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15658 Börsenblatt f. d. Dtschu. Buchhandel,, Mchtamtlicher Teil. 299. 27. Dezember 1910. < Müller-Meinigen) hat, und daß eine Reihe ganz unschuldiger Hausmittel auf die Geheimmittelliste kam, während anderseits Tausende von wirklichen Schwindelartikeln ohne weiteres verbreitet werden konnten. Nun soll im wesentlichen das Geheimmittelwesen auf diese reichsgesetz liche Basis des § 6 gestellt werden. Der § 6 ist im allerhöchsten Grade anfechtbar, nicht nur für die chemische Industrie, sondern auch für die Arztewelt. Letztere wird durch das vollständige Ver bot des Verkehrs mit Gegenständen, die die Empfängnis ver hüten oder die Schwangerschaft beseitigen sollen (Abs. 1 des § 6), eventuell selbst am meisten geschädigt. Ähnliche Bedenken hat fast jede weitere Bestimmung des § 6 gegen sich, die schwersten der zweite Teil desselben, wonach der Bundesrat die unglaub lichsten Rechte gegenüber der pharmazeutisch.chemischen Industrie erhalten soll. Die vielerwähnte Kommission soll bestehen aus richterlichen oder zum höheren Verwaltungsdienst befähigten Be amten und aus Sachverständigen. Diese Kommission haben wir ja schon besessen, und sie hat sich bereits einen gewissen Ruf er worben. Mit einer solchen Kommission ist nichts anzufangen. Die Entscheidung über das Verbot eines von der chemischen In dustrie produzierten Mittels muß im geordneten Verfahren erfolgen, das Verbot muß begründet werden und die Berufung an das ordentliche Gericht zulässig sein. Ohne eine solche Umgestaltung des § 6 ist er für uns unannehmbar; er ist die eigentliche Oux des Gesetzes. Sehr bedenklich erscheint uns die Ausdehnung der zahlreichen Strafbestimmungen des Entwurfs auch auf die Fahr lässigkeit; es liegt darin auch eine große Gefahr für die Presse, denn nach einem Kammergerichtsurteil kann in solchen Fällen neben dem strafbaren Inserenten auch der Redakteur bestraft werden, und zwar nach dem Entwurf mit Gefängnis bis zu drei Monaten. Die Presse wird nicht umhin können, sich zur Ver meidung solcher Eventualitäten einen Geheimmittelspezialisten zu zulegen. Die kleinliche, schikanöse Anwendung eines solchen Gesetzes würde die allgemeine Verärgerung über unsere gesamte Polizeigesetzgebung ins ungemessene steigern. Wir sind also auch unsererseits gern bereit, gewisse gefährliche Erscheinungen auf dem Gebiete des Heilgewerbes gesetzgeberisch zu bekämpfen, aber wir müssen sehr vorsichtig Vorgehen, um nicht mit wertlosen Lufthieben neue Gefahren für die Allgemeinheit heraufzubeschwören. Wir hoffen, daß der gute Kern aus der Vorlage in der Kommission richtig herausgeschält wird; aber nicht ein drakonisches Strafgesetz, sondern vernünftige Aufklärung wird nach wie vor das beste Heil mittel gegen schwindelhafte Ausbeutung des Publikums sein. Direktor im Reichsamt des Innern von Jonquieres: Der Herr Staatssekretär des Innern ist durch ein unaufschiebbares Amtsgeschäft verhindert, an der Sitzung weiter teilzunehmen. Die Auffassung verschiedener Seiten, als handele es sich hier um ein Gesetz zum Schutze der Arzte, ist grundfalsch. Der Stand der Arzte ist so ehrenwert, daß er vom Regierungstisch nicht verteidigt zu werden braucht; ich kann es den Herren aus dem Hause, die diesem Stande angehören, überlassen, sich gegen Angriffe zu ver teidigen. Wenn die Regierung in der letzten Zeit auch mit einer gewissen Organisation der Ärzteschaft nicht immer einer Meinung gewesen ist und mit ihr Debatten hat führen müssen, so steht das der besonderen Wertschätzung, die sie diesem Stande entgegen bringt, nicht im Wege. Es ist kein Hindernis, die approbierten Arzte in dieser Materie anders zu behandeln, als die übrigen Personen. Ich betone nochmals, es handelt sich nicht um ein Gesetz zum Schutze der Arzte, sondern zum Schutze der Volks gesundheit. Nicht unerfüllte Wünsche bei der Reichsversicherungs ordnung haben den Anlaß zu dieser gesetzgeberischen Aktion ge geben, sondern sie ist seit langer Zeit vom Reichsamt des Innern vorbereitet, denn es waren eklatante Mißstände hervorgetreten. Ich habe in der Vorlage keine Namen genannt und werde auch hier keine Namen nennen, um nicht noch Reklame für diese Leute zu treiben; als wir aber 1903 die ersten Vorbereitungen trafen, hat sich vor Gericht ein Fall abgespielt, der schon für sich allein Anlaß zu gesetzgeberischem Einschreiten geboten hätte. Der Gesetzentwurf richtet sich keineswegs gegen den Stand der Natur heilkundigen. Selbstverständlich mußten wir den ganzen Kreis der nichtapprobierten Personen, darunter die Naturheilkundigen und die Dentisten, gewissen Bedingungen unterwerfen, wenn wir sie nicht ganz herauslassen