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Nr. 233. — 8. Jahrgang. Der jeden Wochentag Abend (mit Datum des folgende» Tages) zur Versendung gelangende „Sächsische Lanves-Anzeiger" mit täglich einem Exlra-Beiblatt: 1. Kleine Botschaft L. Sächsischer Erzähler 3. Sächsische GcrichtSzeitung 4. Sächsisches Allerlei 5. Illustrirtes Untcrhaltungsblatt 6. Sonntagsblatt 7. LnstigeS Bilderbuch lostet bci de» Ausgabestellen monatlich 70 Pia., bei de» Post-Anstalten 75 N' (Post-Zeitungs-Preisliste Nr. 6035.) Sächslscher jilMs-Allskilier. Unparteiische tägliche Zeitung für Sachsen und Thüringen. Verlags-Expedition: Alexander Wiede, Buchdruckerei» Chemnitz, Theaterstratze Nr. 5. Fernsprech'Anschluß Nr. 136. — Telegramm-Adresse: Landes-Anzeiger, Chemnitz. Freitag, 5. Oktober 1888. Von den Hauptblättern de» „Sächsischen Landes-AnzeigerS" erscheint (ohne dessen tägliche Extra-Beiblätter) eine billigere Sondcr-AuSgabe unter den, Titel: Chemnitzer General-Anzeiger für monatlich nur SO Pfg. mit Zutragen: außerhalb Chemnitz nionatl. 57 Pf. m. Ztr. (Zeitungs-Preisliste 3. Nachtr. Nr. 1250».) Für Ab onnen ton erscheint je einmal im Jahr Sommer-Kisenbahnsahrplanheft für Suchst«: »inttr.Eiskiidahiifahrltianhest für Sach e»- Jllustt. Kalender de» Sächsischen Landboten. Illustrirtes ZahresbuchdesLandeS-Anzeiger-. Anzeigenpreis: Raum einer schinalc» Corpuszeile 15 Pfg. — Bevorzugte Stelle (ispaltige Petitzeile) 30 Psg. — Bci Wiederholung großer Anzeigen Preisermäßigung. — Bei Bestellungen von Auswärts wolle man den Einriickungsbetrag (in Briesniarkcn) beifügen tje 8 Silben Cvrpusschrift bilden ca. 1 Zeile.) — Anzeigen könne» nur bis Vormittag angcnoinnien werden, da Druck »nd Verbreitung der großen Auflage längere Zeit erfordern. — " ----- — Mer General-Anzeiger" (billigere Sonder-Ausgabe der Hauptblätter des „Sächsischen Landes - Anzeigers ohne dessei Tie Anzeigen finden ohne PreiSaufschlag gleichzeitig Verbreitung durch de» „Chemnitzer ssen tägliche Extra-Beiblätter.) Amtsgerichtliche Bekanntmachungen. Im Handelsregister für den Stadtbezirk des Unterzeichneten Amtsgerichts wurde heute aus Folium 68 verlautbart, daß die Kaufleute Herr Johannes Max Philipp und Herr Victor Oscar Philipp, Beide in Chemnitz, die Firma Bernhardt L Philipp daselbst von dem bisherigen Inhaber derselben, dem Fabrikant Herrn FerdinandAlbrrt Philipp, zur Fortführung übernominen haben- Chemnitz am 27. September 1888. Königliches Amtsgericht. Telegraphische Nachrichten. Vom 3. October. Wien. Im Brünner Landtage verließen die Tschechen mit Bischof Bauer und dem Grafen Belcredi an der Spitze bei der Abstimmung über die Resolution gegen die Aenderungen des Volks- schulgesetzes die Sitzung. Die Resolution wurde angenommen. Die Mittelpartei verblieb im Saale und ermöglichte die Beschlußfähigkeit. Nach der Abstimmung erschienen die Tschechen wieder im Saale. — Die zahlreichen wegen Begnadigung Schönerer's an die Kabinett kanzleides Kaisers gerichteten Gesuche wurden durch das Wiener Landes gericht als nicht berücksichtigcnswerth zurückgeschickt. Wie Schönerer's Blatt meldet, haben sich verschiedene Seiten auch an den deutschen Kaiser und den Fürsten Bismarck um die Befürwortung der Be gnadigung Schönerer's gewendet. (!) Budapest. Die kroatische gemäßigte Opposition beabsichtigt, ihre Mandate demonstrativ niederzulegen und die Partei aufzulösen, und zwar wegen der Zurechtweisung, welche dem Bischof Stroßmayer zu Theil geworden. Vom 4. Oktober. Wien. Bei dem gestern stattgehabten