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233 XIV. Jahrgang. „ELEKTROTECHNISCHE RUNDSCHAU.“ No. 19. 1896/97. Ueber elektrische Eisenbahnen. Auf der letzten Wanderversammlung des Versandes deutscher Architekten- und Ingenieurvereine hielt Direktor Ko Ile von der Allgemeinen Elektrizitäts- Gesellschaft über diesen Gegenstand einen Vortrag, aus dem wir Nachstehendes mitteilen: Der geistreiche Vortrag gipfelte in Folgendem: Sieht man von den ältesten Ausführungen elektrischer Bahnen, welche den Jahren 1879 bis 1884 angehören, als den Vorläufern des jetzt bekanntesten ßahnsystems ab, so sind es kaum sechs Jahre her, daß in Deutschland bei den städtischen Bahnen — den Straßenbahnen — mit der Einführung des elektrischen Betriebes ein Anfang gemacht wurde. Die Neuerung wurde begreiflicherweise mit Vorsicht, ja nicht selten mit Zweifel und Mißtrauen aufgenommen, und wenn demungeachtet es in den wenigen Jahren möglich geworden ist, daß in Deutsch land jetzt über hundert Millionen Mark in elektrischen Bahnunter nehmungen aufgewendet worden sind, so ist das kein zu unterschätzender Beweis für den Wert der neuen Betriebsart. Die Zahl der im Betriebe befindlichen elektrischen Bahnen Europas ist im Jahre 1895 von 70 auf 111, ihre Gesamtlänge von 700 auf 902 km, die Leistungs fähigkeit der Zentralstationen von 18150 auf 25 095 Kilowatt, die Zahl der Motorwagen und Lokomotiven von 1236 auf 1747 gestiegen. Deutschland steht mit 406 km Linie an der Spitze, ihm folgt im weiten Abstande Frankreich mit 132 km, Großbritannien und Irland mit 107 km. Es ist im April 1896 folgende Tabelle veröffentlicht, in der sämtliche europäische Staaten bis auf Bulgarien, Dänemark und Griechenland, welche noch keine elektrischen Bahnen besitzen, vertreten sind und welche über die Verbreitung elektrischer Bahnen in Europa ultimo 1895 Aufschluß giebt. Gesamt länge in km Gesamt- Leistungs fähigkeit in Kilowatt Gesamtzahl der Motorwagen Deutschland .... 406,4 7194 857 Frankreich 132,0 4490 225 England 94,3 4243 143 Oesterreich-Ungarn 71,0 1949 157 Schweiz 47,0 1559 86 Italien 39,7 1890 84 Spanien 29,0 600 26 Belgien 25,0 1120 48 Irland 13,0 440 25 Rußland 10,0 540 32 Serbien 10,0 200 11 Schweden-Norwegen 7,5 225 15 Bosnien 5,6 75 6 Rumänien 5,5 140 15 Holland 3,2 320 14 Portugal 2,8 110 3 902,0 25095 1747 Von diesen Bahnen wenden 91 das oberirdische Stromzuführungssystem an, eine kleine Zahl hat unterirdische Stromzuführung, 8 Bahnen gebrauchen Akkumulatoren. Eine erhebliche Zahl elektrischer Bahnen, welche 1895 sich noch im Bau befanden, ist in der ersten Hälfte 1896 dem Betriebe übergeben. Ende des Jahres 1896 werden sich die Schlußzahlen der Tabelle verdoppelt, ein Jahr später vervierfacht haben, wenn es gestattet ist, aus den festen bei der All gemeinen Elektrizitäts-Gesellschaft in Berlin vorliegenden Aufträgen Folgerungen auf die allgemeine Lage des europäischen Marktes zu ziehen, bei der viele große Firmen in Frage kommen. Noch einige Jahre und es wird in Europa die erste Milliarde Mark in elektrischen Bahnunternehmungen arbeiten. Mit Genugthuung können wir es ansehen, daß bei diesem industriellen Aufschwung deutsche Fabrikate und deutsches Kapital in erster Linie beteiligt sind. Deutschland hat es dieses Mal verstanden, die führende Stellung einzu nehmen und das nordamerikanische Unternehmertum hat auf dem europäischen Markt nicht den festen Fuß fassen können, den es sonst nach seiner Rührigkeit und geschäftlichen Rücksichtslosigkeit sich leicht erobert. Daß unsere rheinisch westfälischen Hüttenwerke schon seit einem Jahrzehnt mit ihrem Oberbau für Straßenbahnen den Weltmarkt versorgen, ist der Gesamtstellung der deutschen elektrotechnischen Industrie für ihre ausländischen Bahngeschäfte nützlich gewesen. Wir finden in Südamerika und Ausstralien, in den süd-, nord- und osteuropäischen Ländern die Rillenschienen von Phönix, Hoerde, Bochum, die Straßenbahn-Oberbau-Systeme des