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vAmersrss, 4. Juni 1914. Leipziger Tageblatt. Nr. 278. MoryeN'Nussave. Seite 7. SSWVNWN Kunst unc! wissensetiatt «NWKMW Neues von -er -iffensprache. Der amerikanische Erforscher der Affen sprache, Professor Garner, hat in dem Fran zosen Professor Louis Boutan, der in Bor deaux den Zoologischen Lehrstuhl innehat, einen Nachfolger gefunden. Aber während Garner die Sprache der afrikanischen Menschenaffen, deS Gorillas und des Schimpansen, unter sucht hat, beschäftigt sich Professor Boutan mit den Menschenaffen Asiens, und im besonderen hat er fünf Jahre hindurch einen Gibbon be obachtet, den er unter möglichst natürlichen Lebensbedingungen gehalten hat. Zum Unter schiede von dem Amerikaner hat der Franzose auch nicht von vornherein angenommen, daß die Affen eine Sprache haben, und das Er gebnis seiner Untersuchungen ist nun folgendes: Es Handelt sich bei den Lautäußerungen des beobachteten Gibbons nicht um eine eigent liche Sprache, sondern um eine „Pseudo sprache", das heißt, die einzelnen Lautkom plexe haben nicht eine unbedingt festznlegendc Bedeutung. Die „Nature" faßt kurz zusammen, ivas Professor Boutan über die Gibbonsprachc ermittelt hat. Sie ist in vier verschiedene Lautgruppen zu zerlegen. Befindet sich der Gibbon wohl und fühlt er sich zufrieden, so stößt er Laute aus, die etwa als „hok, Hook, Huk" festgehalten werden können; dies geschieht namentlich, wenn er Futter bekommt oder einen Menschen erblickt, den er kennt. Weiter gibt es einen Laut des Behagens, der besonders beim Essen auftritt: hok, hug, Hug, oder: Hag luag auaggak. Höchste Zufriedenheit wird durch die Laute „Kuiiiil" ausgedrückt, die scharf ausge stoßen und hintereinander wiederholt werden. Als Aeußerung des Kraftgefühls verzeichnet Pro fessor Boutan „hem—hem"; sie wird besonders gehört, wenn der Affe von Ast zu Ast springt. Höchste Wonne drücken die Laute „kuhi, hig, hiig" aus; das Tier lacht dabei und öffnet die Lippen weit; diese „Worte" werden „ge sprochen", wenn das Tier eine geliebte Person begrüßt. Befindet sich der Gibbon in schlechter Laune oder hat er Furcht vor irgend etwas (Gruppe II), so sagt er halblaut: hug, Huk, uk, Huk. Das geschieht z. B., wenn sich eine mißliebige Person nähert; er schlägt dann auch wohl die Zähne aufeinander. Wird er wütend, so lautet seine Aeußerung hok, kog—kug . . . hing. Als Lautäußerung der Gefahr verzeichnet Boutan: ook—okug, besonders erschreckenden Dingen gegenüber; außerdem gibt es noch einen in diese Gruppe gehörigen Laut: krüg— krüüüüg, der mit Zähnefletschen verbunden wird und dessen Bedeutung nicht ganz klar ist. Er tritt selten auf, vielleicht wenn das Tier sich krank fühlt oder sich langweilt. Als dritte Gruppe bezeichnet Boutan die Laute: thüiiwwg 'sanft klagend), ho o o u güug (furchtsam und lang), kügig ... uk, sowie: pröt, prüüt (mit Lippenzittern). Diese Laute bedeuten nachein ander: das Herbcirufcn einer befreundeten Per son, die Begrüßung eines geliebten Menschen, der lange weg war, Zufriedenheit mittleren Gra des über Spielen und eine spielerische Drohung, die übrigens nur beim jungen Affen vorkommt. In der vierten Gruppe endlich verzeichnet Professor Boutan das eigentliche Geheul des Gibbons; cs klingt rollend, der Unterkiefer zit tert dabei, und es hält gewöhnlich einige Mi nuten an. Vorher springt das Tier und ist lebhaft bewegt, und wenn dieser Ton ausgestoßen wird, ist es immer ein Zeichen großer Erregung. Hinzuzufügen ist noch, datz Boutan seinen Gibbon bekommen hat, als das Tier noch sehr jung war; was der Gelehrte also als Sprache dieses Affen ausgezeichnet hat, sind sicher