glänzenden Hofkonzert beehrte Kaiser Wilhelm, die Kaiserin Elisabeth am Arm führend, mehrere Persönlichkeiten mit Ansprachen und dankte nach dem Konzert den Künstlern, während die Kaiserin Elisabeth den Grafen Herbert Bismarck durch eine fast halbstündige Unterredung auszeichnete. Kaiser Franz Joseph hatte auch eine Unterhaltung mit Herbert Bis marck, Kaiser Wilhelm unterhielt sich während des Konzertes mit den anwesenden Botschaftern, der Gemahlin des englischen Botschafters und dem Grafen Kalnoky, nach dem Konzerte mit Galimberti. Nachmittags empfing Kaiser Wilhelm zuerst Kalnoky, dann Tisza in längerer Audienz, während Kaiser Franz Joseph gleichzeitig den Grafen Herbert Bismarck empfing. Am Hofconcerte »ahmen auch theil Cardinal Ganglbauer, Fürst-Erzbischof Schönborn und zahlreiche andere Prälaten und Bürgermeister Uhl. Paris. Das „Journal offiziell" veröffentlicht ein Decret be treffs der in Frankreich Wohnenden. — Ein großer Theil der Um gegend von Lyon ist überschwemmt. Auf der Bahnstrecke Lyon-Genua sind Verkehrsstörungen eingetreten, der Schaden ist beträchtlich. Politische Rimdscha»«. Chemnitz, den 4. October. Deutsches Reich. Nach einem Aufenthalt von nur 24 Stunden hat der Kaiser der bayrischen Hauptstadt den Rücken gewendet und seine Reise nach Wien fortgesetzt. Das überreiche Reiseprogramm gestattete keinen längeren Aufenthalt an der rauschenden Isar, noch weit ist der Weg, welchen der Monarch zurückzulegen hat, noch harren seiner viele Ovationen, wenn sie auch nicht herzlicher sich ge stalten können, als sie es in München und früher in Stuttgart und am Bodensee waren, Allerdings sind in München alle rauschenden Festlichkeiten unterblieben. Zu der Trauer des Kaisers kam noch die Sorge in der bayrischen Königsfamilie um die Plötzlich sehr erkrankte Prinzessin Ludwig, die Gemahlin des ältesten Sohnes des Regenten Prinz Luitpold, aber der von Herzen kommende Volksjubel hat den Kaiser gewiß viel mehr befriedigt, als alle Feste es hätten thun können. Der Einzug am Montag Abend, der Zapfenstreich mit den Der Geistersee. Original-Novelle von Gustav Höcker. Fortsetzung. Nachdruck verboten. Er dachte viel an die Zeiten zurück, wo er gestrebt und gehofft hatte; halb vergessene Entwürfe zn kühnen Kompositionen tauchten in seiner Erinnerung auf und die ehemalige Lust und Freude, die er daran gesunden, verjüngte sich in seiner Künstlerseele. Er erbrach die verstaubten Kisten, in denen er seine Studien und Skizzen eingesargt hatte; er holte seine Staffelei aus der Rumpel kammer und begann wieder zu malen. — aber wenn er eben warm wurde und im besten Zuge war, da schlug die Uhr, da mußte er zu Hut und Stock greisen und mit dem Strome der Handlungsdiener und Fabrikarbeiter die verräucherten Gassen dahinschreiten, um pünkt lich im Zeichcnsaale zu erscheinen. Er wurde unzufrieden mit dem Zwange seiner Stellung und den nüchternen Pflichten der Brotarbeit, die er vielleicht erträglich, ja süß gefunden hätte, wenn ihm Vater- freudeu beschieden gewesen wären, die ihm zugleich die Sorge für die Zukunft geliebter Kinder auferlegten. Mit der Unzufriedenheit schlich sich ein finsterer Geist des Mißtrauens über ihn. Nie kam ein Wort des Widerspruchs über Klairisses Lippen, wenn Zelter, der unzureichenden Muße der Woche nachhelfend, ganze Sonntage an seiner Staffele! zubrachte, und dennoch bildete er sich ein, als ob Klairisse sich dadurch verkürzt oder vernachlässigt fühle, als ob sic mit stillem Bangen seine wieder erwachte Lust am künstler ischen