Georg-Marien-Bergwerks und Hüttenvereins. Jetzt versorgen auch die deutschen Elektrizitätsfirmen und Elektrizitäts-Gesell schaften die neuen elektrischen Bahnen mit ihrer gesamten Ausrüstung von der Dampfmaschine an bis zum kleinsten Isolationskörper. Unsere deutschen Kessel-, Maschinen- und Waggonfabriken haben dadurch ein neues lohnendes Feld ihrer Thätigkeit gefunden. Seitdem wir in Deutschland das Telegraphengesetz haben, wodurch das früher geplante Gesetz über elektrische Anlagen, welches die elektrotechnische Indus irie ruiniert haben würde, als endgiltig aufgegeben gelten kann, ist ein friedliches Zusammenwirken der Starkstrom- und Schwachstrom-Interessenten gewährleistet. Die bei der Konzessionierung von elektrischen Bahnen nach Inkrafttreten des Telegraphen-Gesetzes von der jeweiligen Aufsichtsbehörde auf Anregung des Reichs-Postamtes jetzt gestellten Bedingungen lassen sich er füllen. Alleidings kommt es noch vor, daß einzelne Lokalbehörden fiskalischer sein wollen als der Fiskus, aber in solchen Fällen hat das Reichs-Postamt end giltig vermittelt. So außerordentlich schwierig es noch vor fünf Jahren war, den Anforderungen der Postverwaltung gerecht zu werden, weil thatsächlich Unmögliches verlangt wurde, so unvermeidlich es war, in Wort und Schrift gegen diese unerfüllbaren Forderungen anzukämpfen, ein geschäftlich so klares Ver hältnis ist zwischen Postverwaltung und Bahnunternehmung geschaffen, seitdem das Gesetz vom 6. April 1892 über das Telegraphenwesen im Deutschen Reiche die wechselseitigen Rechte und Verpflichtungen festgelegt hat. Wie die Stromrückleitung unter Benutzung der Schienen es notwendig gemacht hat, im Interesse des Fernsprechbetriebes Einrichtungen zu treffen, welche den schädlichen Einfluß der vagabundierenden Ströme aufhebt, so ist andererseits auch nach Beobachtungen, welche in Amerika gemacht und auf eine sorglose Ausführung der Schienenrückleitung zurückzuführen sind, in Betracht zu ziehen, daß die vagabundierenden Erdströme elektrolytische Schädigungen anderer metallischen Leitungen — Gas- und Wasserrohren — herbeiführen können. Diese elektrolytischen Einwirkungen können aber nur dann eintreten, wenn die metallische Rückleitung des Gleises unvollkommen ist, wie das bei den amerikanischen Beispielen thatsächlich der Fall war. Absolut Vollkommenes giebt es zwar überhaupt nicht, immerhin kann man aber nach den bei uns gemachten fünfjährigen Erfahrungen behaupten, daß elektrolytische Schädigungen nicht eingetreten sind, weil die angewendeten Gleisschienen einen großen Querschnitt haben, die Schienenstöße durch eingenietete Drähte gut metallisch leitend miteinander verbunden sind und es überall streng vermieden ist, die Rückleitung direkt an Gas- oder Wasserrohren anzusehließen. Diese Erfahrungen geben den Fingerzeig, wie man handeln soll, um elektrolytische Einwirkungen unschädlich zu machen. Weit schwieriger hat sich an einzelnen Orten das Verhältnis zwischen den elektrischen Bahnen mit Oberleitung und den wissenschaftlichen Instituten gestaltet. Hierbei spielt dis subjektive Empfinden mit. Was der eine Professor im Interesse seines wissenschaftlichen Instituts für ausreichend erachtet, genügt dem andern noch lange nicht. Bei dieser Sachlage wird es naturgemäß sein- schwer, elektrische Bahnen in Universitätsstädten auszuführen; denn es giebt keinen absoluten Schutz gegen die Einwirkung auf die empfindlichen Instrumente der physikalischen und physiologischen Institute. Es handelt sich nämlich um die Messungen mit Magneten und Galvanometern, und zwar weniger um die Messungen für Lehrzwecke, als um die wissenschaftlichen Arbeiten der Professoren In erster Linie werden die physikalischen Arbeiten, bei denen die Richtkraft und Stärke des Erdmagnetismus eine Rolle spielen, beeinträchtigt. Die Störungen, welche der elektrische Bahnbetrieb hervorrufen kann, bestehen der Hauptsache nach in der Einwirkung der vagabondierendeu Erdströme und der