wollten. Eine gesetzlich haltbare Defi nition für den Begriff des Kurpfuschers läßt sich nicht geben, (von Jonquieres) sonst hätten wir vielleicht den Versuch gemacht; es blieb nur übrig, zu unterscheiden zwischen den approbierten Personen und denen, die sich der Approbation nicht unterzogen haben. Die Vorschriften des Gesetzes sind im einzelnen so sorgfältig auf gebaut, daß die Naturheilkundigen und besonders auch die Den tisten in keiner Weise gehindert sind, ihren Beruf auszuüben, soweit nicht das öffentliche Interesse der Gesundheitspflege ent gegensteht. Wir haben nur einige Krankheiten und Behandlungs arten den approbierten Ärzten Vorbehalten, weil es untunlich ist, sie andern zu überlassen. Davon abgesehen, mag jeder Natur heilkundige seine Praxis ausüben, und jeder, der Vertrauen zur Naturheilkunde hat, sich dieser anvertrauen. Insbesondere haben die Dentisten die Möglichkeit, das, was sie bisher innerhalb ihres Gewerbebetriebes ausübten, auch weiter zu tun. Bei der Frage der Betäubungsmittel ist genau unterschieden, so daß die Den tisten in der Lage sind, solche Mittel anzuwenden. Es ist ganz unmöglich, den Dentisten eine Approbation zu geben, die Appro bation hat reichsrechtlich gar keine besonderen Folgen nach der Gewerbeordnung, diese schützt nur den Titel, die Ausübung ist jedermann freigegeben. Darum kann, einerlei, ob ein Dentist eine gewisse Approbation hat, er in die Tätigkeit des Zahnarztes eingreifen, ohne sich strafbar zu machen. Ob wir mit dem Gesetz Erfolg haben und das Ziel erreichen, läßt sich noch nicht sagen; die Regierung glaubt an einen Erfolg. Daß wir alles erreichen, was man wünschen könnte, glauben auch wir nicht; aber daß wir eine Besserung der Zustände erreichen werden, darauf rechnen wir mit Bestimmtheit nach dem Vorgang der bisherigen Behandlung des Geheimmittelwesens. Die Zustände haben sich schon wesentlich gebessert. Es ist befürchtet worden daß durch die rigorosen Bestimmungen des Gesetzes das Publikum in die Notlage kommen könnte, wenn ein ernster Krankheitsfall auf dem Lande vorkommt, nicht die nötige Hilfe zu erhalten. Wir haben versucht, dem im § 11, Absatz 2 Rechnung zu tragen, und hoffen, daß durch die dortige Ausnahmebestimmung den Bedürf nissen entsprochen wird. In der Kommission wird sich darüber reden lassen, ob man diese Vorschrift erweitern kann. Die Führung von Büchern ist für die Nichtapprobierten weder be sonders beschwerlich, noch entehrend. Was von ihnen verlangt wird, kann jeder anständige Mensch tun. Es ist notwendig, damit der Zweck des Gesetzes erreicht wird, damit diejenigen, die wirklich etwas auf dem Kerbholz haben, gefaßt und überführt werden können. Sollte es wirklich Vorkommen, daß sich ein Arzt erlaubt, Abschriften aus den Büchern zu nehmen und zu ver breiten, so wäre das ein grober Unfug, den ich nur brandmarken könnte. Was die Ärztinnen betrifft, so sind von Reichs wegen beide Geschlechter gleichberechtigt. Die Approbation kann unter Umständen auch dem approbierten Arzt entzogen werden; des wegen sind die nichtapprobierten nicht schlechter gestellt. Der Ausdruck »Kurpfuscher« ist grundsätzlich im Gesetz vermieden. Das Geheimmittelwesen ist bisher durch übereinstimmende Ver ordnungen der Landesregierungen geregelt. Es wurde zuerst 1902 ein Geheimmittelverzeichnis aufgestellt und 1907 revidiert. Es hat sich tatsächlich herausgestellt, daß eine ganze Anzahl neuer Mittel aufgetaucht sind, die straflos bleiben. Wir wünschten aber, dem Reichstag bald eine reichsgesetzliche Grundlage zu geben, und haben deswegen eine weitere Revision einstweilen ausgesetzt, um so bald als möglich das Gesetz einzubringen. Daß das frühere Verzeichnis ungesetzlich gewesen ist, vermag ich nicht zuzugeben; jedenfalls hat noch kein Gericht diese Verbote für ungesetzlich er klärt. Die Vorwürfe, die der Abgeordnete vr. Müller-Meiningen gegen die Rückständigkeit der Zusammensetzung der Kommission erhoben hat, muß ich dahin berichtigen, daß die Begutachtung von Geheimmitteln geschehen ist durch den Neichsgesundheitsrat, und daß auch Vertreter der chemischen Industrie zugezogen worden sind; denn so verständig sind wir doch, daß wir, wenn wir Ver ordnungen machen, sie nicht am grünen Tisch machen, sondern auch die Leute zuziehen, die uns belehren können. Die chemische Industrie braucht wirklich nicht bange zu sein, wenn ihr durch diese Geheimmittelliste vielleicht ein paar gesundheitsschädliche Kosmetika verboten werden. Wir erkennen die großen Verdienste der chemischen Industrie voll an; aber gerade eine so große und mächtige Industrie wird diesen Schaden wohl überstehen können. Daß das Verfahren vor der Kommission verbesserungsbedürftig