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Nr. 123 — V. Jahrgang Dienstag de« 14. Juni IVIO Erscheint täglich nachm, mit Ausnahme der Sonn- und Festtage. '1S° Fi" In' Dresden' durch "«oteü" »,40 Ä" In Deutschland net Haus 8,8S X. gan« «»»gäbe ».! Ohne illustrierte Beilage viertelt. 1.80 Fs. I» Dresden d. Boten 8,1V Fs. In ganz Deutschland frei Hau» ».»» Fs. - «tnzel.Nr. I« ä - Zettung»prei»l. Nr. «888. Unabhängiges Tageblatt für Wahrheit. Recht und Freiheit Inserate werden die Sgesvaltene Petitzeiie oder deren Raum mt» 18 ä. Reklame» mit 8V U die Zeile berechnet, bei Wiederholungen entsprechenden Rabatt. Bnchdrurkeret, Redaktion und vieschäft-ktelle, Dresden, Pillniyer Strafte 48. — Aernsprechcr 18«« Für Rückgabe nnberlanat. Schriftstücke keine tverbindlichlNt NedaktionS-Sprechstunde: 11 — 18 Uhr. Ots dsstsn ^nfn!8LfmnZ8-6or>boti8 ^4 pfuncl 15 uncl 2V k^ksnnigs, ttnönhdsiil'IIoii aus klvtssn unci /tusslügon, sriialtsn SIs bsl: lZerÜNZ 8- kocchstroli, Ocesclen. bllsrisi'Iaxsn In a»sn Stsctttstlsn. liik Glossen zur Protestversammlung des Evangelischen Bundes. Dresden, den 13 Juni 1910. Das Volk der Philosophen und Denker ist nicht „vor- auSsetzungSlob". Sage dem Deutschen die geschichtliche Wahrheit, dann vergleicht er sie mit der ihm in der Schule beigebrachten traditionellen Weisheit. Stimmt beides überein, dann wird sie angenommen; ist sie in Widerspruch mit der Tradition, glatt abgelehnt. Da nützen alle Autoritäten nichts, auf die das kritische Urteil sich stützt. Diese pietätvolle Verehrung der Tradition ist besonders im Protestantismus groß. In Glaubensdingen vernichtet er die Ueberlieferung und läßt nur die Bibel gelten;in der historischen Darstellung vernichtet er das Evan gelium der Geschichte und behält die landläufige seit300Jahren von Geschlecht zu Geschlecht sortgeerbte Tradition mit allen Jrrtümern. Diese Tradition wird sorgfältig bewahrt und der Wahrheit der Zutritt ins Volk Peinlich verwehrt. Bei den Katholiken würde man sagen, den Himmel mit Kutten verhängen, damit daSTageSlicht nicht durchdringt, Protestanten nennen es „Wahrung der Güter der Reformation". Wir ver- standen allerdings etwas anderes darunter. Doch das sind interne Dinge. Die Wahrheit wird sich selbst freimachen — auch ohne Papst; ihre innere Kraft siegt endlich, mag man sich auch alle Mühe geben, sie zu unterbinden. Jetzt gilt eS noch als Beschimpfung, wenn man eS öffentlich ausspricht, was die neuere protestantische Geschichtswissenschaft bezeugt. Eine Revision der protestantischen Geschichtstradition wäre sehr angezeigt. Schon im Jahre 1826 schrieb der protestantische Historiker Böhmer: „Die Reformationsgeschichte bedarf einer völlig neuen Bearbeitung, daS erkenne ich immer mehr, je eindringlicher ich mich mit den Schriften der Reformatoren selbst, die mancher neueren landläufigen Darstellung fast in einem mythischen Gewände vor uns stehen, beschäftige." Jetzt würde sie sich in loyaler Weise im Einvernehmen mit den maßgebenden protestantischen Kreisen vollziehen, später wird dies ohne, ja gegen diese geschehen. Der Papst hat in seiner Enzyklika den PassuS, der zu Protestversammlungen Anlaß gab. auf die neue Geschichte gestützt. Bei der am Freitag abgehaltenen Protestversamm lung zu Dresden lud der eine Referent, Herr Pfarrer Dr. Költzsch, den Papst ein, Deutschland zu besuchen, um es kennen zu lernen. DaS ist ja sehr nett vom Redner, würde aber den Zweck nicht erfüllen. Der Papst sprach von Zuständen, die 400 Jahre zurückliegen. Er sprach von der Abkehr der Katholiken damaliger Zeit im Abend- lande überhaupt, nicht etwa in Deutschland bloß, er sprach von den Männern, welche sich an die Spitze der Abfall- bewegung stellten, und den Fürsten, die sie unterstützten. Diese Dinge gehören der Geschichte an und diese ist bekannt lich eine internationale Wissenschaft'; die lokale protestantische Tradition könnte der Papst in Deutschland kennen lernen, aber sie steht auch in Büchern der nicht exakten Wissenschaft. Der