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Sette 2. Nr. 272. Nvenü-Nusgabr. geben. Es fehlt immer noch Auskunft über das Schicksal von mindestens sechshundert Personen. London, 29. Mai. Aus Rimouski ist folgen der ausführlicher Bericht hier eingetroffen: Der „Empreß of Jreland" führte 77 Passagiere erster, 206 Passagiere zweiter und 504 Passagiere dritter Klasse mit sich. Das Schiff erhielt durch den Zusammenstoß mit dem Dampfer „Storstad" ein großes Leck und sank binnen zwanzig Minuten. Viele der Geretteten sind erheblich ver letzt: 22 von ihnen starben nach der Bergung. Der Zusammenstoß erfolgte 2 Uhr nachts auf der Höhe von Fatherpoint. Der Dampfer „Storstad" befand sich auf dem Wege nachQuebec. Er traf den Einpreß of Jreland" etwa mittschiffs in schräger Richtung und riß den Schiffsrumps säst bis zum Maschinenraume auf. Das Schiff sank, bevor viele Passagiere des Un glücks gewahr wurden. Die funkentelcgraphischen Hilferufe wurden von dem Lotsenboot „Heureka", das zehn Meilen davon entfernt lag, und von dem Dampfer „LadyEvelyn" aufgesangcn. Die beiden Schiffe fanden die wenigen Rettungsboote, die von der „Empreß" losgcmacht worden waren, und bargen die Insassen. Die „Lady Evelyn" nahm 339, die „Heureka" 60 Schiffbrüchige auf. Die meisten Passagiere erster Klasse scheinen umgekom men zu sein, darunter Sir Henry Seeton und der Schauspieler Irving nebst Gattin. Das Unglück geschah so schnell, daß die Passagiere sich nur in Nachtgewändern retten konnten. Alles Gepäck ist verloren, und die Ueberlebenden befinden sich in einem kläglichen Zustande. Alle haben große Leiden ausgestanden. Die Schiffstrümmer treiben auf dem Lorenzstrom auf viele hundert Meter weit umher. Die Zahl der Opfer noch unbestimmt. London, 29. Mai. Der Dampfer „Storstad", dessen Bug stark beschädigt wurde, vermochte sich durch Schließung der Schotten über Wasser zu halten. Er ist in Begleitung der „Lady Evelyn" auf dem A^ge nach Quebec, wo er morgen früh er wartet wird. Die „Storstad" soll 360 Schiffbrüchige an Bord haben. Demnach sind nicht tausend, sondern nur siebenhundert Personen um gekommen. Den letzten Nachrichten zufolge scheinen von den Passagieren erster Klasse drei ge rettet worden zu sein. — Eine spätere Meldung be sagt: Die über die Katastrophe der „Empreß of Jre- land" vorliegenden Nachrichten lassen den Umfang des Verlustes an Menschenleben noch nicht erkennen. Die Zahl der Mannschaft und Passagiere wird ver schiede», zwischen 1772 und 1191, angegeben. Der I iesige Vertreter der Eanadian Pacific Railway, der das Schiff gehört, bezweifelt die Richtigkeit der höheren Angaben. Das Schiff wurde im Jahre 1996 in Glasgow gebaut und war mit allen modernen Einrichtungen versehen. Quebec, 30. Mai. lNcuterbureau.s Gestern abend um 7", Uhr sind 396 Uebeelkbende der „Empreß of Jreland" hier angekommon. Darunter befinden sich je 29 Passagiere der e r st e n und zweiten Klasse. 101 Passagiere der dritten Klasse und 237 Angehörige der Mannschaft l!). Nur 12 grauen sind gerettet worden. Entgleisung eines Zuges mit Geretteten. London, 29. Mai. Spät abends wird aus Ri mouski gemeldet, die „Storstad" habe nur wenige Schiffbrüchige an Bord, darunter viele Verstümmelte und Sterbende. Ein Extra- z u g wurde hierher bestellt, um die Ueberleben- den w e i t e r z u b e f ö r d e r n. Viele mußten in die Wagen getragen rverden. Der Zug hatte kaum den Qrt verlassen, als er entgleiste. Glücklicher weise scheint niemand verletzt worden zu sein. Leipziger Tageblatt. Sonnavenü, 30. Mal lSl4. Es wurde alsbald ein Ersatzzug beschafft. Die „Lady Evelyn" ist nachmittags zur Unglücksstelle zurück gekehrt und hat dort siebzehn Leichen geborgen. Kapitän Kandell im