Volltext Seite (XML)
299. 27. Dezember 1S10. Nichtamtlicher Teil. Börsenblatt f. d. Dtschn. Buchhandel. 15859 (von JonquiereS) ist, erkennen wir an, aber auch der bisherige Zustand war nicht derart, daß die Interessenten ungehört blieben; Sache der Kommissionsberatung wird es sein, hier genauer zu prüfen. Wollen Sie jedoch die ordentlichen Gerichte vor die Entscheidung stellen, ob z. B. Brandtsche Schweizerpillen ein Geheimmittel sind oder nicht, so verlangen Sie Unmögliches. Der Gesetz entwurf verfolgt einen guten Zweck, er hat seine gute Be gründung und ist nicht getragen von dem Bestreben, einen Stand im Erwerbsleben zu bevorzugen und andere berechtigte Erwerbs zweige zu unterdrücken. Unterdrückt werden sollen nur Auswüchse. Ich hoffe, daß es dem Reichstage trotz starker Belastung mit gesetzgeberischen Aufgaben gelingen wird, die Vorlage noch in dieser Session zur Verabschiedung zu bringen. Abgeordneter vr. Urning (nl.): Einige Äußerungen des sozialdemokratischen Redners erfordern doch eine Abwehr, auch vom ärztlichen Standpunkte aus. Er sprach von gewissen Ver fehlungen der Arzte, von Betrugsfällen usw. Das geht doch zu weit. Mit demselben Recht könnte man jeder einzelnen Fraktion im Reichstag vorzählen, wie viele Leute ihrer Partei wegen dieses oder jenes Vergehens bestraft worden sind. Bei dem sogenannten Arztestreik handelte es sich nur um eine Verweigerung der ärztlichen Hilfe auf Grund des Kassenscheins, nicht um eine Verweigerung der ärztlichen Hilfe an sich. Dies würde ich selbst entschieden verurteilen. Wie man auf Grund dieses Gesetzes die Ausübung der ärztlichen Frauenpraxis sollte verhindern können, verstehe ich nicht. Ich selbst bin ein großer Freund des Studiums der Frau, vor allem des medizinischen Studiums. In den Streit, ob Naturheilkunde oder nicht, will ich mich nicht ein- mischen. Als ich anfing zu studieren, wurde uns von den Pro fessoren eingeprägt, daß es mit der Medizin allein nicht geht, sondern daß vor allem die Natur helfen muß. Wissenschaft und Natur müssen Zusammengehen. Wenn hier von Reichs wegen ver langt wird, daß derjenige, der die ärztliche Tätigkeit ausübt, eine große allgemeine Bildung besitzen muß, dann kann man auch verlangen, daß ihm eine gewisse Bevorzugung zuteil wird. Schaffen Sie doch ein Gesetz, daß sich jeder auf die leidende Menschheit stürzen kann, und Sie werden bald einsehen, wie ge fährlich das ist. Der ärztliche Beruf ist eine Kunst und nicht allein eine Wissenschaft. Der Arzt muß zu einem gewissen Grade das ganze Gebiet der Naturwissenschaften beherrschen. Aus den Reihen der Arzte ist auch einmal ein preußischer Minister hervorgegangen. Auch der berühmte Naturwissen schaftler von Haller war Mediziner, ebenso der berühmte Physiker von Helmholtz. Anderseits gebe ich gerne zu, daß auch Nicht mediziner unter Umständen auf gewissen Gebieten der Medizin Gutes leisten können. Ich will keine Namen nennen, um niemand zu übergehen, aber diese Leistungen beziehen sich nur auf ein ganz beschränktes Gebiet. Es ist vor allem ein großes allgemeines Wissen notwendig, um die ärztliche Kunst aus- zuüben. Nun ist ja bekannt, mit welcher mangelhaften Vor bildung manche Heilbeflissene auf die Menschheit losgehen. Es gibt Leute darunter, die nicht einmal eine ordentliche Volksschulbildung besitzen. Mir ist ein Fall bekannt, wo ein solcher einem Hausbesitzer, den er mit »Doktor der Schemie« anredet, vorschlägt, mit ihm zusammen ein Kompagniegeschäft zu machen. Es befinden sich auch unter diesen Leuten solche, die straffrei ausgegangen sind, weil sie für geistig minderwertig erklärt wurden. Wie sehr die maßlosen Reklamen der nichtappro- bierten das Heilgewerbe Ausübenden für Gesundheit und Geld beutel des Publikums schädlich wirken, brauche ich nicht weiter aus zuführen. Bisher haben wir eigentlich gehört, ein bißchen Kur pfuscherei ist ganz schön, und ich glaube privatim, daß hier eine ganze Anzahl von Mitgliedern sind, die schließlich auch einmal zum Kurpfuscher gehen. Wir müssen aber gesetzliche Maßnahmen ergreifen, nicht etwa im Interesse des Arztestandes; denen, die nicht alle werden, kann nur durch Gesetzesvorschriften geholfen werden, denn es handelt sich hier nicht um die Schädigung des einzelnen, sondern der Volksgesundheit. Die Arzte sind den Kur pfuschern gegenüber vielfach benachteiligt. Wenn ein Kurpfuscher angeklagt wird, so ist das für