Papst hat dieser Ueberlieferung nicht die gewünschte Reverenz erwiesen. Wenn der Vorsitzende der Versamm lung Herr Prof. Dr. Schäfer deshalb in dem Passus eine „empörende maßlose Beschimpfung unserer Nation" sieht, wenn Herr Pfarrer Reichel ihn eine „Bosheit im Gewände von Dummheit" nennt und Herr Pfarrer Blanckmeister meint, der „Papst müsse ohne jede geschichtliche Bildung" sein, so sind diese schweren Anwürfe unbegründet, weil die kritische Geschichtsforschung der Protestanten selbst die Worte des Papstes bestätigt. ES wurde bet der Protestversammlung auch betont, daß die Worte einen unnötigen Streit vom Zaune gebrochen hätten. ES gibt auch Katholiken, welche der Ansicht sind, es wäre inopportun geweien, daß der Papst jetzt auf die Geschichte vor 400 Jahren in dieser scharfen Form zurückkam. Wer die Sätze objektiv betrachtet, findet in ihrer Allgemeinheit keinen Grund, daß sich der deutsche Protestantismus aufregt. ES sind weder Länder noch Personen gemeint. ES ist daS Werk des Evangelischen Bundes, sie zuerst durch die übertriebene Uebersetzung und durch Fälschung der Ausdrücke direckt auf Deutschland zu beziehen. Weder in der italienischen noch lateinischen Sprache kommt daS Wort Reformation und Reformatoren vor. Man hat diese- Ausdrücke mit böswilliger Absicht hineingesetzt, um die Deutschen verhetzen zu können; wörtlich heißt eS: „ . . . rsbslliuin tumultum st illam ticksi morumyus slacksm appsUarunt instau- r^tionsm, svso »utsm ckisoiplinns vstsris rv3titu- torss" „und nannten den rebellischen Wirrwarr und die Verkehrtheit des Glaubens und der SUten E - Neuerung und sich selbst Wiedererneuercr." Warum nimmt sich nun der Evangelische Bund diese Worte als Beleidigung an? Weil er einen Vorwand darin sah, wieder einmal den kuror protostantisus zu entfesseln. Die „Sächsische Volkszeitung" brachte daher den Wortlaut der Enzyklika, damit sich unsere evangelischen Mitbürger selbst überzeugen, daß sie durch den Papst nicht beschimpft wurden. Der Evangelische Bund aber zog die Jacke an, weil sie ihm Paßte. ES wurde auch von zwei Rednern eine Behauptung aufgestellt, die mit aller Entschiedenheit zurückgewiesen werden muß, weil sie den konfessionellen Frieden mit Vor- sätzlichkeit stören will. Her Pfarrer Blanckmeister sagte: „Bedauerlich ist eS. daß die sächsisch-katholische Geist- lichkeit mit Bischof Dr. Schaefer an der Spitze in iher Presse ihren außerordtMlichen Genugtuung Ubir die^päpst- Nche Enzyklika Ausdruck gegeben hat." Diese Mitteilung wurde mit entrüsteten Pfui-Nufen ausgenommen. Aber diese Ausdrücke des Unwillens treffen nicht den Inhalt der Mitteilung, sondern in ihrer ganzen Wucht den Redner, der in so unverantwortlicher Weise eine Unwahrheit über den Oberhirten der Diözesen und die kath. Geistlichkeit öffentlich aussprichi. Die Sache ist vollständig aus der Luft gegriffen. Bischof und Klerus stehen den Artikeln über die Enzyklika in der „Sächs. Volkszeitung" vollständig fern; sie wurden weder von ihnen inspiriert noch von ihnen geschrieben. Sollte der Herr Pfarrer Blanckmeister es besser wissen, so fordern wir ihnauf, die Beweise und Zeugen hierfür beiz »bringen. Im anderen Falle wollen wir voraussetzen, daß er auf ein in evangelischen Bundeskreisen kolportiertes Märchen hereingefallen ist, und fordern von ihm als Ehrenmann öffentlichen Widerruf der öffentlichen ausgesprochenen Unwahrheit. Wenn er den konfessionellen Frieden in Sachsen schützen will, dann darf er nicht durch unwahre, aufreizende Nach richten diesen trüben wollen. Herr Pfarrer Reichel zitierte den Ausspruch des hochwürdigsten Bischofs in der Ersten Kammer: „Wer den konfessionellen Frieden stört» ist ein Verräter an der deutschen Nation." Es lag für den Oberhirten keine Veranlassung vor, sich zur Enzyklika in der Zeitung zu äußern: Pfarrer Blanckmeister aber durfte, will er den Frieden wahren helfen, keine aus der Luft gegriffene Mitteilungen so gehässiger Art in einer großen Versamm lung aussprechen. Es wurde von