seine Natur laute; "das Tier kann seine Sprache nicht etwa von seinen Eltern erlernt haben, denn diesen ist es sehr frühzeitig wcggenommen worden. III. Leipziger Bachfest 1S14. Mit dem Kan tate nabend (heute abend K/28 Uhr Tho- maskirche) beginnt das 3. große Leipziger Bachfest. Die 4 Kantaten, die heute zum Vortrage gebracht werden, sind von auserlesener Schönheit. Nicht nur der Bachlenner, auch jeder andere Hörer wird von ihrer Prägnanz, ihrem Melodienreichtum und wunderbarem künstlerischen Aufbau entzückt sein. An Stelle des plötzlich erkrankten Professors Messchaert hat Dr. Rosenthal das Baßsolo übernommen. Außerdem wirken noch als Solisten die Damen Anna Stronck-Kappell und Emmi Leisner, als Tenorist Kammersänger Dr. Römer mit. Die Or chesterpartie stellt das Kewandhausorchester mit seinen hervorragenden Jnstrumcntalsolisten, die Chorpartie der Bachverein zu Leipzig. — Soeben erschien als wertvolle Gabe zum beginnenden Bachfcst im Verlag von Breitkopf <L Härtel in Leip zig das neue Bach-Jahrbuch. Ferner sei auch auf das mit dem Porträt des Altmeisters Bach ge schmückte, inhaltsreiche Programmbuch zum Bachfest besonders hingewiesen. * Der neue „Don Juan" in Dresden. Wie wir von unserem Dresdner ö-Mitarbeiter erfahren, wird der neue „Don Juan" in der preisgekrönten Uobersetzung des Opernsängers Scheidemantel voraussichtlich am 20. Juni an der Dresdner Hofoper seine Uraufführung erleben. * Eine Bismarckanekdote von Emil Eött. Emil Kött, der zu früh verstorbene badische Dichter, erzählt in einem Bändchen „Kalendcrgeschichten", das jetzt von ihm erschienen ist, ein heiteres Erlebnis. Er kam auf einer Fußrcise durch Italien. Irgendwo geriet er in ein Gespräch mit einem Italiener. „Der Italiener fragte mich," so erzählt der Dichter, ohne zu hohe Anforderungen an meine höchst dürftigen Lprachkenntnisse zu stellen: „Leu clorwito?". „8i. 81, «lrrnor, Ircuto arario!" gebe ich zurück. nioute! uiente! 6K0 evwputriota?" fragte er weiter. „10 cl <; 8 <? o", sag' ich zurück. „^.ustriaeo 0 Lis ms, re ko?" fragt er. Oe st erreiche! oder Bismärcker?! Himmeldonnerwetter, geht da ein Schlag durch mich, heiß und schneidend und — süß! Und „Bis- marcko" ruf' ich mit vergehendem Atem, und es ist fast ein Jauchzen — und dann wurde es stille in mir, einen Augenblick nur, eine Stille der Entzückung, in der sich neue Stimmen des Jubels sammeln. Die ganze Geschichte unseres Vaterlandes lag einen Augenblick jäh erleuchtet vor mir, Deutschland, dies gärende Chaos aller nationalen Erbärmlichkeiten, aus dem sich langsam und schmerzhaft, in immer neuen Fehlblühungen und Verfaulungen ein Volk cmporschafft; sich emporquält von Not zu Not, von Kerl zu Kerl, von Schmied zu Schmied, der es zu glühen und zu hämmern und ihm ein Stück Unerz auszutreiben, und, soweit die Glut in der Ess« und das Armschmalz reicht, notdürftig eine Waffe aus ihm zu schmieden versteht; und ich sah und durch griff in einem Augenblick alle Not und alle Lust, die in unserem Volke sich wieder in dem einzigen Tone dieses entzückenden Wortes, halb Jauchzer, halb Seuhzer: Bismarcks! — Bismärcker! aus drückt . . . * Ein Werk Peter Vischers in Augsburg. In dem soeben erschienenen neuen Heft des Münchener Jahrbuchs für bildende Kunst (Verlag von Callwcyl führt Alexander Mayer den Nachweis, daß ein im rechten Seitenschiff von St. Moritz in Augsburg auf gestelltes Bronze-Epitaph, darstellend die Taufe Christi, ein Werk Peter Vischers d. Ae. ist. * Der Kaiser als Brunnenarchitekt. Aus Künstlerkreisen wird uns geschrieben: Man weiß, daß Kaiser Wilhelm es liebt, häufig selbst künst lerische Entwürfe für größere Aufgaben zu ver fertigen, nach