ihn, selbst wenn er verurteilt wird, eine Reklame. Aber ein Arzt verliert in solchem Falle, selbst wenn er freigesprochen wird, seine Praxis. Im übrigen glaube ich, daß die völlige Aufhebung der Gewerbefreiheit mehr schaden (Or. Urning) würde, als die jetzt bestehende volle Gewerbefreiheit. Der Ab geordnete Müller-Meiningen hat sich dagegen gewandt, daß jetzt auch die Fahrlässigkeit unter Strafe gestellt werden soll, zumal dies auch für die Presse nach neueren Kammergerichtsurteilen verhängnisvoll werden kann. Es ist aber gar nicht anders mög lich, als daß man scharf vorgeht, denn Geldstrafe verfängt bei den Kurpfuschern nicht. Ich möchte bei dieser Gelegenheit noch hervor heben, daß Professor Ehrlich durch seine bekannte Entdeckung die deutsche medizinische Wissenschaft an die Spitze der Wissenschaft der ganzen Welt gestellt hat. Wir glauben, daß eine Kommission von 21 Mitgliedern genügt, da noch eine große Zahl anderer Kommissionen zu besetzen sind. Abgeordneter vr. .Höffel (Rp.): Gerade die Arzte sind 1869 für die Kurierfreiheit eingetreten. Man glaubte, daß man die Kurpfuscherei, die bis dahin heimlich ausgeübt wurde, ihres Nimbus, der sie dadurch umgab, berauben könnte, und daß die allgemeine Bildung das Volk vor Schaden bewahren würde. Diese Voraussetzungen haben sich nicht bestätigt. Die große Zahl der Kurpfuscher, die enorme Schriftenverbreitung und die Straf fälle beweisen die Notwendigkeit eines gesetzgeberischen Vorgehens. Es handelt sich vor allem darum, daß eine gute Kontrolle aus geübt wird. Auch das Geheimmittelunwesen hat in ganz außer ordentlicher Weise zugenommen, sowohl hinsichtlich der Zahl der Mittel, als der Personen, die sie vertreiben. Über Einzelheiten werden wir uns in der Kommission verständigen. Abgeordneter Lattmann (wirtsch. Vgg.): Nach dem Verlauf der bisherigen Verhandlungen könnte man einen Preis für den jenigen aussetzen, der schon etwas Gewisses über das Schicksal des Entwurfs zu bekunden imstande wäre. Es wird alles von der Kommissionsberatung abhängen. Die Notwendigkeit, die aufgetretenen Unzuträglichkeiten, soweit sie tatsächlich dringend Remedur erheischen, auf gesetzgeberischem Wege zu beseitigen, gibt einen gemeinsamen Boden für die Kommissionsarbeit ab, an der wir freudig Mitarbeiten werden. Hierauf wird die Fortsetzung der Generaldiskussion auf Donnerstag 1 Uhr vertagt. Deutscher Reichstag. 91. Sitzung vom 1. Dezember 1910. Fortsetzung der Ersten Beratung des Entwurfs eines Gesetzes gegen Mißstände im Heilgewerbe. Abgeordneter vr. Mayer-Kaufbeuren (Zentr.): Die Vorlage bezweckt eine Einschränkung der aktiven und passiven Kurier freiheit. Das bedeutet vielleicht eine Einschränkung der bürger lichen Freiheit; es kommt das Recht der Persönlichkeit, das Recht auf den eigenen Leib in Frage. Daher erscheint mir die gestern vertretene Auffassung, daß bei der beabsichtigten gesetzgeberischen Regelung in erster Linie die Interessen der Patienten maßgebend sein müssen, noch zu eng. 1869 wurde das bis dahin bestandene Kurpfuschereiverbot aufgehoben. Es wird nun erklärt, die damals gehegten Erwartungen seien nicht in Erfüllung gegangen, es sei eine grundsätzliche Änderung notwendig. Wir erkennen an, daß Mißstände vorgekommen sind, und daß sie sich in den letzten Jahren häufiger gezeigt haben; wir sind also gern bereit, an einer Änderung im Wege der Gesetzgebung mitzuarbeiten. Aber es darf sich auch wirklich nur um die Bekämpfung offenbarer Miß. stände handeln und um nichts anderes. Der Begriff der Kur- Pfuscherei muß näher definiert werden; die Vorlage begrenzt ihn nur negativ und geht dabei weit über das Ziel hinaus. Ich stehe auf dem Standpunkt, den einmal ein Arzt vertreten hat: Arzt ist der, ob approbiert oder nicht, der heilen kann, Kurpfuscher der, der nicht heilen kann. Daß es auch unter den Laien große Könner auf dem Gebiete der Heilkunde gegeben hat und gibt, kann nicht geleugnet werden. Professor Kußmaul hat einmal gesagt, eine richtige Hygiene unter Anwendung von Wasser wäre imstande, zahlreiche akute und chronische Krankheiten zu heilen. Wir müssen dafür sorgen, daß solchen auch nicht approbierten Ärzten das Heilgewerbe durch dieses Gesetz nicht unmöglich ge macht wird. Nicht unbedenklich ist ferner, daß eventuell auch die charitativen Bestrebungen unter dieses Gesetz fallen könnten, nämlich derjenigen Personen, die sich in der Krankenpflege be- 2055*