Volltext Seite (XML)
Es mag in der Tradition von Antrittsre den liegen, daß der Vortragende zu sei nem Fach Ausführungen macht, die ihn als fähig erweisen, methodologische Er wägungen anzustellen über das, was man fachlich denkt und tut. Ich glaube, Sie würden einen Psychia triefachvortrag in der gegenwärtigen Si tuation auch nicht als angemessen erle ben; dazu brennen uns zu viele Probleme auf den Nägeln, die mit der Umgestal tung unserer Lebens- und Arbeitsverhält nisse, mit der notwendigen postrevolutio nären Neukalibrierung der gesellschaftli chen Strukturen und unserem Verwoben sein mit der Vergangenheit und den Ansprüchen an Zukunft, die wir entwer fen wollen, Zusammenhängen. Trotzdem - meine Damen und Herren - wird Psychiatrisches durchschim mern. Wenn Sie mir darin folgen wollen, daß Psychiatrie Krankheit nicht als ein in dividuelles Phänomen versteht, sondern als eine Störung in Beziehungsgestaltung, wobei Beziehungen das Verhalten und Verhalten die Beziehungen modifizieren, dann kann ein solch allgemeiner Ansatz die Kuriositäten des Alltagslebens leicht in die Beleuchtung psychiatrischer Termi nologie geraten lassen - Verrücktheit zum gesellschaftlichen Ereignis werden. Nun vertrete ich aber nicht die Ansicht, wie manche Protagonisten der 1968er Studentenrevolte gegen das Establish ment, die Gesellschaft sei durch die Psy chiatrie zu reformieren; aber es kann u. U. nützlich sein, Einzelaspekte der Le benswirklichkeit auf ihre kommunikati ven und metakommunikativen Aspekte hin zu durchleuchten und widersprüchli che gesellschaftliche Prozesse als einer seits verunsichernd, andererseits auch entwicklungsdynamisierend zu artikulie ren. Ein Problem dabei scheint mir darin zu bestehen, daß wir in hohem Maße Po litik betreiben müssen, uns politisch aus einandersetzen müssen, mit einer Be griffswelt, die für uns verschlissen und obsolet erscheint, deren neue Semantik sich erst erschließen muß. Die Zeit des Stalinismus und Poststalinismus war m. E. unpolitisch, undialektisch und extrem aphilosophisch, obwohl sie in den Nebel einer pseudophilosophischen und pseu dopolitischen Begriffswelt gehüllt war. Diese Vernebelung der gesellschaftli chen Szene ließ zu, daß viel Unrecht ge schah, ohne daß es der einzelne wahr nahm bzw. wahrnehmen mußte; viele Psychiater wußten z. B. nicht, daß sich in manchen Anstalten unsauberes ereig nete, daß es Zwangsadoptionen gab u. v. a. m. Andererseits brachte die politische Vernebelung auch mit sich, daß viele re lativ ungeschoren und trotz eines großen Sicherheitsapparates auch undurch schaut, Alltagsleben im Sinne der Ver nunft gestalten konnten, gleichsam als eine Art Gesellschaft auf Tauchstation, in eigener Autonomie wirken und handeln konnten: was dabei herauskam - bezo gen z. B. auf eine medizinische Hoch schule - waren Ärzte, die in West und Ost als kompetent angesehen wurden, Publikationen, die Akzeptanz fanden, wenn Sie so wollen, mittleres, vernünfti ges normales Leben in Einzelbereichen. Menschen, die dieses mittlere Alltagsle ben realisierten und jetzt wehklagen, daß man sie doch so robust marktwirtschaft lich anfasse - auch und gerade Hoch schullehrer, Künstler und andere Intellek tuelle - verdrängen aber dabei zu leicht, daß es gerade dieses mittlere Gestalten, in gewissem Sinne jene Mittelmäßigkeit war, die große Würfe verhinderte und daß die Inseln des partiell Funktionieren- II den ten, ließ aber andererseits zu, sich Haltung« wurden. Erachten: Meines Erachtens gab es verschiedene , Meines Erachtens