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Erst sahen Vater und Tochter sie verständnislos an. dann aber beugte Ilse sich voll tiefer Zärtlichkeit über die Hände ihrer Mutter. „Tn gutes, goldiges Mutti, jevt denkst du noch an den ireinden Jungen, der jedenfalls längst gestorben ist. was für ihn das allerbeste wäre —" „Nein, nein." wehrte Ottilie bebend. „Gut, so hoffen wir mit dir! Aber nun freue dich, Muttchen. daS ist ein Festtag heule, und er mns; gefeiert werden!" Auch Lukados (Gedanken beschäftigten sich jetzt ausschließlich mit seinem Sohn. Stolze Freude wallte in dem biederen, vornehm denkenden Manne empor, die Zukunft zeigte ein hellleuchtendes Vild, vor dem die Schatten einer fernen Vergangenheit entwichen. . >. Ein schwüler Tag im Juli wars. Tie Eltern hielten Mittagsruhe. Ilse aber stand hinter der Gardine ans einer Trittleiter und sah reglos nach dem Nachbargarten hinüber. Tort saß in seinem Fahrüuhl der alte Marwitz, der Vesitzer des Niltergutcs Blankenstein. Ilse konnte das eingesunkene Profil genau sehen, ein Knochengerüst, abschreckend in seiner Häßlichkeit. Tas Gesicht interessierte sie jedoch in diesem Moment absolut nicht. Sie gewahrte, daß der Gelähmte sich mit verzweifelten Anstrengungen bemühte, den Fahrstuhl dem Tuch näher zu bringen, am dem eine mit Kaffee gefüllte Tape stand. Es herrschte eine beklemmende Stille ringsum. Kein Wagen zn Horen, keine Fußgänger auf der verödeten Straße. Tie Bäume warfen nur spärlichen Schatten, und die fast senkrecht fallenden Sonnenstrahlen belästigten den Gelähmten offenbar sehr peinvoll. So reich war er. der ein same Mann, daß er einen ganzen Tienertroß rnn sich herum hätte haben können, und dort saß er verlassen, vergeblich bemüht, die Tasse zu erreichen, nm seinen anälenden Tnrst zn stillen. Lb eines der Näder defekt geworden oder sich ein Stein davor geschoben hatte, war nicht zn erkennen, jedenfalls aber ließ der Wagen sich nicht von der Stelle bewegen, alle Bemühungen des kranken waren umsonst. Endlich lehnte er sich erschöpft zurück, die Augen starr auf den erquickenden Trank vor ihm gerichtet. Ilse wurde es siedend heiß, als sie sich die Oualcn vergegenwärtigte, die der Aermste ausslehen mußte. Zudem belästigte ihn die Sonne mehr und mehr, sie hatte durch die Zweige des Apfelbaumes, unter dem der Wagen stand, au verschiedenen Stellen einen Unterschlupf gesunde». In fieberhafter Erwartung sah Ilse dem Moment entgegen, wo der Hilflose aus seiner unerträglichen Lage erlöst werden mußte. Doch niemand kam. Ta war ein junges Mädchen, anscheinend eine Verwandte des alten Marwitz, welche ihn Pflegte, wenn man die Art, wie sie ihm behilflich war, so nennen durfte. Aber sie war Tag nm Tag hier, hatte offenbar die-Oberleitung der Wirt- schast und auf ihre ganze Umgebung dort drüben, trotz ihrer Unfreundlichkeit, mit der sie allen begegnete, großen Einfluß. Heute wurde Helene — die beobachtende Ilse hatte den Rufnamen oft genug gehört — nicht sichtbar, soviel der Kranke sowohl wie das junge Mädchen auch spähten. An dem Fahrstuhl war eine Klingel befestigt, ob der alte Mann sich nun scheute, die tiefe Stille zu unterbrechen, oder ob er sich im Augenblick an dieses Hilfsmittel nicht erinnerte, mag dahingestellt bleiben, jedenfalls be diente er sich desselben nicht. Ilse aber bemerkte mit wachsender Erregung, wie sein eingesunkener Mund sich öffnete und wieder schloß, und der Kopf des alten, welcher dem Verschmachten nahe sein mochte, zur Seite sank. Einen Menschen so grausam leiden zu lassen, ohne sich helfend zn be tätigen, wäre Ilse unmöglich gewesen. Ohne weiter zn überlegen, war sie von der Trittleiter herab, öffnete vorsichtig die zum Hof führende Tür, um niemand zu stören, und eilte über den Hof auf die Straße. Einige Minuten später stand sie im Nachbarsgarten. Zum erstenmale sah sie das Greisenantlitz ans nächster Nähe, doch so abstoßend es auch er scheinen mochte. Ilse sah weder den wie Hohn und Bosheit erstarrten Mund, noch die von Gicht gekrümmten, spinuenartigen Finger. Nichts wie tiefe Barmherzigkeit, ein ans dem Urquell emporslntendes Mitleid prägte sich in ihrem lieblichen Gesichtchen aus. Es war ein, durch die Gegensätze geradezu überwältigendes Bild, dieses holdselige, junge Wesen in dem weißen, duftigen Gewände, mit dein schönen Köpfchen, ans dem die blauen Angen wie versöhnliche Sterne leuchteten, und jener vorzeitig gealterte Mensch mit dem gierigen, scheuen Blick der katzen artigen Augen, dein zahnlosen, verzerrten Mund, nm den die Leidenschaft für das unselige, tote Gold zahllose entstellende Falten geprägt hatte. Was aber Ilse auf einen Fleck bannte, das war der unbeschreibliche Eindruck, den ihr Erscheinen auf den Besitzer von Blankenstein hervorbrachte. Aus diesen Augen blitzte es ihr wie Haß und Empörung entgegen, und der lechzenden Zunge entrang sich ein Wort, das Ilse vollkommen ver wirrte: „Ottilie!" Marwitz hatte den Namen mit einem Gemisch von Freude und Schmerz gerufen, und wie verzaubert sahen seine alten Augen auf das rosige, junge Gesicht. Allmählich aber verdüsterte sich der Ausdruck desselben, und nun hatte Ilse das entsetzliche Gefühl, als würde jener Mensch sich wie ein Wahn sinniger auf sie stürzen, wenn er die Kraft dazu besessen hätte. Mechanisch griff sie nach der Kaffeetasse und ließ den Durstenden trinken. Er war ja hilflos, sie hatte nichts von ihm zu fürchten. Und doch konnte sie sich eines heimlichen Grauens nicht erwehren. „Haben Sie denn meine Mutter gekannt?" staunte sie, sich der Frage kaum bewußt werdend. Marwitz lachte in seiner hämischen Weise in sich hinein. „Gekannt, o, ja wohl." die grünlichen Augen sprühten Zornesblitze, „leider zn spät erkannt, die — die Schlange —" So war es Ilse nie vorher zu Mute gewesen — etwas in ihr zer sprang. Sie fühlte es ganz deutlich, daß sie bis zu dieser Stunde ein harm loses Kind gewesen war, trotz Staatsexamens und eines reichen Wissens. Die Mutter war für sie die Unerreichbare gewesen, und dieser Krüppel klagte sie an, grollte ihr heimlich, beschwor vielleicht täglich Böses aus sie herab.