Schaffen beobachte oder als ob sie die Rückkehr zur Muse, die er einst verdammt und verstoßen, als eine Schwäche beseusze, vielleicht sogar belächle. Nichts konnte Klairisse unwürdiger sein, als dieser Verdacht, und dennoch vermochte sich Heinrich desselben nicht zu er wehren und der schlimme Geist des Mißtrauens, der ihm eingab, sein Weib stehe seiner Kunst feindselig gegenüber, wurde oft so mächtig in ihm, daß er Pinsel und Palette fortwars und das begonnene Bild von oben bis unten zerschnitt, ohne daß Klairisse ihn bewegen konnte, den Grund dazu anzugebcn. Diese Gcmüthsstiinmung griff immer weiter um sich, gleich einer fressenden Krankheit. Mit seinem wiedcrerwachten Schaffensdrange rentc sich auch der Ehrgeiz in ihm. I» dieser Stadt kannte und be trachtete man ihn nur als Zeichenlehrer. Die Leute sollten aber wissen, was er konnte und was er einst geleistet. Er fing an, von enthusiastischen Bolksovationen, die Rundfahrt durch die Stadt und endlich die Abreise am Dienstag Abend, das waren köstliche Augen blicke, und der Kaiser hat auch für all diese Liebe Worte herzlichen Dankes gehabt. Am Mittwoch Vormittag ist Kaiser Wilhelm in Wien eingetroffen, und es war Alles geschehen, den Empfang zu einem würdigen zu machen. Die vom Wcstbahnhof zur Hofburg führende Mariahilferstraße war prächtig decorirt. Von Fahnenmasten und den Dächern der Häuser wehten Fahnen in den deutschen Reichs farben und in den österreichischen und ungarischen Farben, nur schwarzrothgoldene Fahnen waren polizeilich streng verboten. Seit dem frühesten Morgen durchwogten viele Tausende die Straßen, kein Fenster war unbesetzt. Der Westbahnhof war ausschließlich für den Hof und die Staatswürdenträger rcservirt. Die Halle war mit Fahnen, Blumen, Blattgewächsen decorirt. Um 8 Uhr traf die Ehrencompagnie ein, während die Straßen bis zur Hofburg von 21 Bataillone» Infanterie besetzt wurden. Vor dem Burgflügel, in welchem die Gemächer Kaiser Wilhelms liegen, hatte das Husaren regiment seinen Ehrenposten. Auf dem Bahnhof versammelten sich Minister, Behörden und die Erzherzöge, an der Spitze der Kronprinz Rudolph. Um »/zsi Uhr erschien Kaiser Franz Joseph auf dem Bahnhof und begab sich sofort mit den Erzherzögen auf den Perron; der Monarch trug preußische Uniform ebenso wie die Prinzen, dazu das Baud des Schwarzen Adlerordens. Bei Heraunahcn des kaiser lichen Extrazuges auf dem Wiener Bahnhof stimmte die Kapelle die deutsche Nationalhymne an, die Fahuen senkten sich, Kaiser Franz Joseph legte die Hand an den Helm und ging, sobald der Zug still stand, zu dem Salonwagen, auf dessen Tritt der Kaiser Wilhelm in der Oberstcn-Uniform seines österreichischen Infanterie-Regimentes stand. Beide Kaiser küßten und umarmten sich auf das Herzlichste. Der Kaiser Wilhelm schritt hierauf, von dem österreichischen Monarchen begleitet, auf die Gruppe der Erzherzöge zu, tauschte mit dem Krön Prinzen Rudolph und den Erzherzögen Karl Ludwig und Albrecht Küsse und reichte jedem der übrigen Erzherzöge zur Begrüßung die Hand, während Kaiser Franz Joseph dem Botschafter Prinzen Reuß und dem Grafen Herbert Bismarck die Hand reichte. Nach Ab- schreitung der Ehrencompagnie folgten di« Vorstellungen der deutschen Deputationen durch den Botschafter Prinzen Reuß. Arm in Arm verließen die Majestäten, gefolgt von den Erzherzögen und ihrem Gefolge, unter stürmischen Zurufen der Volksmenge das Bahnhofs gebäude und traten die Fahrt in die Burg an. Die Huldigungen der nach vielen Tausenden zählenden, auf den