deren Angaben dann bekannt« Künstler die eigentliche Ausarbeitung in den Einzelheiten übernehmen. Die geschickte zeichnerisch« Veranlagung des Monarchen, unterstützt von einem strengen und ernst gerichteten Geschmack, erlaubt es ihm, sich dabei auch an Aufgaben zu wagen, die im allgemeinen dem künstlerisch begabten Laien ver schlossen bleiben. Es ist gewiß noch in Erinnerung, daß der Kaiser seinerzeit die Architektur des Pavillons der Kaiscrin-Auguste-Viktoria-Quclle in Bad Homburg in einem hübschen Entwurf zeichnete, der dann auch unter dem lebhaften Interesse des Herrschers zur Ausführung gelangte. Dabei blieb aber die künstlerische Betätigung des Kaisers nicht stehen. Immer wieder drangen an die Oeffentlich- keit Nachrichten von neuen Entwürfen des Monarchen. So zeichnete der Kaiser beispielsweise Las Erinnerungsdiplom, das den Angehörigen der Hinterbliebenen einer größeren Marinekatastrophe überreicht werden sollte. Auw die Formgebung von Münzen und Medaillen, die Einzelheiten zahlreicher Denkmäler usw. sind zum Teil direkt unter dem be stimmenden Einfluß des Kaisers entstanden. Wieder kommt jetzt di« Nachricht, daß der Monarch seine Muße mit einem künstlerischen Entwurf für Bad Homburg ausgefüllt hat, das ja seiner Initiative un gemein viel verdankt. Die Kurverwaltung ließ sich die Ausgestaltung und künstlerische Ausschmückung des Elisabethbrunnens sehr am Herzen liegen, vornehmlich weil auch di« Kaiserin diesen Brunnen bei ihrer jährlichen Kur zu besuchen und zu gebrauchen pflegt. Um einen künstlerischen Brunnenentwurf zu erhalten, schrieb die Badever waltung «inen allgemeinen Wettbewerb aus. Als der Kaiser dies erfuhr, wurde in ihm sofort wieder die Lust zu künstlerischer Arbeit rege, als deren Produkt ein reizvoller Entwurf anzusehen ist, an dessen Ausarbeitung ein bekannter Berliner Künstler bereits die letzte Hand legt. Die kaiserliche Brunnenarchitektur stellt einen griechischen Altar dar, aus dem die heilkräftige Quelle heroorsprudelt. Die Quellnymphe breitet segnend darüber die Hände. Der Kaiserbrunnen wird in die Achse der Brunnenallee verlegt, um dort voll zur Geltung zu kommen. * Prioatdozent Paul Kahle an der Universität zu Halle und Bibliothekar der deutschen morgenländischen Gesellschaft erhielt einen Ruf nach Gießen als Ordinarius für semitische Sprache als Nachfolger von Professor Schwally. * Ehrung Zeppelins und Roseggers. Bei der Festsitzung der 18. Hauptversammlung des „Allge - meinen Deutschen Sprachvereins" in Hamburg wurde mitgeteilt, daß Graf Zep pelin und Peter Rosegger zu Ehrenmitgliedern ernannt worden sind. * Kleine Kunstchronik. Mit zweijähriger Ver spätung wurde in Turin der 100. Geburtstag de» Erfinders des Nitroglycerins, Ascanio Sobrero», feierlich begangen Nach einem Festakte wurde ein Denkmal des Erfinders auf der Piazza San Martino eingeweiht. Es besteht aus einer Gruppe von Felsen, auf deren Gipfel sich eine Büste Sobrero» erhebt, während am Fuße ein Titan, der die Felsen zerreißt, die Gewalt des Sprengstoffes versinnbildlicht. Das Denkmal ist ein Werk der Bildhauer Ceragiolß und Vrscarra. — Der Stadtrat von Mannheim hat nun doch seine Einwilligung zur Aufführung des „Parsifal" gegeben und dafür einen Kredit von 20 000 bewilligt, der jedoch durch die Mehr einnahmen dec Aufführungen wieder abgetragen wer den soll. Bekanntlich hatte der Stadtrat vor einiger Zeit die Genehmigung wegen der künstlerischen Miß erfolge des Theaters verweigert. — Direktor Georg Hartmann-Charlottenburg hat mit dem Direktor der Grand Opöra, Broussanel, der erst kürzlich in Berlin weilte, in mehreren Unterhandlungen einen Aus tausch deutsch-französischer