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vrezäner NschMiei, ein 8onnlag. N>. Ott. 1427 Erinnrriinz. ^ von Han» Franck. »In der Sankt-Michael». Kapelle der Kathedrale «« Canterhurn liegt aus einem kunstvoll geschmiedeten Bctvult ein dicke» Buch au» Pergament, in dem dt« Namen der SS21 Angehörigen de» Kent-Regimente» ausgezeichnet stehen, die ln? Weltkriege gesallrn sind. Da» Buch beginnt mit den ein. sacken Soldaten, deren Namen so viel aus den einzelnen Gelten vereinigt wurden, al» bet künstlerischer Anordnung Dtnausgtngen. und schließt mit zwei Generalen, von denen teder einer gesonderte Sette zugewtesen erhielt. Morgen sür Morgen betritt ein Soldat de» Kent-Regimente» die Kapelle und. nachdem er aus der Schwelle vor dem Buch salutiert hat, wendet er da» ausgeschlagene Blatt um. Der Grund zu dieser militärischen Handlung ist solgender: Der Künstler, welcher da» kostbare Schriftwerk in virlmonaiiger Arbeit verserttgtr. bat darum, daß täglich eine Seite de» geössnetcn Buche» umgeivcndet werden möge, damit da» lichtempsind- same Pergament eine gleichmäßige Tönung behalte. Diese im Interesse der Schönheit notwendige Prozedur gab nun dem Kommandeur des Kent-Regimente» Anlaß, au» ihr einen regelmäßigen Ehrendienst zu gestalten, den nur Soldaten von tadelloser Führung vollziehen dürfen. Beim Verlassen der Kaserne erhalten die durch den Besehl zur Blattwendung Au», gezeichneten allmorgrndltch einen Kommandostab mit silber- nem Knopf. durch dessen Vorzeigung sie sich bet dem Sakristan der Sankt-Michaels-Kapelle legitimieren müssen. Der Sinn dieses Ehrendienstes aber ist. im Kent-Regiment dir Er- inncruiig an dessen ruhmvolle Taten während de» Weltkriege» und an seine 6k2l Gefallenen lebendig zu erhalten." So stand eS tn zahlreichen Zeitungen, und die e» lasen, priesen mit lauten, mit leisen, mit ergrissenen. mit gewohn heitsmäßigen Worten die Anordnung des Kent-Regiment- Kommandeurs als ebenso sinnvoll wir inveckmäßig. Von dem verwirrenden, die Ausrichtung seines Besehl» gefährdenden Ziytschensall aber, der in den ersten'Monaten diese» mtlitäri- sehen Erinnerungskultes tn der Sankt-Michaels-Kapelle der Kathedrale zu Eanterbury sich ereignete, stand tn den Zet- tungen nicht». Am Morgen de» 20. Oktober ISIS nämlich kniet« vor dem pergamentenen Buch mit den sechStauseirdsünshundertundetn- undzivanztg Namen eine ärmlich gekleidete, etwa sechzigjährige Frau. Sie war am Tage zuvor von ihrem Wohnort Wye gen Eanterbury gepilgert. Der squerlich« Sakristan hatte der Zugereisten da» Gitter, welche» die Sankt-Michaels-Kapelle von dem jedermann zugänglichen Kirchenraum abtrennt, nicht ausschltcßen wollen. Aber «in ungewöhnlich hohe» Trinkgeld machte ihn gefügig. Die Schwarzgekleidete begab sich in den GeLcnkraum. Der Rotbemantelte ging tn seine Wohnung zurück. Mit schweren Schritten schleppte die Frau sich zu dem kostbaren Buch mit den sechstausendsiinshunderteinundzwanztg Namen. Bekreuzigt« sich. Kniete nieder. Neigte das Haupt. Betete. Lange. Sehr lange. Schließlich hob die Frau aber doch das Gesicht, sah