Straßen angesammelten Bevölkerung gestalteten die Fahrt durch ihren Enthusiasmus zu einem wahren Triumphzuge. Inmitten unaufhörlicher brausender Hurrah und Hochrufe gelangten beide Herrscher bis zum Rellavia-Flügel der Hofburg, wo die Kaiserin Elisabeth den hohen Gast erwartete nud willkommen hieß. Das Wetter war prächtig, keinerlei Störung ist in den Straßen vorgekommen. Alle Blätter sind darin einig, daß der Empfang des deutschen Herrschers ein außerordentlich herzlicher war. Am Abend war Familiendiner in der Hofburg, an welcher alle Fürst lichkeiten theilnahmen. Das Diner trug vollständig den Charakter eines Familienmahles. Später fand Hofconcert statt. Am Freitag trifft der König von Sachsen in Wien ein; vom Sonnabend bis zum kommenden Dienstag finden Hochwildjagden in Steiermark statt, wo hin am Freitag Abend aufgebrochen wird. Nächsten Mittwoch früh erfolgt die Abreise nach Rom. — Wie aus Kiel gemeldet wird, statteten die Kaiserin Friedrich und Prinz Heinrich am Dienstag Nachmittag dem 2 Meilen von Kiel entfernten Kloster Preetz einen Besuch ab. Die Kaiserin blieb längere Zeit in der alten Kirche und spielte dort die Orgel. Am Mittwoch besuchte die Kaiserin das deutsche Panzerschiff „Kaiser" und das englische Flaggschiff „Active." — In Sachen der Tagebuch-Publikation wird noch bekannt: Man hört, daß die Regierung eine Liste aller Personen besitze, welche vom Kaiser Friedrich eine Kopie seiner Tagebücher erhalten haben, ubli- ferner, daß auf Befehl des Kaisers, dem in erster Linie das P lätionsrecht zusteht, auf Mittel und Wege gedacht wird, jene Ex flare einzuziehen und sie dem königlichen Hausarchive einzuverleiben. §twa 30 Kopieen der Tagebücher sollen ausgegeben sein. Unrichtig ist, daß zwischen Kaiser Wilhelm und dem Reichskanzler eine Meinungs verschiedenheit über die Verfolgung der Angelegenheit bestanden hat, ebenso, daß vr. Gefscken nicht ganz zurechnungsfähig sein soll. Daß Gesscken eine sehr nervöse Natur ist, darf freilich als Thatsache gelten. Richtig ist, daß Geffcken's Verwandte sich beim Fürsten Bismarck um die Freilassung des Verhafteten bemüht haben. Die Versuche blieben indessen erfolglos, vr. Gcffcken dürfte in nächster Zeit im kleinen Männergefängniß in Alt-Moabit bci Berlin eintreffen. Das Reichsgericht, bei welchem die Sache schwebt, hat bereits einen Landrichter >»it der Untersuchung betraut. — Das Reichstagsmandat Breslau-West ist durch den eben erfolgten Tod des Rcichstagsabgeordneten und sozialdemokratischen Führers Kräcker frei geworden. Kräcker litt schon lange am Darm krebs und wurde wegen Verschlimmerung seiner Krankheit vor einigen Wochen auS dem Gesängniß entlassen. — Die schlimmste Nachricht, welche in den letzten Tagen aus Zanzibar eiugegangen ist, ist die, daß die Aufständischen -sich weigern, fortan die Autorität des Sultans an der afrikanische» Küste anzu erkennen. Damit ist jede Expedition ins Innere des Landes gewaltig erschwert, denn wenn auch der Sultan in Jnnerafrika nicht- direct zu befehlen hatte, so wurden doch seine Gelcitscheine von de» arabischen Häuptlingen des Binnenlandes bereitwilligst acceptirt. Ohne solche Geleitscheine sind die Forschungsreisenden aber schutz- uud machtlos. Die Wiederherstellung der Ordnung und der Autorität des Sultans liegt also ebenso sehr im englischen, wie im deutschen Interesse, und die Briten haben nicht den geringsten An'aß, sich über die momentane Verlegenheit der deutschen ostafrikanischen Expedition die Hände zu reiben. Wer weiß, was ihnen noch