gab es in dieser Ge- veranlassen, etwas zu tun; dies führtepötigt and« nerseits zur Passivierung zu Meidveru. U. zur ständig zu geben. Wenn ein Chef meii I seinen in seinem Betrieb nur Parteigenossen le Gruppe Habilitation führen zu können, so war: igsmöglich seine Entscheidung, für deren Ungere r im Sinn« tigkeitsfolgen er sich rechtfertigen m halten. Ak’ vorauseilender Gehorsam war eine s ehrlicher \ jektive Entscheidung, keine unerbittlapirgebärd Notwendigkeit. Kriminelles Handeln i eziellen Z vermeidbar; dies gilt für alle Lebensbepmuß, mi ehe; um auf mein Fach zurückzuka Spitzenga men: Mißbrauch der Psychiatrie du tit alles in die Stasi geschah sicher durch Nötige gangen he - aber man konnte sich relativ gefahn «wurde un der Nötigung entziehen, ja es bestand 9 im Ostei gar der Eindruck, daß kriminelles Arsin der Fn nen nur an bestimmte Personen gerichien ein Ar sen, führte zu jener Anfälligkeit für Lüge. Auch der geschickte Umgang mit der Mangelgesellschaft und jener zynischen Beschaffungsmentalität, die nicht mehr fragte, wie ein Gerät sinnvoll zu nutzen sei, sondern den Status daraus ableitete, daß man es hatte, gehörte in diesen Be reich von Lebenstechnik. • Eine dritte Identität war eine „Identität der Vielen": der Versuch, mit einem bür gerlichen Leben im Beruflichen wie im Privaten gleichsam am Staate vorbeizule ben - resignierend erkennend, daß von außen Hilfe nicht zu erwarten sei. Dabei war eine durchaus lebenszugewandte Haltung beobachtbar, Lebenssequenzen gleichsam aus dem politisch-gesellschaft lichen Kontext heraus zu halten, in stiller Übereinkunft der Beteiligten: der Hoch schullehrer vertrat sein Fach, bildete Stu denten aus, prüfte sie, entließ sie als Ärzte, die sich in der Folge als kompetent erwiesen wie ihre Kollegen sonst ir gendwo in Mitteleuropa auch. Diese Se quenz lief gleichsam neben dem „Hel denepos" ab, das auf der politischen Hauptbühne gespielt wurde. Identitäten, die zu charakterisieren sind nach der Art der Bewältigungsstrategien mit den innergesellschaftlichen Wider sprüchen von Wirklichkeit und Plakat fer tig zu werden. In einer Welt des Plakati ven war Information und Gegeninforma tion gleichzeitig zu verarbeiten. In gestör ten Familien kann ein Individuum, wenn es ohne Ausweichmöglichkeit Informatio nen und Gegeninformationen emotiona ler Brisanz chronisch ausgeliefert ist, schizophren werden und so eine zu nächst entlastende Identität finden. Die gesellschaftliche Schizophrenie in dieser von uns durchlebten Vergangenheit hatte unterschiedliche Züge, gleichsam indivi duelle Lösungsversuche zur Folge. • Da war zunächst die „Blindheit" zu be obachten, der Glaube an das eherne Ge sellschaft in bestimmten Bereichen von Kultur und Wissenschaft viele solche au tonomen Überlebenszellen im Strom des gesellschaftlichen Widersinnes. Diese Autonomie, für die man sich entscheiden konnte, wenn man Arzt, Lokomotivführer oder Künstler wurde, war im Grunde kaum gegeben, wenn ein junger Mensch sich entschloß, Jurist, Philosoph oder Of fizier zu werden. Insofern waren die Frei heitsgrade, die der einzelne realisieren konnte neben seiner je einmaligen Sub jektivität auch von der fachlichen Nähe zur Staatlichkeit bestimmt. Dieses Phäno men entscheidet heute u. a. darüber, ob abgewickelt werden muß oder erneuert werden kann. Das Machtsystem des Staates bestand in erster Linie darin zu verhindern, daß oder eine kulturelle Institution) nur das moralische, wirtschaftliche und ökonomi sche Desaster verdeckten; und so wer den wir