daS Buch an und begann, mit zitternden Fingern seine Blätter umziiwenden. Dort, wo die vielen Namen dichtgedrängt ber- zeichnet stehen. Die Frau la» - mit Mühe — Namen um Namen, las — halblaut die Buchstaben zusammensuchend -c- Seite sür Seite. Plötzlich schluchzte sie aus. Und wandte nun nicht mehr um. Mitten aus der Sekte stand in der Tat, was man ihr tn dem Brief'zugesichert hatte, den sie vor einigen Wochen vom Kent-isiegiment «erhielt. Die Hände der Frau falteten sich von neuem. Fielen aus da» Buch. Aul tztntzü unteren Rand. Dorthin, wo au» künstlerischen Grünocht^efn Name mehr steht. Ahr Herz schrie, ihr« Lippen murmelte«, ihre Augen weinten: »Ralph Mulvany, geboren am !l0. Juli 1880 zu Wye. Bezirk Eanterbury, gesallrn am 20. Oktober 1014 bei Langemarck in Belgien? Immer aus» neue: »Ralph Mnlvanü " bis zum » 1014 bei Langemarck ln Belgien? Ohne Anfhören: » geboren gefallen , geboren — - gefallen — —" Einige Minuten vor acht Uhr trat der Abgesandte de» Kent-Regimcntcs mit dem silberköpsigcn ErkennungSstab bei dem Sakristan ein. um den Schlüssel zur Dankt-MichaelS- Kapelle zu holen. Da erst erinnerte der Frühstückende sich, daß er die zugereiste Frau, welche ihm trotz ihrer kümmer- ltchen Kleidung ein erkleckliches Trinkgeld auShändigte, völlig vergessen hätte. Der Sakristan bedeutete dem Soldaten, daß die Kapelle geöffnet wäre. Er möge, wenn daS Blatt um- gewcndet sei, das Gitter abschlicßen, den Schlüssel, der. bei der Frühsäubcrung vcrsel>e»tlich stecken blieb, abzicben und mttbringen. Der Soldat sagte es zu. De» ErinncrungSdienst hatte an dem Morgen dieses 20. Oktober ein banmlanger, braver Kerl, der von früher her mit der Saste »mzngehe» wußte. Denn ihm widerfuhr bereits zum dritten Male die Auszeichnung der Blattwendung, die von den Gemeinen des Kent-Regimentes nicht nur der EOre wegen begehrt wurde. Der zu ihr Abkommandierte hatte nämlich, »ach Meldung der ordnungsgemäßen Ausführung des Befehls beim Kommandeur, denselben Tag dienstsrel. Der Soldat begab sich also mit der Ueberzeugung, daß die Verrichtung in der Kathedrale nach einigen Minuten be- endet sei und er vor Ablauf einer Stund« tu die Stadt schlendern werde, zur Dankt-MtchaelS-Kapelle. Aber diesmal salutierte er nicht, wie die beiden ersten Male, aus der Schwelle des GcdcnkraumcS. Vor dem aufgeschlagenen Buch präsentieren! so lautete leine Dienstanweisung. Bor dem ge krümmten'Rücken einer knienden Frau? — daS ging gegen den Befehl! Der Soldat blteb also mit geschultertem Gewehr am Ein gang der Sankt - Mlämels - Kapelle stehen. Räusperte «ch. Hustete. Machte mehrfach: »SM - LMM!" Trat mit dem rechte» Fuß aus. Stampfte mit beiden Beinen. AVer die kniende Frau rührte kein Glied. Ihre gefalteten Hände lagen am Rand einer der vollbeschriebenrn Setten des Er- innerungSbncheS. Ihr Herz schrie, was tn der Mitte k'-'-'r Seite zu lese» war: »Ralph Mulvany, geboren am 80. Juli 1880 zu Wye. Bezirk Eanterbury: gefallen am 20. Oktober 1014 bet Langemarck tn Belgien." Der Soldat lehnte sein Gewehr neben der Tür an die Innenseite de» KapcllengittcrS