in ihrem Gebiet bevorstcht. Oesterreich-Ungarn. Alle Wiener Blätter bringen außer ordentlich sympathische Begrüßungs-Artikel zur Ankunft Kaiser Wilhelms. Das „Fremdenblatt" sagt, der Kaiser sei der hohe Repräsentant der Generation, für welche Deutschlands Wiedergeburt und die vorhergegaugenen Kämpfe den Ruhm der Väter bilden. Der Aufenthalt in Wien beweise, daß die Monarchen, ohnehin über die Ziele ihrer Politik eines Sinnes, durch den persönlichen Verkehr und Gedankenaustausch nur neuerlich jenem Bunde Vertiefung geben woll en, aus dem, wie aus einem allen Stürmen unnahbaren Walle, der Friede ihrer Völker und Europas fußt. Die „Neue Freie Presse" bezeichnet den Besuch des deutschen Monarchen als »och etwas Anderes als bloßen Höflichkeitsacl; er bedeute ein feierliches Be- kenntniß zu den Zwecken des Fricdensbundes, welcher Deutschland und Oesterreich umschlinge. Die „Presse" bringt Kaiser Wilhelm bewillkommnende Sympathieen dar, der Aufrichtigkeit und Freundschaft entsprechend, welche Kaiser Wilhelm mit sich bringe. Auch die Pester Blätter erblicken in dem Besuche eine Ncukräftigung des Friedensbundes. Die ungarische Nation schließe sich ans vollem Herzen allen Kundgebungen der Verehrung und der Sympathien an, welche dem jugendlichen Herrscher als Friedensfürstcn und Ver bündeten überall dargebracht würden. Der Pester „Lloyd" sagt: „Uns beseelt die Neberzcugung, daß das deutsche Reich und Oester reich Ungarn in den Tagen der Prüfung einig und unzertrennlich sein werden in der Vcrtheidigung gegen jede Gefahr." Irgend etwas Neues bieten die Begrüßungs-Artikel also in keiner Weise, aber sie sind doch sehr gut gemeint. Frankreich. Boulanger wird auch wieder von sich hören lassen. Ende der Woche gedenkt er bci einem ihm zu Ehren gegebenen Bankett eine Programmrede zu halten und die vom Minister Goklet, letzthin wider ihn erhobenen Angriffe zurückznweisen. — Das Freinden- dekret hat im Auslände, besonders auch in Brüssel, eine» sehr den Bildern zu sprechen, die er gemalt halte, und merkte doch, daß ihm niemand glaubte, niemand ihm etwas besonderes zutraute, ja, daß er sogar in den Geruch eines Prahlers kam und man sich endlich lächelnd zuflüsterte, er leide an „Größenwahusiun". Das verbitterte ihn nur noch mehr. Man verstand ihn nicht oder wollte ihn nicht verstehen und so sollte die Gesellschaft fühlen, daß er sie verachtete. Zuerst überwarf er sich mit seinen Kollege» von der Gewerbeschule, die er für pedantische Schulmeister erklärte, dann empörte er sich gegen das Joch der Unterordnung, dem er sich sonst gelassen gefügt hatte, und machte dem Vorstande der Anstalt Opposition. Zuletzt ward ihm die ganze Stadt verhaßt, die für eine Künstler- secle weder Anregung noch Vcrständniß besaß; er schimpfte über ihren Schmutz und Rauch, spottete über die Verkehrtheit ihrer Einrichtungen, über die Architektur ihrer öffentlichen Gebäude, zog schonungslos über die Einseitigkeit des Fabrikantenstandes her und sprach von erbärm lichen Krämerseelen. Er fand auch bald einige Gesinnungsgenossen, die ebenfalls zu den negativen Geistern gehörten und mit der Gesell schaft in beständiger Fehde lebten, aber nicht, weil sie die Kraft eines mächtigen Genius in sich fühlten, dessen gefesselte Schwingen vergebens nach dem freien Aether strebten, sondern weil sie in dem durchbohren den Gefühl ihrer Ohnmacht, Unbedeutenheit und Unfähigkeit den Erfolg und das Verdienst an anderen nicht zu ertragen vermochte». Mit zerfleischendem Spott fielen sie über alles her und