des sich stets erneuernden und stets verändernden Stromvierecks, gebildet aus Zentrale, Oberleitung, Vertikale durch den Motorwagen und Rückleitung. Eine magnetische Streuung der Wagenmotoren und der Magnetismus der Wagen achsen, wenn diese in der Nord-Südrichtung passieren, kommen weniger in Betracht: denn einmal lassen sich die Motoren so bauen, daß sie nicht streuen und zweitens lassen sich die Wagenachsen, wenn sie das Institut in der Nord, Südrichtung passieren sollten, leicht durch Umführung einer Stromleitung magnetisch neutralisieren. Maßgebend für die Größe der Störungen ist weniger die Entfernung der Betriebsstrecke von den wissenschaftlichen Instituten an sich, als vielmehr die relative Lage von Zentrale, Strecke und Institut. Die Nadel der feinen Meßinstrumente vergißt ihre Berufspflicht. Sie interessiert sich nicht mehr für die absoluten magnetischen Messungen bezüglich Bestimmung der Stromstärke des Erdmagnetismus, der Deklination und Inklination der absoluten Stromstärke, sondern sie kokettiert mit den passierenden Motorwagen und das ist nicht hübsch von ihr. Bei den ersten elektrischen Bahnen hat man diese Wirkung nicht vorausgesehen, auch wurden beispiels weise in Preußen vor dem Inkrafttreten des Kleinbahngesetzes, also vor Oktober 1892, die Straßenbahnen im Allgemeinen wie polizeilich zu kon zessionierende Gewerbebetriebe nach Art der Omnibusse und des öffentlichen Fuhrwerks behandelt. Vor Herrschaft des Kleinbahngesetzes sind die elektrischen Bahnen in Halle und Breslau, sowie auch die in Hannover in Betrieb gesetzt, das sind alles Orte, wo wissenschaftliche Institute der erwähnten Art bestehen. In Halle liegt die elektrische Bahn etwa 400 m, in Breslau nur 15 m von dem Ort der wissenschaftlichen Messungen entfernt In Halle ist eine Beeinflussung durch den Bahnbetrieb konstatiert, in Breslau sind Störungen bis zu 10 Bogen minuten beobachtet und in Hannover ist festgestellt, daß bei einer Entfernung der Motorwagen von über 300 m noch merkliche Störungen auftreten. Es drängt sich dabei die Frage auf: Wie groß sind denn die magnetischen Störungen, welche die Physik zulassen kann ? Wie leicht begreiflich, lehnen die Fachgelehrten die generelle Beantwortung dieser Frage ab. Der Präsident der physikalisch-technischen Reichsanstalt, Dr. Kohlrausch, erklärt, daß, wenn ein Laboratorum sich in einem magnetisch guten Zustande befinde, jede wahr nehmbare Störung als eine Verschlechterung der Verhältnisse empfunden werde und daß eine Störung von '/so Bogenminute bereits dahin zu rechnen sei. Nun darf man nicht vergessen, daß wir manche wissenschaftliche Institute besitzen, welche schon vor der Aera der elektrischen Bahnen ungeeignet für Untersuchungen waren. Wenn ein solches Institut in der geschlossenen Häuser reihe einer frequenten Straße liegt, so ist schon der Straßenverkehr an sich eine Störungsquelle, und wenn gar das Gebäude mit eisernen Trägern und eisernen Säulen überreich ausgestattet ist, die Meßinstrumente nicht auf be sonderen Fundamenten ruhen, so ist von zuverlässigen Messungen nicht die Rede. Solche Verhältnisse liegen in Breslau vor. Die beobachteten Störungen gaben in Preußen zu dem Erlaß des Herrn Ministers der geistlichen Angelegenheiten vom 21. Juli 1893 an die Universitäts- Kuratoren möchten sich in Wahrung der Universitätsinteressen durch Erhebung von Einspruch gegen die Herstellung von elektrischen Bahnen, von denen eine schädliche Einwirkung zu befürchten sei, angelegen sein lassen. Das ist denn auch geschehen. Zuerst war ein Fall in Königsberg auszutragen. Eine von der Stadt Königsberg geplante und alsbald auch ausgeführte elektrische Bahn liegt in etwa 125 in Entfernung vom wissenschaftlichen Institut. Da zwischen Universität und Stadt Meinungsverschiedenheiten entstanden, so wurde Herr Geheimer Regierungsrat Professor Dr. Slaby um ein Gutachten angegangen. Die von Herrn Slaby empfohlenen sehr einfachen und zweckdienlichen Ein*