Opernmitalieder erwogen. — Man ichceibt der ,.Fr. Z." aus Mailand: In der nächten Saison der Skala werden auch zwei neue Einakter von Mascagni aufgeführt werden, von denen der eine l)<l Comuciv", der andere „O'.vloöolettu" l„Das Lerchlein") betitelt ist. Weiter wird d'Annunzios „Phädra" von Jldebrando Pizetti da Parma in Musik gesetzt gegeben werden. Endlich wird die „Iosephslegende" von Richard Strauß ihre erste Aufführung erleben. — In Verbindung mit den Hochschulkursen für dramatische Kunst, die kürz lich zum erstenmal an der Universität Jena statt fanden, plant Prof. Dr. H. Dinger gemeinnützige künstlerische Aufführungen. Vom Bezirksaus schuß wurde ihm hierfür die Konzeision erteilt. — Die Bochumer Stadtverordneten bewilligten eine Million für den Neubau eines Theaters. — Dr. Johannes Mau rach, der Direktor des Essener Stadtthcaters, mit dem die Stadt verwaltung in Halle wegen Uebernahme der dortigen Direktion verhandelte, ist von der Be werbung zurückgetreten, da eine Einigung über einen wichtigen Vertragspunkt nicht erzielt werden konnte. — Der verdienstvolle Kapellmeister der Oper zu Frankfurt a. Main, Egon Pollack, ist eingeladen worden, im TlMtre des Champs ElysSes zu Paris mehrere Parsifal-Ausführungen zu dirigieren. Er wird voraussichtlich der Aufforderung Folge leisten. * Hochschulnachrichten. Der Bonner Dermatologe Geheimrat Prof. Josef Doutrelepontffeierte am 3. Juni seinen 80. Geburtstag. Geboren zu Malmedy, habili tierte sich Doutrelepont 1863 in Bonn für Chirurgie, wurde 1860 Extraordinarius, erhielt 1882 die Leitung der Universitätsklinik und Poliklinik für Hautkrank heiten, 1887 den Charakter als Geheimer Medizinal rat und 1894 die Ernennung zum ordentlichen Honorarprofessor. Seit Ostern 1910 ist Doutrelepont von der Verpflichtung zum Halten von Vorlesungen entbunden. — Als Nachfolger des in den Ruhestand tretenden Straßburger Professors Dehto wurde der ordentliche Prof, an der Universität BaselDr. Ernst Heidrich vom 1. Oktober d. I. ab zum ordent- lichcn Professor der Kunstgeschichte und zum Direktor des Instituts für Kunstgeschichte und alte christliche Archäologie an der Universität Straßburg i. E. er nannt. Prof. Heidrich sgeb. 1880 zu Rakel, Prov- Posen) war früher als Privatdozent an der Berliner Universität tätig. Ostern 1911 folgte er einem Rufe als außerordentlicher Professor nach Basel als Nach folger von Prof. Schubring und wurde hier März 1912 zum Ordinarius befördert. Sein besonderes Gebiet ist deutsche und niederländische Kunst. Vas Slück äer anderen. llj Roman von Fritz Stüber-Gunther. 1V14 dz- Orstklsüi <t Co. O. m. d. tl. I,oipris > Adam von Terramonte sah Schwester und Neffen mit nichts weniger als freundlichen Blicken an. Emma von Terramonte lächelte ver stohlen znm Herrn Revisor Gottsmann hinüber, der offenbar etwas auf den Lippen hatte, aber sich zum Schweigen zwang. Der Tondichter Stefan Ölhaut) fuhr mit gut gespieltem Ernste fort: „Man vergißt Goethe ungemein leicht, ich iveiß. Also um so was wie eine Liebesgeschichte handelt es sich ja fast in allen Dichtungen Goethes, insofern hat die gnädige Frau voll kommen recht. Nur spielt das Stück nicht im antiken Hellas, sondern in der Gegenwart — das heißt, Verzeihung, in der Gegenwart des längst verstorbenen Dichters —, lehnt sich aber allerdings an das Beispiel einer sagenreichen Vergangenheit an, nämlich der Zeil der Kreuz züge. Wie dainals der tapfere Graf von Gleichen aus dem heiligen Lande die reizende Türkin Melechsala seiner rechtmäßig angctrauten Gat tin heimbrachte, damit sie von dieser als gleich berechtigte zweite Gattin anerkannt werde, so haust Goethes Held