Sterben. RiINousri, ro. Rai. (Reuterbureau.j E» »ird gemeldet, daß der Kapitän Kandell »o« der „Empreß of Jreland", infolge seines halbstündigen Aufenthalts im Wasser nach dem Untergang seines Schiffes, im Sterben liegt. Bericht des Vertreter» der Canadian Pacisic-Sesellschaft. London, 30. Mai. Die „Times" und die „Daily Mail" veröffentlichen «inen BerichtdesAgenten der Canadian Pacific Railway Com pany aus Fatherpoint von gestern mittag. Danach hatte die „Empreß of Jreland" Father point u m 1.30 Uhrnachts passiert und ihren Lotsen abgesetzt. Um 1.50 Uhr wurde der Agent durch ein funlentelegraphisches Notsignal geweckt. Um 3 Uhr früh traf die „Heurela" mit 32 Geretteten und ein paar Leichen in Fatherpoint ein. Um 4 Uhr legte die „Lady Evelyn" mit weiteren Erretteten an Bord an der Westwerft von Rimouski an. U m 6.10 Uhr fuhr die „Storsta d" langsam vorbei. Die wenigen Geretteten, die sie an Bord hatte, wurden von der „Heureka" und der „Lady Evelyn" ausgenommen und in Rimouski an Land gesetzt. Berichte über die Geretteten. London, 30. Ntai. Die aus Montreal im Laufe der Nacht eingetroffenen Nachrichten bestätigen leider die Katastrophe der „Empreß of Jreland" im ganzen Umfange. Insgesamt sind bisher 410 Perso nen an Land gebracht worden, von denen 20 kurz nach ihrer Einlieferung ins Krankenhaus starben. Die übrigen Geretteten befinden sich im Zustande höchster Erregung. Es ist zu be fürchten, daß die immer noch vermißten tausend Per sonen. wie schon gemeldet, ihren Tod in den Wellen gefunden Haden. Die Passagiere, denen es gelang, die Rettungsboote zu besteigen, konnten nur das nackte Leden rotten. Viele erlitten beim Herabspringen Arm. und Beinbrüche. Be rücksichtigt man die herrschende Finsternis, so gilt die Rettung der Personen, von denen man bisher hörte, als wunderbar. Die beiden Beamten, welche den Apparat für drahtlose Telegraphie bedienten, sind ebenfalls gerettet worden. Herzzerreißende Szenen spielten sich an der Landungsstelle ab. Die Geretteten wurden mit Fragen nach den übrigen Passagieren bestürmt, konnten jedoch irgendwelche Angaben vor Aufregung nicht machen. Es hat den Anschein, als ob nach dem Zusammenstoß an Bord der „Empreß of Jreland" eine surchtbarePanik herrschte. Das Wasser drang in den Maschinen- raum und verursachte dort mehrere Explosio- nen. Birke der dadurch erschreckten Passagiere sprangen ins Wasser und ertranken. Eine Frau, die nur mit einem Trikot bekleidet war, hielt sich eine halbe Stunde über Wasser, bis sie von der „Heureka" gerettet wurde. Bevor ihre Identität festgestellt werden konnte, starb sie jedoch Ein junger Engländer berichtete, daß er im Augen- blick des Zusammenstoßes am Bug der „Empreß of Jreland" gestanden habe, und daß cs ihm gelungen sei, durch einen kühnen Sprung sich auf das Kohlen schiff zu retten. Die Versicherungssumme für die „Empreß of Jreland". London, 30. Mai. Die Schiffsoersichcrungcn sind durch den Untergang der „Emprcst of Jreland" schwer betroffen worden. Das Schiff war mit 8 Mill. Mark versichert. Die Versicherungen sind mit englischen Firmen abgeschlossen worden. Der Verlust der Ladung wird ihnen weitere drct Mill. Mark kosten. Als die erste Nachricht von dem Unglücksfall eintraf, wurden Rückversicherungen von 4 bis 30 Prozent abgeschlossen. Vie wirren in Manien. Die Lage in Durazzo scl-eint neuerdings wieder ernster geworden zu sein, denn Turkhan Pascha hat den italienischen Minister deS Aeußern dringend um Entsendung von öOO Mann des europäischen Kontingents aus Sku- tari nach Durazzo gebeten. Auch die Verhand lungen mit den Aufständischen in Tirana sollen keine Verständigung gebracht haben. Die Auf ständischen sollen vielmehr nach wie vor auf die Entfernung des Fürsten