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^ 237. 12. Oktober 1909. Fertige Bücher. Börsenblatt f. d. Dtschn. Biichliandel. 11991 Aus deutscher Dämmerung. Daß wir im Zeichen des Übergangs stehen und das philosophische Wort des alten Weisen: „Alles fließt" für uns ein soziales und kulturelles geworden, das ist eine Tat sache für jeden, der seine Augen dem Wesen unserer Tage nicht geflissentlich verschließen will. Die alten Götter leben — und sind tot. Man opfert ihnen — aber glaubt nicht an sie. Nicht unähnlich den Zeiten des Verfalls in Israel. Ein heißer Kampf ist entbrannt: der zwischen Sein und Schein. Wer sich mit dem Schein zufrieden gibt, nennt den einen Es ist eine undankbare Aufgabe, den Schleier der Maja lüften zu wollen. Ibsen hat einmal das rechte Wort gesprochen: „Wer Gott schaut, der stirbt." Aber es gibt immer noch solche Gottschauer, die vom Schein nicht leben können, auch wenn das Sein tötet. Sonderbare Schwärmer. Aber freilich — was soll eigentlich werden, wenn wir erst einmal anfangen, ehrlich zu werden, wenn wir die Komödie, die das Leben und die Gesellschaft jeden Tag uns Vorspielen, nicht als Wahrheit mehr nehmen, sondern das Schauspiel an der Wirklichkeit messen, wenn wir unsere tönende Moral mit ihrer Betätigung im privaten wie im öffentlichen Leben vergleichen? O du pro phetischer Hamlet: „Ehrlich sein heißt, wie es in dieser Welt zugeht, ein Auserwählter unter zehntausend sein!" An diesen Fragen konnte Grotthus; nicht vorbei,als ersein neues Buch „Aus deutscher Dämmerung" in die Welt sandte ((^reiner H Pfeiffer, Stuttgart). Wer den Verfasser kennt, der weiß, daß er nicht zu der großen Gruppe der Philister gehört, „die des Glaubens sind, zu glauben", die gedanken los die vorschriftsmäßigen Formeln nach beten, die Kirche, Staat und ihr eigenes Wohlbefinden ihnen vorschreiben. Ein un bestechlicher Ehrlichkeitstrieb lebt in ihm. Man muß es zugestehen, auch da, wo man mit seinen heißblütigen Sätzen nicht immer übereinstimmt. Denn Grotthuß hat Tempe rament, ob er wohl zu der sonst schwer blütigen Art der Wahrheitsucher gehört. Er hat den rechten nüchternen Pessimismus und zugleich das heiße optimistische Be mühen, die Menschen zu bessern und zu bekehren. Freilich diesem wieder beige mischt eine gute Dosis Faustischen Skepti zismus. „Aus deutscher Dämmerung" nennt er sein Buch. Weil eben alles noch Dämme rung ist und Kampf und verschwimmende Übergangskultur. In dieses Sein einiges Licht zu bringen, hat er sich zur Aufgabe gemacht. Aber die Schatten sind noch dicht. Es heißt erst, sie tilgen. So wird die Arbeit Kritik an dem Bestehenden. Nicht nach der Art des verdammenden Richters. Mit der wäre hier wenig gewonnen. Aber auch nicht mit dem fatalistischen lUer aller des lächelnden Weltverächters. „Begreifen ist alles —" Der geistige Entscheidungskampf, in den unsere Zeit getreten, wird sich zwischen zwei Polen abspielen. Unbedingte Unterwerfung der Menschen unter die eine Autorität des einen Gottes und seines kategorischen Im perativs — radikale Verwirklichung des Christentums. Auf der anderen Seite: Be freiung des autonomen Individuums von jeder Autorität, jeder überkommenen oder geosfenbarten Moral — radikale Ausrottung des Christentums. Zwei Namen deuten diese Gegensätze an: Tolstoi und Nietzsche. Grotthuß will es weder mit dem einen noch dem anderen halten, weder mit Nietzsche den Quell, noch mit Tolstoi den Strom ver schütten. Er will die alten Götter zwar als Götter entthronen, aber als Symbole ver- Tempel und Schulen sollen nicht mit dem Nimbus des ewig Gottgewollten umkleidet, fehlbares Menschenwerk nicht als unfehlbar göttliche Ordnung