und trat vor dir kniende Frau hin. Die sab ihn nicht. Der Soldat rtes die Kniende halblaut an. Sie blickte verständnislos aus. Der Soldat machte mit dem Kops zur offenen Tür hin nicht mißzuvcrstehende Be- wegungen. Die Frau schüttelte verneinend ihr schmerz- umwolkteS Haupt. Der Soldat bedeutet« ihr: Er. müsse daS Buch aus dem Betpult umwenden. Ein« Sette weiter. So lang« hätte Ne die Sankt-MichaelS-Kapelle zu verlassen! Nachher könne sie von neuem vor dem Betpult niederknien. Könne den ganzen Tag lang beten. Wenn «» dann noch nicht genug gebetet lei. meinetwegen auch die ganz« Nacht lang: «iS zum nächsten Morgen Uhr acht, wenn wieder das Buch eine Seite weitrrgewendet werden müsse. Heute Hab« er den Befehl dazu erhalten. Vernünftig sein und solange — zwe^ drei Minuten nur! — dt« Sankt-Michaels-Kapelle verlassen! »Um-wenden?" rir« die Frau. Hob ihre gesaltrten Hände himmelan. Ließ sie gelobend ntrdersallen. Mitten aus dt« nach mühsamem Suchen von ihr gefundene Sette. Dorthin, wo ar- schrieben stanb: »Ralph Mulvan,. geboren am SO. Juli ISA» au Wne. Bezirk Eanterbur,: gesallen am 2V. Oktober 1«14 zu Langemarck in Belgien? Da die stumme Antwort der knienden Frau ketn« Miß- deutuna zulteß, packte de, Soldat sie beim Arm und zerrte d«t m»t allen Krästen Widerstrebend« au» der Gankt-MichaelS- Dan" verrichtet« er srtnen Dienst. Nicht völlig nach »er «vrschrtst. Wett die Turmuhr scho« geschlagen hatte, ging » »tcht auf dt« Gchwrll« zurück, m» zu präsentieren. Er h«. gab sich vielmehr unvermtttelt zu dem Gedenkbuch mit den sechStausrndsünsbundertetnundzwanzta Namen. Wandte die aufgeschlagen« Sette um. Schrieb die Nummer der neuen Sette aus ein schwarzgeränderte» Dtenstblatt, da» dem Ab- gesandten de» Kent-Regimente» mtt dem silberbelchlagenrn Kvmmandostab allmorgendlich ausgehäudigt wurde. Verließ die Lankt-MtcharlS-Kapellr. Vergaß auch nicht, die Dtttertür zu verschließen, den Schlüssel abzuziehen und -inzustecken. Al» der Soldat wenige Schritte durch da» Dunkel de» Dettenlchlfse» der Kathedrale gegangen war, stieß lein Fuß an ein Hindernis. Et» Schrcckenslaut entsuhr ihm. Aus den Stetn- sltesen lag ein Mensch. Eine Frau. Er bückte sich nieder. Es war die aus der Sankt-Michaels-Kapelle Htnausgeworsene. Der Soldat lies zum Sakristan und berichtete ihm daS Borgesallene. »Tot?" tragt« der Kirchendiener. Das habe er nicht sestgestellt, antwortete der Soldat betrossen. Doch glaube er eS wohl. Der Sakristan eilte tn die Kapelle. Gegen seine ursprüngliche Absicht folgte ihm der Soldat. Aber die Frau atmete. Der Soldat straffte sich, händigte dem Domdiener den Kapellenschlüssel aus und überließ ihm die Fürsorge sür die Zusammcngebroänme. Sobald die schwarzgekleidete Frau wieder zum Bewußt sein gekommen war, wollte sie, um etnrs Namens willen, zu dem Buch mit den mehr als sechstausend Namen zurückkchren. Aber der Sakristan war weder durch gute Worte noch durch Geld zu bewege», das Gitter von neuem auszuschließcn. So mußte die Abgcwtelene noch am 20. Oktober von Eanterbury nach Wye zurückwandern. AkS der