bestehen. Folgende Drahtmeldungen liegen vor: Nm Entsendung internationaler Streitkräfte ersucht. Rom, 30. Mai. Wie die „Agencia Stefani" meldet, hat Turkhan Pascha an Minister di San Giuliano ein Telegramm ge richtet, in dem er dringend um die Entsen dung von fünfhundert Mann der euro päischen Kontingente aus Skutari nach Du razzo ersucht, die Sicherheit in der Haupt stadt verbürgen zu können. Der Mnister des Aeuszern di San Giuliano erwiderte, daß er die bei den europäischen Kabinetten unternommenen Schritte erneuert habe, um deren Einwilligung zur Entsendung internationaler Streitkräfte nach Durazzo zu erlangen. Die Verhandlungen mit den Aufständischen erfolglos. Nach Berliner Blättermcldungcn hatte die Kontrollkommission in Tirana eine mehrstün dige Unterredung mit den Aufständischen, deren Ergebnis zwar noch geheimgehaltcn wird, die aber sicherem Verlauten nach die erhoffte Ver ständigung nicht gebracht hat. Die Auf ständischen bestehen auf die Ent fernung des Fürsten. In Durazzo herrscht Ruhe, doch sind die V e r te i d i g u n g s m aß- nah m e n verstärkt worden, da starke Grup pen von Aufständigen sich bei Tirana und Scknak augcsammelt haben und unter ihnen starke Er regung herrscht. Essad Pascha bei San Giuliano. Wie sich die „D. T." aus Rom melden läßt, wurde Essad Pascha am Freitag von dem Ministerpräsidenten Sau Giuliano empfangen, der auch Ismail Kemal Bei, den einstigen gleich falls durch das jungtürtische Komplott kompro mittierten Ehef der provisorischen Regierung Al baniens, empfangen hatte. Beide Unter redungen San Giulianos bezeugen lediglich Italiens Absicht, mit jeder albanischen Größe gutzustchen. Die neue Zusammensetzung des Kabinetts. Durazzo, 29. Mai. Das Kabinett ist folgendermaßen gebildet worden: Prä sidium Turkhan, AeußercS Trenk Bibdoda, Justiz Mufid, Unterricht Turluli, Fi nanzen Nvgga, Ackerbau Abdi Bei Top- tani, Inneres Akif Pascha und öffent liche Arbeiten, Post und Telegraphen Midhat Bei Iraschari. politische Ueberlicht Kongreß für gewerblichen Rechtsschutz. 8. <L 14. Augsburg, 29. Mai. In der dritten Arbeitssrtzunq der diesjährigen Tagung des Deutschen Vereins für den Schutz des gewerblichen Eigentums referierte zunächst der Di rektor der Auergcsellschaft Rechtsanwalt Mein hardt-Berlin über die Wirkung der Pa tenterteilung in: Verlctzungsstrcit und über die Präklusivfrist für Nichtigkeitsklagen. Er billigte die Praxis des Reichsgerichts über die Patcntauslegung, betont aber, daß durch die Existenz zu Unrecht erteilter Patente diese Praxis im Inter esse der Gerechtigkeit oft durchbrochen wird. Dadurch entstehe eine Rechtsunsicherheit, über welche die In dustrie sich mit Recht erschwere. Ihr könne nur ab geholfen werden durch Beseitigung der Präklusiv frist, so daß jederzeit die Industrie von zu Unrecht er- teilten Patenten befreit werde. — Der Korreferent Justizrat Dr. Seligsohn-Berlin führte aus, daß der gegenwärtige Rechtszustand nicht aufrecht- erhalten werden könne. Die Feststellungen des Patentamtes müßten bindend sein und die Gerichte dürsten nicht einen neuen Stand der Technik formu lieren können. Der Richter sei wohl berechtigt, den Patentanspruch auszulcgen, aber nur nach allgemeinen Grundsätzen. Er dürfe die Patcntauslegungen nur interpretieren, aber nicht, wie dies jetzt häufig ge schieht, ignorieren. — In der Debatte erklärte Kom merzienrat G u ggc nhei mer-Augsburg, daß wir heute nicht «in Patentamt haben, sondern so viele Patentämter, wie wir Landgerichte besitzen. Diesem Zustande der Rechtsunsicherheit müsse ein Ende ge macht werden. Die Versammlung nahm hierzu eine längere Rcsolution an, in der der Pflichten- und Rechtekreis des Patentamte« und des Verletzungs richters genau abgegrenzt