Herrn Pfarrer Költzsch behauptet, daß die „Sächs. Volksztg." die päpstliche Enzyklika „gerühmt" habe. Auch dies ist unrichtig. Die Zeitung hat nichts weiter getan, als nachgewiesen, 1. daß der Papst im allge meinen über die Abfallsbcwegung vor 400 Jahren sprach und nicht allein Deutschland gemeint hat; 2. daß dies Ur teil des Papstes, soweit es auf Deutschland anwendbar ist, mit dem Urteil der neueren protestantischen Geschichts forschung übereinstimmt: 3. daß also für die deutschen Protestanten kein Grund vorhanden ist, sich gekränkt zu fühlen. Endlich könnten wir 4. noch Nachweisen, daß das Ur teil des Dr. Martin Luther über die Früchte der sogenannten „Reformation", über Fürsten und Völker ein bedeutend schärferes war, als es der Papst gegeben hat. Allerdings würden auch diese Urteile aus dem maß gebendsten Munde widersprochen werden, weil sie nicht all mnjorsm rskorwationis xloriam gereichen. Höher als das Urteil des Urhebers der Kirchenspaltung, höher als die Urteile der exakten Geschichtswissenschaft steht die gehei ligte Tradtion, die eben ein „Heldenzeitalter" haben will, die das deutsche Volk, wie Herr Pfarrer Költzsch sagte, „in seiner ganzen Herrlichkeit, mit der Kraft, den: Geist und dem Willen, mit seinem tiefen Gemüt und seinem Ernst" darstcllt. Das Urteil der „Reformatoren" ist dem diametral entgegengesetzt. Wer Luthers Schriften kennt, weiß, daß sich jeder Lobrede, die der Reformator über die Deutschen aussprach, lO Schimpfreden entgegenstellen lassen. In Luthers Augen sind wir „barbarische, volle und tolle Deutschen", „grobe Klötze und Säue": wir sind eine „bar barische und wahrhaft bestialische Nation", „ein wüstes, wildes Volk, ja schier halb Teufel halb Mensch", und solche „schändliche Säue sind wir heillose Deutsche usw.". Luther schreibt: „Das Ansehen Deutschlands ist nie kläglicher ge wesen als jetzt." (De Wette 3, S. 25.) ' Luther selbst hat also dieses „Heldcnzeitalter" sehr niedrig eingeschätzt. Nach diesen allgemeinen Bemerkungen werden wir morgen auf den Inhalt der einzelnen Protest- reden näher cingehen. , IV. Zu einer Protestversammlung gegen die Enzyklika hatte die Berliner Ortsgruppe des Evangelischen Bundes Sonntag mittag eingeladen. Ter geräumige Rundbau des Zirkus Busch, der nahezu 5000 Personen faßt, war Wohl bis auf den letzten Platz besetzt, aber die in Aussicht genommene Parallelversammlung brauchte nicht abgehalten zu werden. In der Versammlung waren das weibliche und das studen tische Element stark vertreten. Der Vorsitzende der Orts- gruppe Professor Schmitz stellte die Versammlung unter das Panier der Reformation und wünschte, daß der Geist der großen Reformatoren, der Geist protestantischer Charakter festigkeit und UeberzeugungStreue, der Geist evangelischer Weitherzigkeit und Duldung sie leiten möge. Die erste An sprache hielt Professor Scholz über „Luther und die Re formatoren". Der von den: Vorsitzenden angerufene Geist vermochte leider bei diesem Redner noch nicht seine volle Wirkung zu tun. Redner erinnerte an das Lutherwort: Die Zeit des Schweigens ist vergangen, die Zeit des Redens ist gekommen, und sprach dann dem Evangelischen Bunde dem „wackeren Nufer im Streite", seinen Dank aus, daß er auch jetzt wieder, wie bei der Canisiusenzyklika, der Aufhebung des 8 2 des Jesuitengesctzes, nach der Veröffentlichung des Tcnifleschen Lutherwerkes, zum Protest gerufen habe. Man sei dem Papste dankbar für die Beleuchtung, die er dem wahren Sachverhalt gegeben habe. Mit ausgesuchter Ver unglimpfung des Papstes suchte er Luther und die anderen Reformatoren gegen die Vorwürfe des Hochmutes, der Re bellion. der Feindschaft gegen das Kreuz Christi, der irdi schen Gesinnung zu verteidigen und wünschte, daß der Papst und die Kardinäle öfters sich die Schriften Luthers zur Morgenlektüre nehmen möchten. Der Redner schloß mit den Worten: Wir fordern für unsere Glaubenshctden keinen Heiligenschein, es ist ihr größter Ruhm, daß sie auf den Schein der Heiligkeit