Soldat dem Kommandeur des Kent-ReglmenteS rapportierte, baß der ihm erteilte Besehl ausgesührt daö Buch tn der Sankt-Michaels-Kapelle ordnungsgemäß eine Seite wcitergcwendet set, schrie der ihn an: „Lüge!" und be wies die Unwahrheit des Rapportes durch die Seitennummer aus dem Meldeblatt deS vorhergehenden TagcS. Dem Soldaten blieb nur übrig, den Zwischenfall am Betpult zu gestehen. Der Kommandeur legte Gaka an. Begab sich in die Sankt-MichaelS-Kapelle. Senkte vor dem Buch mit den se-^- tauscndsünshundertundeinundzwanzig Namen der Gefallene» d«S Kent-Regimente», zur Sühne sür das an ihm begangene Unrecht, den Degen. Wandte höchst eigenhändig seine Blätter um. Bi» endlich dl« rechte Seite zu Tage lag. Dann begab sich der Kommandeur zu dem Erzbischof. Und eS wurde ver einbart. daß — zur ungestörten Durchführung de» Erinne- rungödicnsteS der täglichen Blattwendung — künstightn das Gitter der Sankt-MichaelS-Kapelle — außer den Dienern der Kirche — nur noch den legitimierten Abgesandten des Kent- Regimentes sich öffnen solle: daß indessen den Angehörigen der Gefallenen, damit Ne den berechtigten Bedürfnissen ihres Herzens Genüge tun könnten, vor dem Gitter der Sankt- MichgelS-Kavelle ansreichende Gelegenheit geschaffen werden müßte, beaucm mtd säuberlich zum Gebet niederzuknien. So Ist denn seit Jahren schon die Hinwendung der Blätter des Gebenkbuches in der Sankt-Michncls-Kapellc zu Eantcr- bury nach lener Weise, von welcher zahlreiche Zeitungen mit Ergrisfenheit berichteten, Morgen sür Morgen ohne Störung verlause», wird weiterhin — »»» längst nicht mehr um der Tönung des lichtempfindlichen Pergamentes, sondern um der Erinnerung willen — ohne Störung ihren Fortgang nehmen. Jene kümmerlich gekleidete Iran, welche den sinnvollen Ertnnerungsdienst am Morgen des 20. Oktober 1010 "e- Mrdetr. weil sie nicht an ein kostbares Buch, sondern nur gp einen Menschen dachte, jene Mutter, die sich niä-i cm -ix sMstgusendfüufhundertundzwanzig Gefallenen deS Kent- RrgtmentcS «rinnerte, sondern nur a» den sechStanscndiünf- hundertilnfteiiiim-zwanzigsten, der ihr Solin mar, hat ihr Vergehen nicht wiederholen können. Sie ist am Abend des 20. Oktober lOlO. eine halbe Stunde Weges vor Wye. im Straßengraben gestorben. Ma-Wona, die Derslotzene. Bon Wilhelm Reese. Ma-Wong, die Gattin des reichen Kaufmanns Lu-Taen- Hai, saß in einem Winkel des gelben Zimmers in ihres Mannes Sause. Auf ihrem Antlitz lag eine tiefe, verzweifelte Traurigkeit. Zuweilen stöhnte sie laut auf und es schien, als wolle sie in Weinen ausbrechen. Tapfer aber kämpfte Ma- Wong gegen den Tränenstrom an. Immer wieder irrte der Blick aus den langbewimperten braunen Augen in banger Erwartung nach einer Tür. durch die bald leise, bald laute Männerstimmen drangen. Dort drinnen saßen sie zu Gericht über Ma-Wong, und daS schöne Weib wußte, daß es bei Lu-Taen-Hai eine be schlossene Sache war, sie zu verstoßen. Und sie wußte auch, wem sie weichen sollte, wer über sie bei ihrem Gatten den Sieg davougetragen hatte. Denn sie kannte ja Ra-Fu-Tschiau, daS berückend