wird. Rechtsanwalt Dr. Wirth-Frankfurt a. M. sprach über die Formulierung der An meldungen, Beschreibung und Patent anspruch und vertrat dir Kommifsionsbeichlüsse, die im wesentlichen der neuen Praxis des Patent amtes entsprächen. Diesem sei auch zu überlassen, wie weit sich die Forderungen verwirklichen ließen. — Bei der Abstimmung wurden die Kommissionsvor schläge angenommen mit folgender neuer Fassung des ersten Absotzes: „Eine Erfindung gilt nicht als neu, wenn sie zur Zeit der auf Grund dieses Ge setzes bewirkten Anmeldung in öffentlichen Druck schriften aus den letzten Hunden Jahren so deutlich beschrieben oder durch im Jnlo.ndc erfolgte Be nutzung. Beschreibung oder zeichnerische Darstellung oder öffentliche Schaustellung derart bekannt geworden ist, daß danach die Benutzung jedem Fach mann ohne weiteres möglich war." In der letzten Arbeitssitzung wurde das Warenzeichenrecht erörtert. Der erste Refe rent Professor Klöppel- Leverkusen bezeichnete als Hauptfragen, die bei der Reform des Warenzeichen rechts in Betracht kommen, einerseits das Auf gebotsverfahren, anderseits den Schutz der nicht eingetragenen Marke. — Der Korreferent Justizrat Magnus-Berlin besprach dir Bedenken, die von feiten der beteiligten Industrie gegen das Auf gebotsverfahren geltend gemacht werden. Sie gipfeln vor ollem darin, daß man eine übermäßige Belastung der Industrie und namentlich der kleineren Betriebe aus dem Aufgebot befürchtet. Die Dcrsammluna nahm hierzu «ine Resolution an, in der es heißt: „Der Kongreß stimmt dem in dem Entwurf vorgeschlagenen Satze des offiziellen Prüfungsnerfabrens durch das Aufgebotsverfahren zu, jedoch soll daneben eine Prüfung durch das Patentamt nebst Mitteilung der etwa ermittelten Gegenzeichen an den Anmelder und den Gegen- zeicheninhaber erfolgen." Nach Erledigung der Tagesordnung wurde der Kongreß in der üblichen Weise vom Vorsitzenden geschlossen. Was -er Ma-ri-er Kongreß -es Welt postvereins verhan-eln wir-. Nach Zcitungsmeldungen der letzten Tage soll die Frage des Einherts-Weltportos, die auf den: bevorstehenden Kongreß des Weltpostvereins in Madrid zur Verhandlung kommen wird, durch die zustimmende Haltung der englischen Regie rung ihrer Lösung erheblich näher gerückt sein. Neben dieser, allerdings stark im Vordergründe stehenden Frage, hat der Kongreß noch ein außerordentlich reichhaltiges Programm zu er ledigen, aus dem hier die wichtigsten Punkte hcrvorgchobcn seien: Festsetzung eines Einheits- Zuschlagsportos für nicht öder nicht genügend frankierte Briefscndungcn auf den Satz von 5 Centimes; Aufhebung des Art. 5 des'Welt postvereinsvertragcs, demzufolge Sendungen mit Warenproben keinen Handelswert enthalten dür> feu. Die Gewichtsgrenze solcher Proben soll auf .'XX) Gramm erhöht werden: Einführung von Postpaketen mit einem Höchstgewicht bis 1 Kilo, beschleunigte Beförderung solcher Pakete gegen Entrichtung einer besonderen Gebühr: Ein führung von Brieftelegrammen im Weltpostver- cinsvcrkchr; Zulassung von Paketen mit Wert angabe in allen am Postpaketvertrag beteilig ten Verwaltungen; Zulassung von Nachnahme sendungen nach allen Ländern des Weltpostver eins; Einführung eines internationalen Post- Ueberweisungs- und Scheckverkehrs; endlich die Vereinfachung und Vereinheitlichung der Vor schriften für den internationalen Pakctvcrkehr. Vas glück ffrr anderen. üs Roman von Fritz Stüber-Eunther. 