verzichtet haben. Medizinalrat Pro fessor Hanse mann sprach über „Reformation und Wis senschaft". Sein Gedanke ging dahin, daß die Angriffe der Enzyklika keine innerkirchliche Angelegenheit seien, daß sie auch die gesamte Wissenschaft träfen, die erst durch die Re formation ihre Freiheit gefunden habe. Nicht wir wollen den Kulturkampf, aber der Ultramontanisinus führt einen Kampf gegen die Kultur. Es gibt luv uns eine große Par tei, die diesen Kampf gegen die Kultur auf ihre Fahne ge schrieben hat. (Pfuirufe.) Zn einer ininntenlangen Nadanszene kam es, als der konservative Abgeordnete Strosser das Wort nahm. Strosser wurde mit wütenden Zurufen: Verbündeter des Zentrums! empfangen. Ter größere Teil der Versaininlung protestierte; erst die wiederholten Mahnungen des Ver sammlungsleiters, der die Ruhestörer hinauszuweisen drohte, brachten die Ruhe zurück. Strosser hatte sich das Thema: „Evangelische Fürsten und Völker" zur Aufgabe gestellt. Er protestierte dagegen, daß der Papst unser er lauchtes Fürstenhaus und den größeren Teil des deutschen Volkes geschmäht habe. Seine Ausführungen zeichneten sich durch ihre Mäßigung und durch den warmen Appell zur Erhaltung des inneren Friedens gegenüber den Vorrednern sympathisch aus. Auch der nächste Redner, Professor Hans Delbrück, der über „Das Deutsche Reich und der konfessionelle Friede" sprach, betonte die Notwendigkeit des inneren Friedens. Er stellte die Frage, weshalb gerade in diesem Augenblicke die Kriegserklärung seitens Roms erfolgt sei. Die Kurialen möchten denken, lvas sie wollten, aber sie sollten nichts sagen und tun, was die Gefahr eines Kampfes heranfbeschwören könnte, der schlimmer fein werde, als der alte Kulturkampf. Der Protest der deutschen Protestanten solle die Wirkung haben, daß man in Nom diese Gefahr erkenne. Als letzter Redner sprach der freisinnige Abgeordnete Pastor Friedrich Naumann über „Reformation und Kultur". Seine Rede war ein Mnsterstück agitatorischer „Reformation und Kultur". Seine Rede war ein Muster stück agitatorischer Verhetzung. Sein Grundgedanke war, daß die Enzyklika die Völker in „Schafe und Böcke" ge schieden habe, und er untersuchte nun, ob diese Charakterisie rung der „evangelischen angelsächsischen und germanischen" und der „katholischen romanischen" Völker zutreffend sei. Bemerkenswerter aber war der lärmende Beifall, den Nau mann mit seinem Glaubensbekenntnis fand: Luther habe dem einzelnen feine innerliche persönliche Freiheit verkün det: Du bist dein eigener Seelsorger, wenn du irrst, so irrst du eben, auf deine eigene Rechnung und Gefahr suchst du Gott, findest du ihn oder findest du ihn nicht, suchst du die Sittlichkeit, hast du sie oder hast du sie nicht. Das durfte Naumann einer Versammlung, die der Verteidigung der evangelischen Glaubensüberzeuguug dienen wollte, als Christentum vortragen! Und als eine Stimme aus dein Saale ihm zurief: Das ist nicht lutherisch, das ist Anarchie! fand sie nicht Zustimmung, sondern erregten Widerspruch, der sich zu dem Rufe verstieg: Raus mit dem Lumpen! Wir möchten glauben, das; sich der gläubigen evangelischen Kreise brennende Scham bemächtigen müsse, wenn sie von einer solchen Verteidigung des evangelischen Christentums Kunde erhalten. Das Schlußwort sprach der bekannte Kirchenrechtslehrer der Berliner Universität Professor Kahl. Er führte aus. der sachliche Wert der Enzyklika rechtfertige die gewaltige Erregung nicht, die jetzt das evangelische Volk ergriffen habe. Sie sei zu erklären, weil der „massiv grobe Angriff" in einem Zeitpunkte erfolgt sei, wo nach der politischen Situation und der religiösen Gesamtstimmnng des Volkes nichts als so notwendig erkannt wurde, wie die Erhaltung des konfessionellen Friedens. Tie Schuld trügen nicht die deutschen Katholiken, auch nicht der als Verfasser genannte „spanische Mönch" oder der Papst, sondern das römische System. Es wurde noch eine Protestkundgebung beschlossen, die sich in den bereits bekannten Wendungen bewegt. Imposant