ausgegcben werden. Wahrheit gegen uns und andere, das ist die Hauptsache. Als Wahrheitssucher deckt er so die Schäden auf im Militarismus, in der Klassenjustiz, der Gesellschaftsmoral und der Afterkunst, die ihre Blüten bis zur „Nackt- Christentum der Kirche eingeschlichen und zu seiner sichtbaren abschreckenden Erschei nung bei der Einweihung des Berliner Abrechnung: „Potpourri aus Neubyzanz" wider die „Schlammflut schmieriger Liebe dienerei", die an die Stufen des Thrones brandet. Ein großer Zug geht durch das ganze Buch. Als wäre in ihm die Summe ge zogen all der unerschrockenen Liebesarbeit, die der Schreiber von „Türmers Tagebuch" viele Jahre hindurch als echter Patriot für sein Vaterland getan. Ja, als echter Patriot. Lange genug haben wir den widrigen Lärm des Hurra patriotismus über uns ergehen lassen, haben wir das Wort „national" zur nichtssagenden oder lügnerischen Phrase brandmarken, satte sonnen und blähen gesehen in dem herr lichen Gefühle, wie bis an die Sterne weit wir es doch im lieben deutschen Baterlande gebracht. Selbst die Vorgänge des letzten Winters, die uns wahrhaftig gähnend genug den Abgrund gezeigt, an dem wir standen, — wie manchem haben sie die Augen immer noch nicht geöffnet . . . Sein oder Schein, das ist die Frage. Wirklich, wir können die ehrlich mutigen Wecker nicht freudig und dankbar genug begrüßen. Grotthuß geht oft zu weit. In dem er gerecht sein will, wird er ungerecht. Aber das ist einmal das Los aller ener gischen Kampfnaturen. Und solche Jrrtümcr werden leicht in die Wagschale fallen gegen über all dem Großen, Aufbauenden, das er bringt, nachdem er wie jeder Bauende kraft voll niedergerissen. Und Grotthuß hat geschickt gesammelt. Keine Zeitungsnotiz ist ihm entgangen, die er zum schreienden Belag für seine Behaup tungen ins Feld führen könnte. Prachtvoll sind seine Sammlungen von patriotischen Festspielen, Gedichten und Gesängen, die von Kindern in den Schulen zu Kaisers Geburtstagsfeier u. dgl. vorgetragen werden. Einmal tritt auch Schiller auf. Eine sehr pathetisch, widerlich schwungvolle Rede schließt er — in Klammern: das ganze Theater erhebt sich —: „Ein Herrscher, Zweiter seines Namens, (Wird) dem Reiche seine Stärke geben, Die Wagenburg zu Land und Meer. Und dazu auserwählt von oben her Dem Ozeane folgend, folgend, folgend . . . Mir bleicht das Bild im Abendsonnenglanze." Wahrhaftig: „Ormes Schiller, wie host du dir verändert!" Man kann noch bessere Dinge aus „Neu- Byzanz" lesen. Auch die Kapitel: „Rechts- oder Polizei staat?" und ..Gesellschaftsmoral" enthalten beachtenswerte Wahrheiten. Ein Ankläger ist Grotthuß und ein scharfer — aber ein Nörgler ist er nicht. Er irrt, und manchmal schwer — aber er irrt mit Wahrheit. Er findet nicht immer — aber er sucht unablässig. Er ist Pessimist — aber nicht ein ratloser, der sich im Dunkel verliert, kein schwarzsehender patriotischer Hypochonder, wie es heute deren genug gibt, kein ohnmächtig Verbitterter, er ist vielmehr ein Lichtweiser, der die Morgen röte dämmern sieht, der für ihren Anbruch mit ganzer Seele kämpft — wer will, mag ihn also auch einen Optimisten nennen. Ich tue es nicht. Es gibt auch tatkräftige, lebens starke Pessimisten. Und unser Vaterland braucht sie nicht zu verleugnen. Sie zeigen das Dunkel — aber durch das Dunkel führen sie zum Licht. Es ist noch kein Morgen — aber er wird kommen. „Durch die Dämmerung reitet Frau Germania — aber sie reitet." Danzig. Artur Brausewetter. (Münchner Neueste Nachrichten vom 26. September 1909.) Luther-Kalender f. d.1.1910 Es ist ein inhaltsreicher Kalender, den wir in jedem evangelischen Lause sehen möchten. Leipziger Zeitung. 1öS8»