schöne, vergnügungssüchtige und herzlose Weib. Drinnen saßen sie alle, die zur Familie Lu-Tacn-HatS ge hörten, alle, mit Ausnahme Aang-Taens, des Geächteten. Er war Lu-Taen-Hats Vater, aber sein Name durfte tn diesem Hause »tcht ausgesprochen werden. Plötzlich verstummten die Stimmen, und in der Tür zum Ahnensaalc, die sich setzt auftat, erschien Ma-Wongs Gatte, begleitet von sämtlichen männlichen Angehörigen der Familie Taen. Ma-Wong erhob sich und stand in demütiger Haltung da. ' > »Ma-Wong". begann der betagte Oheim des Kaufmanns, »dein Gatte führt Klage wider dich, sein Eheweib. Er zeiht dich der Vernachlässigung deiner Pflichten, deS Ungehorsams, des Diebstahls. Ist es wahr, daß du in Abwesenheit deines höhen Herrn und Gebieters einem Fremden Eingang in dieses Hans gewährt hast?" »Ich kann es nicht leugnen. Euer Hochwohlgeboren", er widerte sie mtt sanfter Stimme: aber trotzdem hielt sie furcht- los de» strengen Blick ihres Gatten aus. »Dein Gemahl, Herr Lu-Taen-Hat. hat dich, Ma-Wong, nach dem Namen deS Menschen gefragt, den ein Augenzeuge heimlich tn dieses Haus hat etnschleichen sehen, um ihn mit Schanden durch die Straßen peitschen zu lasten. Du hast deinen Mitschuldigen nicht verraten . . Ma-Wong warf sich auf die Knie, rang verzweifelt die Hände und rief aus: „Richtet mich, ihr hohen und weisen Herren! Aber sagen kann ich euch den Namen nie und nimmer!" „Du bist eine Verlorene» Ma-Wong!" erwiderte der Oheim mtt dumpf grollender Stimme. Lu-Taen-Hai, der Gatte, aber überreichte Ma-Wong einen großen, mit Gchrtftzügen bedeckten Bogen. „Zu meiner Be- trttbniS", so begann er, »habe ich mich veranlaßt gesehen, dich, Ma-Wong, von mir zu entfernen und dich nicht mehr als meine Gattin anzuerkennen. Du selbst hast eS verschuldet!... Go gebe ich dir denn diesen Scheidebrtef!" Damit legte er den Bogen auf ein Tischchen, tupfte mtt der Spitze seine» rechten Zeigefinger» in die Tusche und drückt« dann den Finger neben die Namenszeichen auf da» Papier, dort einen durch Sie Hautrillen feingeadcrten Fleck zurücklassend. Darauf gab er ihr da» Schreiben und sagte feierlich: »So gehe denn von mir, Ma-Wong, die du die Pflichten, dt« ein treye», demütige» Weib seinem Gatten schuldet, so gröblich verletztest — eine Verlorene! Ich müßte dich sonst in da» Gefängnis führen lassen! — Und um da» Maß meiner Güte »egen eine Unwürdig« voll zu machen, gebe ich dir hier diesen veütek. Nimm Ihn und leb« von Ru.« Inhalt!" Ganz entsetzt schaut« Ma-Wong aus und blickte bald dem reichen Mann tn die Augen, bald aus den Geldbeutel, den er ihr darretchte. Die Röte der Scham stieg ihr ins Gesicht, und einen Augenblick hatte e» den Anschetn, al- wollte sie beleidigt dem Geld« den Rücken wenden. Dann aber neigte sie ihr Haupt noch tiefer, um die Tränen in den lange», seidigen Wimpern zu verbergen, die ihr nun auch schon die Wangen entlangliesen und zur Erde tropften, nahm mit bebender Hand den Beutel, barg ihn tu ihr Gewand und schlich hin- aus. Draußen angekommen. überlegte sie ein paar Sekunden, wohin sie ihre Schritte lenken