Fernando, obzwar er be reits eine Frau und eine Heranwachsende Toch ter besitzt, mit der Baronin Stella in gleich zeitiger wilder Ehe." „Schrecklich!" lispelte die Regierungsrats- witwe. „Ja. Um so schrecklicher, weil das Unmora lische solcher Verhältnisse von keiner der betei ligten Personen ernstlich empfunden wird. Eine Oper also, die auf einem derartigen Stoffe auf gebaut war, wollte ich Tollkvpf dem Urteile meiner engsten Landsleute unterbreiten, der Bürger einer Stadt, die zwar ungezählte Brau- Häuser, aber noch ungezähltere Kirchen und Klöster hat, die gelegentlich das deutsche Rom genannt wird. Trotzdem war mein Unterfangen nicht so gänzlich sinnlos, fehlte ihm nicht zcde schlaue Berechnung. Der kompakten Mehrheit der Tugendhaften und Rechtgläubigen stand nämlich anch in meiner Vaterstadt eine immer hin beträchtliche Minderheit von Aufgeklärten, Freigeistigen in unentwegter scharfer Opposition gegenüber. Wurde nun, wozu alle Aussicht vor handen war, mein Bühnenwerk von jenen in den Bann getan und verfolgt, so zählte ich desto bestimmter auf seine zielbewußte Förderung durch diese. Dem Kampfgeschrei: „Nieder mit Stella!" mußte, so dachte ich, im Augenblicke die begeisterte Gcgcmosung: „Hoch Stella! Alle Mann zur Stella!" folgen. Ja, zu solchen un künstlerischen, verzweifelten Spekulationen kann Verlegern»! und AufsührungShungcr einen hoff nungsvollen jungen Komponisten verleiten. Traurig, aber wahr . . . Nun lebte in unserer guten Stadt ein Mann, der weder zur Mehr- heits- nach zur Minderheitspartei neigte, der sich sein ganz besonderes politisches und soziales Programm zurechtgcschustert hatte, mit dem er nicht nur die Frommen so oft und heftig wie möglich vor den Kopf stieß, sondern auch die Freisinnigen weidlich ärgerte, weil er ihren Libe ralismus noch zehnfach zu übertrumpfen suchte. Sciu außergewöhnlicher Reichtum, großenteils aus Häusern und Grundstücken bestehend, er laubte ihm diesen Spaß. Allerlei war bereits ins Werk gesetzt worden, ihm den Aufenthalt in unserer Stadt zu verleiden — aber se mehr er diese Bemühungen durchschaute, desto zäher klammerte er sich an seinen Sitz, wo ihn die Nachbarn haßten und er sie verachtungsvoll reizte. Hören Sie nun: Dieser dickschädlige Ein sam und Eigcnbrödler faßte, kaum daß er von meinem Unternehmen Näheres vernahm, den Plan, cs nach seinen Kräften und auf seine Art zu fördern! Noch niemals in der Weltgeschichte hat eine jedenfalls gute Msicht so restlos das Gegenteil erreicht wie diese. Damit ich mich kurz fasse: Zwei Tage vor der Erstausführung meiner Musiktragödie „Stella" waren sämtliche besseren, teureren Sitzplätze vergeben, alle auf einnial und alle an denselben Käufer. Mancher von den freisinnigen Honoratioren, der später zur Kasse kam, faud darin schon einen Grund oder mindestens einen Vorwand, wieder umzu kehren, ohne ein Billett erstanden zu haben, da cr sich doch unmöglich mit einem wohlfeilen Platze begnügen konnte. Am Premicr.nabendc war das Haus trotzdem uicht schlecht besucht. In den ersten Parkett- und Balkonrcihen aber saßen dicht geschlossen und fest entschlossen in Feiertagskleidern sämtliche Angestellte jenes ver femten anarchistischen Millionärs, vom Sekre tär und Gutsverwaltcr herab bis zum Haus meister und Gärtnergehilfen. Und in der Proszeninmsloge erschien, unmittelbar vor Be ginn der Ouvertüre, ganz allein er selbst, der Hartnäckige, Rücksichtslose, Angefeindete, und begrüßte mich, da ich in Frack und weißer Binde an das Dirigentenpult trat, mit wütendem Bei fallsklatschen, in das augenblicklich sein gesam tes Beamten- nnd Bedientenpcrsonal gnt ge. drillt einstimmte. Im übrigen Publikum dafür