauptzeugen selbst ermordet. Darauf organisirte der Bürgermeister eine Spezialpolizei, verhaftete eine Menge von Italienern, die der Mafia angehören sollten und stellte neunzehn davon unter Anklage. Neun wurden im vorigen Monat vor das Schwurgericht gebracht. Mittlerweile verbreitete sich das Gerücht, daß die Geschworenen von der Mafia bestochen seien, und als thatsächlich sechs sreigesprochen und betreffs der übrigen drei die Jury uneins erschien, erschien in alle» Zeitungen ein Aufruf zu einer Versammlung aller guten Bürger auf dem City Square, um einem Schiffbruch der Gerechtigkeit vorzubeugen. Tausende erschienen.. Drei hervorragende Advokaten, Parkerson, Wick- liffe und Deneor fachten die Entrüstung und den Blutdurst an, riefen: „Soll die Mafia unsere Bürger in den Straßen meucheln und die Geschworenen bestechen, daß die Mörder freigesprochen werden?" Darauf allgemeiner Ausbruch zum Gefängniß, an der Spitze 200 ausgediente Soldaten. Unterwegs hielt mau am Arsenal, wo Flinten und Pistolen herausgereicht wurden. Die Kerkerthür wurde mit der Axt eingcschlagen. Darauf wurden 50 mit der Ausführung deS Lynchurtheils beauftragt,, drangen ein und erschossen 6 Italiener, die in's Weiberzimmer geflüchtet waren. Um die blutdürstige Menge draußen zu be friedigen, wurden 2 Italiener lebendig hinaus geschleppt, einer an einem Baum aufgeknüpft und mit Kugeln durchlöchert, ein Anderer, an einer Laterne aufgehängt, fiel herab und wurde wieder aufgeknüpft. Der Polizeidirektor, welcher mit einem Dutzend Polizisten anlangte, wurde mit Fäusten bedroht und kehrte um. Schließlich hielt Parkerson am Kerkerfcnster an die Menge eine Schlußrede: „Die Gerechtigkeit ist geschehen, die Mörder Hennessy's sind todt, die Verant wortlichkeit dafür gebührt der bestochenen Jury- Das Volk verlangte den Tod, wir haben den Willen deS Volk's erfüllt. Jetzt geht nach Hause!" Darob jauchzte die Menge und trug. Parkerson auf de» Schultern im Triumphzuge herum. Die amerikanischen Zeitungen recht fertigen sämmtlich die schauerlichen Vorgänge mit dem Drucke der Nothwehr, unter dem die Bevölkerung von New-Orleans gehandelt habe. Da sich herausgestellt zu haben scheint, daß unter den vom'„Richter Lynch" umgebrachten Italienern nur amerikanische und keine italienischen Staatsbürger sich befinden, so dürsten die Ver handlungen zwischen Washington und Rom gegenstandslos geworden sein. Die Lyncher zu bestrafen, wäre angesichts der öffentlichen Meinung nicht blos in New-Orleans, kaum möglich, und auch die Frage wegen Entschädigung der Familien der Umgebrachten wäre schwer zu regeln, da die Lokalbehörden eine solche Forde rung zurückweisen und die Regierung in Washing ton kein Recht hätte, für einen solchen Zweck ohne Zustimmung beider Häuser des Kongresses auch nur einen Cent aus dem Staatsschatz zu verausgaben. Berlin, 22. März. Heute Nachmittag fand die Grundsteinlegung zur Kaiser Wilhelm-Be- dächtnißkirche im Westen von Berlin statt. Ihre Majestäten der Kaiser und die Kaiserin, der Großherzog und die Großherzogin von Baden, der Reichskanzler, die Minister, die Grafen von Moltke und von Blumenthal, die Generalität, die Geistlichkeit und die Behörden nahmen au der Frier theil. Abtheilungen von Gardetruppen mit Fahnen und Standarten waren -«m-, Feier befohlen. Die Festrede hielt Oberpfarrer Müllen (Charlottenburg). Derselbe dankte deru Kaiser