heute als einzelne eben nicht nur daran gemessen, wie wir vielleicht mit Anstand und moralisch vertretbarem Ge schick über die Runden gekommen sind, sondern daran, wie das Gesamtsystem versagte. Die Diskussionen über das Hochschulerneuerungsgesetz sind in die ses Spannungsfeld eingebunden. Das Verwobensein in Vergangenheit und der gestaltende Zukunftsanspruch werfen natürlich die Frage nach einer Identität im gesellschaftlichen Leben auf. Gab es - so die oft gehörte ratlose Frage - eine Art DDR-Identität bezogen auf die politischen Zielsetzungen, auf die Regeln und Gesetze des Zusammenlebens, auf den Anspruch, wie gesellschaftlicher Wohlstand zu verteilen, Kultur zu fördern sei? Diese typische westliche Fragestel lung geht von jenem Trugschluß aus, daß das Individuum ernsthaft am Staat betei ligt gewesen sei und verrät die Unkennt nis über unsere Befindlichkeit in der vor revolutionären Zeit. Wir haben uns zu fragen, wo sich ikder unk ser allgemeines Verquicktsein mit d binische Vergangenheit heraushebt ins Anrüchi vächtigun oder gar strafrechtliche Relevante. W rund Tor i angepaßt mußte man sein, um beringen habe ches Karrierestreben mit Anstand zum,daß die binden? Meines Erachtens war hiertme in de Spielraum größer als uns manche eimewe, weil den, die aktiv mit marschiert sind. Leidhten nicht I hat die nachrevolutionäre Zeit auchganz find zeigt, daß ein Empfinden für taktvoll dbesonde Rückzug aus Gründen einer politisch«Iden Öffe Ästhetik nur wenig ausgeprägt ist. «Säubern Wir haben ein System komplexer Ni isicht auf gungen durchlebt, die jeden einzelnen trimmt, gendwie betrafen und der historiscl Nitik ist - Frust jener 40 Jahre - scheinbar gift tarnen V« lieh abgeschüttelt im revolutionären ES «gen - ger - macht es um so schwerer, unser elf «ter zu be nes Versagen einzusehen. Die schon«fch wenii schilderten Ausweichmanöver summ ite Fachge ren sich in einer Flucht der gesamt Wer etwa: Gesellschaft vor der Verantwortung,«', wir uns stellen müssen. Im Interesseo .wer keine Überlebens vieler unserer Struktur twar behii muß aber streng unterschieden werd de Ostdei zwischen denen, die Nötigung ertrug Wv", Immensen Anforderungen an Arht u schöpferischer Phantasie unterle Festrede von Magnifizenz Prof. Dr. Bach anläßlich seiner Amtseinführun den (etwa eine medizinische Hochschule Geist der Menschen eindringen zu müs- jemand etwas tat, weniger darin, ihny jenen, d setz mit Offenbarungscharakter: „Die Par tei hat immer recht" - der Gebrauch transzendentaler Vorstellungen, um die Diskriminierung nach Laune jener zu rechtfertigen, die meinten, die in den Vorstellungen enthaltenen Werte zu ver körpern. Im Extremfall wird das Verbre chen dabei zum pseudoaltruistischen Mo tiv des Handelns — ohne Einsicht auch retrospektiv - dieses „Ich-liebe-euch- doch-alle-Syndrom" der politischen Schi zophrenie. Es ist und war ein Entfremdungssyn drom, das zur Blindheit gegenüber offen kundigen Wahrheiten führte, eine Hin gabe an subjektive Wahrheiten, an Ideologie, die diese Blindheit selbst recht fertigten. • Ein zweites Lösungsverhalten möchte ich als die „anrüchige Schläue" bezeich nen: das geschickte Ausnutzen der Schwächen des Staates, seiner Anfällig keit für das Wort, für die Lüge, für die frommen Sprüche, die natürlich positive Sanktionen nach sich zogen. Die irratio nale Vorstellung des Staates, auch in den Die Teilnehmer der feierlichen Inauguration am 26. Juni im Festsaal der Medizinis achschule zwei teilnehmenden Staatssekretäre der Landesregierung Sachsen.