verblüffte, verstimmte Gesichter und spöttisches, eisiges Schweigen. Und nach Schluß der In troduktion wiederholte sich genau der gleiche Vorgang. Mir wurde ganz schwach und ich brachte kaum die Kraft auf, weiter zu diri gieren. Die komische Eingangsszene zwischen der Postmcisterin und ihrem ungeschickten Kellner jungen erregte bei niemandem Heiterkeit als bei dem Inhaber der Proszeninmsloge und denen der ersten Parkett- und Balkonrcit>en, bei diesen aber freilich um so heftigere und absichts vollere. Und auch Spannung und Rührung blie ben haarscharf auf denselben Wirkungskreis be schränkt. Schon nach dem ersten Fallen des Vor hanges aber wurde mir von zwei Lakaien in stadtbekannter, stadtverhaßter Livree ein riesen hafter Lorbeerkranz zum Dirigcntensitz gebracht, dessen hatbmeterbrcite, blutrote Schleifen in fuß hohen Goldbuchstaben die Aufschrift trugen: „Dem tapferen Sturmgesellen im Kampfe gegen Feigheit und Heuchelei" — und der, wie ich nachträglich erfuhr, den ganzen Tag lang im Schaufenster der vornehmsten Blumenhandlung ausgestellt gewesen war! Darauf verließ ein beträchtlicher Teil des Publikums geräuschvoll seine Plätze, um nicht wiederzukehren . . Ich hatte also schlecht spekuliert, meine Spekulation war kläglich fehlgeschlagcn. Und daß mir recht geschah, diese Erkenntnis konnte meinen Jam mer mcht sänstigen . . . Die zweite Aufführung der „Stella" war so schwach besucht, daß die Familie Blauensteiner fast alle Plätze des Hau ses nach Belieben abwechselnd benutzen konnte. Und an der dritten nahm nicht einmal sie mehr teil . . „Und die Kritiken der Blätter?" fragte der Ministerialkonzipist Dr. Alfred Dörfler, herzlich lachend. „Waren weit weniger zahlreich als die ver sendeten Referentcnkarten; rn den kleinsten Blät tern am längsten und lobendsten, in den größten kurz und höllisch wegwerfend, in den mittleren temperament- und farblos. Doch wahrhaftig, so eitel und lobgierig ich dazumal — schon da zumal — war, ich hatte jetzt schwerere Sorgen als um Zeitungskritikcn: Keinen Kreuzer bar, dafür aber Schulden, Schulden beim Gcldver- leiher, beim Theaterdircktor, beim Orchester, bei den Sängern, beim Drncker und Plakatierer, ja, beinc Schneider und Schuster, die mir ein würdig Festgewand geliehen hatten! Bis zum Hals ging mir das Wasser, nnd ich hatte nicht einmal einen Strohhalm, an den ich mich klam mern konnte, obwohl mir mit einem Strohhalm ebenso wenig gedient gewesen wäre, wie jemals einem anderen in Ertrinkungsgefahr. Da tat ich etwas, was ich weder vorher noch nachher in meinem Leben getan habe, etwas Unkluges, Feiges, Gemeines — ich kniff aus, empfahl mich bei Nacht nnd Nebel auf holländische Art, rannte, was mich meine Füße tragen konnten, und trug Sorge, meinen Aufenthaltsort zu verheim lichen . . ».Ist Ihnen denn gar nicht der Gedanke gekommen, sich an jenen reichen Mann, der Ihren Mißerfolg verschuldet hatte, um Hilfe zu wenden?" fragte die RegierungSratswitwe kopfschüttelnd. „Meiner Treu, gnädige Frau, auf diesen Gedanken bin ich nicht gekommen. Weder damals noch später, da ich genug -u hungern und zu kämpfen hatte, nm mich durch die Welt zu schlagen und meine Gläubiger allmählich zu be friedigen. Schwer ist's gegangen, aber gegangen rst's doch. . . Also drei Aufführungen hat meine „Stella" erlebt, nicht weniger, nicht mehr. Aber es waren immerhin mehr, als ihr gebührten." „Nein," sagte da plötzlich eine Stimme, die fest klingen sollte, die aber doch die Erregtheit zittern machte. „Nein, Herr Direktor. Die „Stella" hätte ein besseres Los verdient." (Fortsetzung in der Abendausgabe.) Iculilz i HerjHe rsöiosktive OuelleiN. flocht epfoigs-eicki del * z