dieser Ton wie die Gefährlichkeit ihres von allen gemiedenen Umganges war es, von dem sich Heinrich in seiner verbitterten Gemüthsstimmung, in seiner gesellschaftlichen Jsolirtheit so angezogcn fand, daß er ihren: verderb lichem Einflüsse immer mehr verfiel und endlich sogar an ihren wüsten Kneipgelagen theilnahm. Klairisse litt unter dieser traurigen Wendung furchtbar. Ihre sanften Bitten und Vorstellungen fruchteten nichts. Heinrich glaubte, es sei ihr Hanptkummer, daß sich auch von ihr alles zurückzog, er glaubte zn ahnen, daß sie der Welt Recht gäbe, die sich so schwer an ihm verging. Er mied Klairisse, weil er Auseinandersetzungen scheute. Er fürchtete, von ihr de» Vorwurf zu hören, daß alles so gekommen sei, wie sie es ihm bei seiner Liebeswerbuug vorausgesagt hatte, und wollte ihr den traurigen Triumph nicht gönnen, daß sie mit ihrer Auslegung des Märchens vom Geistersce recht gehabt und er mit seinem Beweise des Gcgentheils schmählich Bankrott gemacht habe! So konnte cs geschehen, daß Glück und Zufriedenheit aus der einst so traulichen Heimstätte des jungen Ehepaares wichen und die Blumen vor den Fenstern verwelkten, wie Freude und Hoffnung i" dem schwergebeugten Herzen der unglücklichen Frau dahingewelkt waren- Oft trat der Gedanke an Klairisse Hera», ob nicht Heinrich mit Leopoldine Rothenhaag glücklicher geworden wäre. Sie fühlte sich darin nur bestärkt, als sie erfuhr, daß Leopoldine nach kurzer Ehe sich von ihrem Gatten wieder getrennt hatte. Ein Mann, dessen größter Vorzug sein Reichthnm war, hatte der geistigen Ueberlegenheit jenes Weibes unmöglich genügen können. Lcopoldinens leidenschaftlicher Natur hätte Heinrich eine ebenbürtige Machtsülle des Characters entgegenznsetzen gehabt, welche in ihrer edleren Veranlagung vielleicht zu Lcopoldinens Läuterung geführt haben würde, und sein strebender Ehrgeiz hätte an ihrer Seite die Förderung und Befriedigung gefunden, die das Lebenselcment seiner Künstlersecle bildeten. Wie schwer Klairisse sich hierin täuschte, wie sehr sie die Liebe ihres Gatten unterschätzte, wird sich aus dem Verlauf dieser Erzählung ergeben. Das öde Einerlei unserer Fabrikstadt sollte Plötzlich einen will kommenen Wechsel erfahren, wenn auch nur sehr vorübergehend. Vor dem Thorc draußen wurde auf einem geeigneten Platze aus Pfählen, Balken und Brettern ein Rundbau ausgcführt, dessen nach der Mitte spitz zulaufendcs Dach eine Flaggenstange krönte. Im Innern des geräumigen Bretlerbaucs wurde eine Reitbahn angelegt, rings um dieselbe erhoben sich, amphitheatralisch anfstcigcnd, die Sitze für eine zahlreiche Zuschauermenge und zwei mit dem Ganzen verbundene Seitenbauten bildeten Stallungen für Pferde und Gar- dervberäume für Küiistlerpcrsonal. Alt und Jung erwartete mit Ungeduld die Vollendung des Circus, in dem eine längst angckündigte amerikanische Kunstreiter- Gesellschaft Vorstellungen geben wollte. Endlich war alles zum Empfange der seltenen Gäste bereit und an demselben Tage, wo sich an dem Außcnbau eine Leinwand mit der Riescn-Jnschrift: „Circus Grant" entrollte und an dem Flaggen stock das amerikanische Sternenbanner emporflog, trafen die zwei- nnd vierfüßigcn Künstler mittels des unvermeidlichen „Extrazuges" ein, um Abends die Reihe der Vorstellungen unter zahlreichem Zu drange des Publikums zu eröffnen. Auch Heinrich befand sich mit Klairisse unter den Zuschauern und ließ sich von den Bravourstücken der phantastisch kvstümirten Reiter und Reiterinnen, von den Späßen der Clowns und den Gliv» -1 §