sollte. Dann hatte sie sich ent- ichlosten. Eilig lief sie nach einem Tankürhause. Die ge- samte Summe, die sie von Lu-Taen-Hai erhalten, übergab sie dem .ine» Mitbesitzer der Spielhölle als Einlage. Sie er- hielt dafür einen Schein, aus dem der Betrag des Geldes verzeichnet war uyd der Gewinnanteil, der daraus entfallen sollte. Darauf verließ sie die Stadt und blieb für alle, die sic kannten, verschollen. Kurze Zeit darauf zog Ra-Fu-Tschiau. die berückend schöne Abenteurerin, als Gattin tn Lu-Taen-HaiS Haus. Ma-Wong war bald vergehen. Aber mit Ra-Fu-Tschiau hatte nicht, wie der reiche Kaufmann gehofft, das Glück seinen Einzug gehalten, und bald Mekkte Lu-Taen Hai, daß seine zweite Gattin zwar schöner und verführerischer war als die erste, jedoch nicht pflichteifriger, nicht bescheidener, nicht freund licher. Fünf volle Jahre waren so vergangen. Das schöne Weib hatte Lu-Taen-Hat fast zugrunde gerichtet. Aber das Härteste stand ihm noch bevor. Eine- Tag«-, als er von der Reise, die er zu einem Geschäftsfreunde unternommen, zurückkehrte, suchte er vergebens nach Ra-Fu-Tschiau, nach der ihn die Sehnsucht fast verzehrt hatte. Auch mit seinem Geschäft war es zu Ende. Die Gläubiger kamen, und er hatte nichts, wo mit er sie bezahlen konnte. Er verkaufte seine Geräte, seine Staatskleider — es war ein wenig Wasser aus einen glühen- den Gtctni Lu-Taen-Hat irrte durch die Straßen, ohne zu wissen, was er tat. In sein Haus wagt« er nicht mehr zurück zulehren, denn da sahen seine Gläubiger und warteten auf ihn. Müdigkeit, Hunger, Durst, Furckt und Kummer zehrten an seinem Körper, so daß er nahe daran war. umzusinkeu. So war es später Abend geworden. Er war tn einer ent fernten Vorstadt angekommen, tn der es lauter prächtige Wohnhäuser reicher und vornehmer Leute gab, mit schönen, wohlgepflegten Gärten und reichverzierten Giebeldächern. Schwäche und Verzweiflung übermannten ihn. Er setzte sich auf einen Stein vor einem der glänzenden Häuser und sah vor sich den breiten Strom, den er in wenigen Minuten er reichen konnte. Da öffnete sich plötzlich die Pforte und einige Frauen traten heraus, die man an ihren Kleidern, ihrer Frisur und an den Glöckchen, die sie an ihren zierlichen Füßen trugen, sofort als Sängerinnen erkannt«. Sie hüllten sich in weite Mäntel und trennten sich vor der Tür. Eine von ihnen ging hart an Luen-Taen-Hai vorüber und streifte ihn mit ihrem Gewände. Da fuhr er empor, als hätte ihn gar Seltsames berührt. Auch das Mädchen blieb stehen und sah ihn an. »Ma-Wong — Ma-Wong! — du — die — Verlorene?!" murmelte er und ließ sich aus den Stein zurückfallen. „Oh. mein Gemahl, mein Gatte, sprecht nicht so! Ich bin nie — nie eine Verlorene gewesen? Und sic kniete vor ihm nieder und ergriff seine zitternde» HSude. „Seht, hoher Herr, sch habe immer nur an Euch gedctchr, und als ich mich so weit entwürdigte, eine öffentliche Sängerin zu werden . . . Oh, hätte ich für mein bescheidenes Esten und Wohnen doch einen geachteteren Erwerb finden können!" »Ich gab dir ja Geld — dreihundert Gilbertaels!" „Mein hoher