1!N4 kx UrottUsin L t.'o. tj. m. b. u. „Wir haben, Sic wisseu's ja", sprach Haus Rock ein wenig ruhiger, „nicht nur so aufs Ge ratewohl und ins Blaue hinein geheiratet, meine Frau und ich. Wir haben, so ungeduldig uns auch unsere Liebe machte, gewartet, bis wir uns, was wir zur Gründung eines soliden Haus standes brauchten, Kreuzer für Kreuzer zurück gelegt hatten — Martha in ihrem Beruf als Lehrerin, den sie ja nicht länger als bis zur Ehe beibehalten durfte, ich von meinem Gehalte. Einschränkungen, Entbehrungen, Schulden er kälten die Liebe nur allzubald, und wir wollten die uusrige vor Vereisung schützen. Und unser Zusammenleben vor Versumpfung, Verödung. Ein paar Gulden im Monate wollten wir für höhere als rein leibliche Bedürfnisse reservieren, gute Bischer wollten wir lesen, hie und da wenig stens ein Theater, ein Konzert, eine Knnstans- stellung besuchen . . . Nach zwei Jahren hat sich das Bürschlein, der Haus, als Dritter zu unserem Bunde gesellt, und den lieben kleinen Kerl gab' ich nicht mehr her nm alle Millionen der Welt, geschweige denn für das bißchen Ver gnügen, ans das ich nm seinetwillen verzichten muß . . . Aber wenn ich mir mein Heim als eine Kinderbcwahranstalt vorstcllc, in der man leinen ruhigen Winkel mehr hat zum Lesen und Denken und Träumen, meine Martha von unauf hörlichen kleinlichen Sorgen gequält und er drückt — da schüttelt'S mich, da wird mir angst und bange!" Er fuhr sich neuerlich aufgeregt durch das dichte blondrotc Haar. Sie hatten das Zentrum der Stadt durcü- auert und kamen über den Ringgürtel in die Vorstadt, wo der Revisor Anton GottSmann, in der auch Haus Rock wohnte. „Ich suche Sie zu verstehen und glaube Sic auch zu verstehen — lieoer Freund!'" sagte GottSmann, und cs war das erstemal, daß er seinen Weggenossen also nannte. „Aber Sie sehen heute wohl zu schwarz. Ihr Haushalt wird sich gewiß den geänderten Verhältnissen anpasscn lassen. Und Ihre amtliche Beförderung wird ja auch nicht mehr allzu lange auf sich warten lassen." „Das wird sic, Herr Revisor, das wird sic, Sic wissen es selbst gut genug. Und wenn dieser schäbige Glücksfall endlich eintritt, dann sind seine armseligen Vorteile längst im voraus wett gemacht, ja, durch die erhöhten Lebensbedürfnisse überholt . . . Sic dürfen mich nicht für so roh und selbstsüchtig halten, Herr Revisor, wie cs heute den Anschein haben mag —" „Das tu' ich gewiß nicht", unterbrach ihn GottSmann ernst. „Ich kenne Ihren Charakter längst, ich beurteile ihn nicht nach gelegentlichen bitteren Worten, zu denen Sic Kummer und Un mut hinreißcn." „Ich danke Ihnen. Ja, wahrlich, ich sorge mich nicht allein nm mein Behagen und das meiner Frau, ich denke vor allem voll banger Zweifel an die Zukunft meines Kindes — — meiner Kinder. Die sollcn's natürlich einst un bedingt um ein Stück besser haben im Leben als wir, ihre Eltern. Aber was ich für meinen Hans schon heimlich vorbereitete, was ihm seine Bahn ebnen nnd erleichtern sollte, das wird nun wieder zerbrochen, zerteilt, zunichte gemacht. Denn langt's gerade noch zur Not für eine» — für zweie ist's unter allen Umständen zn wenig." Er brach mit einem tiefen Atemzuge ab: „Verzeihen Sic mir, bitte, Herr Revisor, mein Geächz und Geraunze. Aber cS war mir ein Bedürfnis, jemandem mein Herz anszuschüt- ten. Und ich fühle, dadurch ist es tatsächlich schon ein ivenig leichter geworden." „Das freut mich aufrichtig, das ist recht", sagte Anton GottSmann. „Also Kopf hoch! Pessimismus kann stets nur angenehm enttäuscht rverden. Und was geschehen soll, geschehen muß, geschieht ja doch immer, wir armen Marionetten in der Ricscnhand des unbekannten Puppen spielers vermögen cs mit allem Strampeln und Zappeln nicht zu ändern. Nun bin ich zu Haus. Fran Martha grüßen Sie mir aufs beste . . ." Durch einen engen Torspalt und einen düste ren, schmalen, selbst an den hellsten Mittagen durch eine Gasflamme notdürftig erhellten Bogcncrngang, über ein dumpf hallendes Ziegel pflaster, an einem geheimnisvollen Maucrwinkel vorüber, in hem hinter morschem