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I. Ludwigs XIV. Gewaltherrschaft. 425 den äußeren Cultus mißachteten und in einer inneren Gebets- und Licbcsschwärmcrei ihre religiöse Befriedigung suchten, schienen dem verständigen Bischof Boffuet, dein König und seinem Beichtvater gefährlich für die Kirche und das bürgerliche Leben, daher sie bei der Hierarchie und dem Staatskirchenthum keine Gnade fanden. Nur Fenelon, Tenclon. Erzbischof von Cambrai, der als Lehrer der Enkel Ludwigs XIV., insbesondere des leidenschaftlichen, bösartigen, heftigen Herzogs von Bourgogne, die Tugend der Seelen ruhe, der Selbstbeherrschung und der christlichen Demuth hatte schätzen und üben lernen, konnte sich nicht entschließen, eine Gefühlsrcligion zu verdammen, in der er nur eine Seite des altkatholischen MysticiSmus erkannte, einen Gottesdienst dcS Herzens gegenüber dem äußeren Kirchenwcsen. In seinem Werk: „Auslegung der Maximen der Heiligen über das innere Leben" wird die reine und uneigennützige Liebe zu Gott, über welche der gläubige Mensch sich selbst vergesse und nicht einmal seiner künftigen Seligkeit gedenke, als der Inbegriff aller christlichen Vollkommenheit dargestellt. Boffuet und der größte Theil der französischen Geistlichkeit erklärten sich gegen das Buch ; der König, der ohnedies dem Lehrer seines Enkels nicht mit Unrecht einen ihm um dieselbe Zeit zugegangenen ano nymen Brief zuschricb, worin er zur Veränderung seiner Politik und Regicrungswcise ermahnt ward, bestrafte ihn mit seiner Ungnade, indem er ihn durch die Ernennung zum Bischof von Cambrai aus der Nähe des Hofes verbannte, und ihm jede Aussicht auf den erzbischöflichen Stuhl von Paris benahm. Der Papst wurde nach einigem 12, März Bedenken vermocht, 23 Sätze der Schrift als irrig und anstößig zu verdammen, Fenelon. der die auf Befehl des Königs rasch verbreitete Berurtheilung in dem Momente erhielt, als er die Kanzel seiner Kathedrale bestieg, verlas das Breve mit der ihm natürlichen Demuth und ermahnte seine Genieinde sich danach zu richten. Cr meinte, der Papst werde wohl nicht die reine Liebe zu Gott verdammt, Er aber dieselbe in einer Weise vorgctragen haben, die zu Zrrthümern hätte Veranlassung geben können. L. Die letzten Jahrzehnte des siebenzehnten Jahrhunderts. I. Ludwigs XIV. Gewaltherrschaft. Nach dem Nymwcger Frieden stand Ludwig XIV. auf der Höhe der Macht und Herrlichkeit. In Frankreich nannte inan ihn den Großen und stellte ihn über MEVi- Alezander und Cäsar. Schmeichelnde Geschichtschreiber, Dichter und Redner wett- eiferten in der Verherrlichung seines Ruhmes: durch seine Gnade und Gerechtig keit habe er in Frankreich und in ganz Europa den Frieden hcrgestellt, zu Lande und zur See habe er die Feinde seines Staats und seiner Macht besiegt, durch seine Weisheit habe er Ordnung in der Verwaltung, in den Finanzen und Ge setzen geschaffen, durch seine Freigebigkeit habe er die Wissenschaften und Künste zu ihrer Vollkommenheit gebracht. War es zu verwundern, daß seine Eigenliebe, seine Selbstsucht, seine Anmaßung alle Schranken nicderwarf, daß er dieselbe Gewaltherrschaft, durch die er die eigene Nation unter seine Füße geworfen, auch gegen das Ausland zu richten kein Bedenken trug? Die Artikel des Nymwcger Friedens waren von den europäischen Staaten angenommen worden, wie sie der französische König, der auf die Unterhandlungen selbst den persönlichsten Einfluß übte, vorgeschriebe» hatte. Sollte sein Machtspruch nicht auch vermögend sein,