Herr, ich habe keinen Kätsch davon für mich genommen! Das Geld ist noch da und wir- unterdessen wohl das Fünf- oder gar Zehnfache geworden sein, denn ich wußte ja. was geschehen würde, ich sah voraus, daß Ra-Fu-Tschiau Euch zugrunde richten würde, und darum legte ich Euer Geld so an, daß es Euch einmal eine Rettung sein sollte. Darum erniedrigte ich mich und stieg — Ihr habt ja so oft meinen Gesang gelobt! — in den verachteten Stand der Sängerinnen hinab." Verwundert blickte er auf die vor ihm Kniende. „Ja", sagte er endlich nach langem Zögern, »wenn du, Ma-Wong, so erfüllt bist von Liebe zu mir, warum betrogst du mich bann?" „Oh, mein hoher Gemahl, bis zu dieser Stunde habe ich nicht vergessen, was ich schuldig binl Wollt Ihr zu mir kommen in meine Wohnung? Dort werdet Ihr noch einige- zu Eurer Stärkung finden. Ihr dürft eS tun. denn Ihr seid wahrhaftig und bei meinem Leben der einzige, der jemals die Schwelle meines Zimmers betreten!" „Aber jener Fremde, den du, Ma-Wong, heimlich in mein HauS ließest . . .??" „Jetzt kann ich Euch sagen, wer jener Fremde war. Da» mals hättet Ihr ja doch nichts davon hören mögen. Es war — Uang-Taen — Euer geächteter Vater. ES war das Fest der Ahnenanbetung, und da trieb eS ihn heimlich in die Heimat zurück, vor den Ahnentafeln der Familie seine An betung und seine Opfer barzubrtngen. Er war ja unschuldig verbannt worden. Euer Vater! Oh, Herr, in der Tiefe Eure» Herzens habt Ihr selber nicht an seine Schuld geglaubt, aber der Ehrgeiz hatte Euch verblendet! Ihr suchtet Ehren bet Hofe und wolltet deshalb keine Gemeinschaft haben mit dem, der tn Ungnade gefallen war. Nicht einmal sein Name durfte vor Euren Ohren genannt werden. Aber wie hätte Euch der Himmel noch lieben können, wenn Ihr dem eigenen Vater die Ahnenanbetung versagtet? .Darum aber, damit Ihr nicht Schaden leiden solltet bet Hofe an Eurem Ansehen, darum nahm ich den schweren Verdacht auf mich, den Ihr gegen mich ausgesprochen habt." Lu-Taen-Hat schritt neben seinem früheren Weibe her und sagte lange Zelt kein Wort. Dann aber blteb er mit einem Mal« stehen, griff nach ihren Händen und sagte mtt heißschluchzenüer Stimme: „Wo gibt eS ein Weib, das edler und selbstloser ist als du, Ma- Wong? Du verdientest, daß man dir als einzige einen blumenprangenden Ehrenbogen errichtet, und baß die größten Dichter dich auf ihren Schild erheben, -ich tn ihren Lieder» preisen! . .. Ma-Wong. mein treues Weib, bist du bereit, zu mir zurückzukebren und den Lebensabend Lu-Taen-Hais ,n verschönern? Ma-Wong, du best« und edelste unter allen Frauen, kannst du mtr verzeihen, wa» ich an dir verbrochen habe . . .?" Utrd da» Glück war wieder an Lu-Taen-HaiS Seite. Der Aeise»«qe«. Bon HanSGSfgen. Neulich bin ich auf dem Lande gewesen. Dort wohnt mein Urgroßvater, der bald hundert Jahre alt ist. Einmal schloß er mir einen Schuppen auf. Dort stand sein alter Reitewagen. Mein Urgroßvater ist viel gereift. Er fuhr noch mtt de« Retsewagen, als die Eisenbahn schon durch die Lande brauste. Er war ein Bauer, «te die ander««. Er hatte Gehnsucht. >