Lattcngitter eine überlebensgroße Ärcuzigungsgruppe, Chri stus, Maria nnd Johannes, langsam verwitterte, kam Anton GottSmann in einen von blendender Vorfrühlingssonnc überstrahlten, fast genau qua dratischen, offenen, weiten Hof. Seine Mitte nahm ein von banmwipfelüberragten Planten umgrenztes- kleineres Viereck ein, seine Kanten bildeten vier gleichförmig zweistöckige Wohntraktc mit altmodisch niedrigen Fenstern und breiten Fensterpfcilern, hohen, steilen, wuchtigen, zahl lose Schornsteine zum Himmel sendenden Dächern und vielen ancinandcrgercihten besonderen Tor eingängen. An eine Kaserne konnte man sich wohl erinnert fühlen — aber selbst für eine alte Kaserne war hier zu wenig mit dem freien Platze gespart, war alles zu ausgedehnt und ranmverschwendcrisch luftig. Und für ein Kloster gebäude, auf das der Gedanke fiel, herrschte zu reges, und mannigfaltiges Treiben in dem Hose. Dem Haupt- und Marktplatze eines bevölkerten, aber weltabgeschnittcncn Provinzstädtcl>ens glich er noch am ehesten: Mit seinen unübersehbaren größeren und kleineren, eckigen und runden, buntfartigen und einfach schwarzweißen, ver waschenen und frischübermalten Geschäftsschildern über Türen und Fenstern, von Schreinern und Klempnern, Schustern und Schneidern, Büchsen- machern und Brillenerzeugern, KederkräuSlern, Barbierer» und Pnoelscherern, Händlern mit Lebensmitteln und Spillwaren und Handwerks zeug; mit den zahlreichen, ihn eilig oder bedächtig nach jeder Richtung durchquerenden Passanten — denn an seinen Ecken führten Stollen, wie der Herr Revisor Anton Gottsmann einen durch schritten hatte, in andere, ähnliche Höfe und von da erst ins donnernde Wagcngewimmcl der Großstadt; mit den Gruppen und Häuflein spie lender, tanzender, singender, einander haschender Kinder, die der weiße Februarschnee und die goldene Febrnarsonne gleichermaßen lockten und die hier im Freien sein durften und doch sozu sagen unter den Augen der in ihren Stuben sich fleißig mühenden Eltern waren, vom wirklichen Wcltlcben umspült und doch geschützt vor der mörderischen Rücksichtslosigkeit des modernen Großstadtverkehrs, der schnellen Pferde und schnelleren Fahrmaschinen. Sic warfen einander, Buben und Mädchen, Schulkameraden und leibliche Geschwister, mit Schneeballen und bauten Häuser und Festungen nnd Tunnels aus dem werchnassen Schnee, dem draußen, jenseits der langen grauen Hoffrontcn, längst der Garaus gemacht, hier innen aber noch ein etwas längeres Dasein vergönnt war, und hatten rote Backen, rote Nasen und rote Fäust chen und freuten sich, unbekümmert um alle Zu kunft, aus vollem Herzen der schönen Gegenwart. Unwillkürlich blieb der Herr Revisor, Ivie sehr ihn auch nach seinem späten Mittagmahlc hungerte, bei einer der Gruppen stehen und sah ein Weilchen ihrem sinnvoll-sinnlos geschäftigen Treiben zu. Mehr als zwei Jahrzehnte schon wohnte er in diesem altertümlicl)en Ricscngehöftc, nach dessen endloser Zerstückelung der nivellic- rungssüchlige, spekulationstüchtige Fortschritt bisher vergeblich lüstern war, hundert mal hatte er das gleiche Gezappel junger Menschenkinder gesehen, denen zwar der Sommer keine Erholungsreise und keinen Landaufent halt bescherte, die sich dafür aber auch von keinem Wind und Wetter ängstlich in ihre Stuben ban- nen ließen — die heranwuchsen, wechselten, ein ander ablösten, aber doch immer dieselben schie nen; jedoch fast noch nie hatte er tiefsinnige Be trachtungen darüber angcstellt, es war ihm ja alles so gewohnt, so vertraut, als könnte es gar nicht anders sein. (Fortsetzung in der Sonntagrausgabe.) Sltt * Di, der K r Stratzbu Baden 5 Uhr h halte, * D ! achtmon Winters »en letz !- -aftvx! 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