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VMM DM WMm-EMIiM AüMM Tageblatt. Nv 140. Freitag, den 20 Juni 1013 40» Jahrgang Im Labyrinth deS Lebens. Roman von M. Kneschke-Schönau. 23 Fortsetzung. (Nachdruck verbolen.t Bereits acht Tage später lief ein Tele gramm ein, das Hermine schleunigst nach Salzburg beschied. Dort wurde sie von ijhren Kindern in Emp'ang genommen, die ihr fxeubc- strahlend benichtsten, daß Gabriele ihnen einen kleinen Bauernhof verheißen habe, wenn sie die kleine Dolores an Kindesstatt annelMen und gegen jedermann das alloestrengste Still- schweigen über ihre Herkunft bewahren wür den. Nur zu gern seien sie aus diesen Vor schlag eing^angen, der sie aller Sorgen ent hob und ihnen die Freude, mit der Mutter zusammen leben zu dürfen, bereitete. In dem Gasthaufe eines unweit Salzburg gelegenen Dörfchens sollten sie unauffällig verweilen, bis Gabriele etwas passendes gefunden und sie ab- tolen würde. Dieses Ereignis ließ nicht lange auf sich warten. Etwa zwei Wochen später traf Ga briele ein und erzählte, daß sie in der Näle des Chiemsees einen sogenannten Einödhof, ein kleines, hochgelegenes Bauerngütchen käuf lich erworben Wid den ehemaligen Gävtaer Langner vorläufig als Pächter angemeldet habe. Entspräche das Ehepaar ihren Erwar tungen, so solle der Hof später sein Eigentum werden. Sie selbst wolle als Patin der klei nen Dolores gelten, und reserviere sich die beiden Giebelzimmer für ihren Gebrauch, wenn es sie gelüste, einmal Landlust zu genießen und das Kind wiederzufehen. Damit waren alle Beteiligten einverstanden und so hielt die Familie Langner wenige Tage später ihren Einzug auf dem reizend inmitten üppiger Matten gelegenen Hofe, von dem man eine entzückende Rundsicht auf Berge und Tä ler und den großen blauen Chiemsee, das so genannte „bayrische Meer" genoß. Die Stall- und Wirtschaftsgebäude waren geräumig und in gutem Zustande, nur das Wohnhaus er wies sich als zu klein, zumal Gabriele zwei Zimmer für sich darin reserviert haben wollte. Deshalb sollte noch im Laufe des Sommers ein Stockwerk aufgesetzt werden. Gabriele sie delte nach Leipzig über, um am dortigen Kon servatorium Musik zu studieren, was von jeher ihr Lieblingswunsch gewesen war. 11. Kapitel. Jahre waren vergangen. Aus dem Lang- nerhose, wie die Dörfler den Hof nach seinem neuen Besitzer nannten, hatte sich nichts ver ändert. Die Bewohner führten ein stilles, be schauliches Dasein und freuten sich der sich 'kräftig entwickelnden kleinen Dolores, die in ungebundener Freiheit zwischen Ziegen und Kälbern, Hühnern und Tauben aufwuchs und der Sonnenschein des Hauses, besonders der alternden Hermine Ivar. Alljährlich im Hock sommer kam Gabriele auf einige Wochen zu Besuch, inspizierte den Hof und die Fort schritte in der Erziehung des Kindes, um dann kühlen Herzens abzureisen, wie sie ge kommen, und ohne bei den Zurückbleibenden eine Lücke zu hinterlassen. Es war immer, als ob ein Alp aus dem Hause laste, so lange sie darin verweilte. Sie brachte der Kleinen schöne Geschenke mit, stiftete allerhand gutes im Haufe und selbst im benachbarten Dorfe und genoß deshalb ein großes Ansehen, aber die Gaben kamen nicht von Herzen und ver mochten deshalb nicht zu erwärmen. Durch ihr einsames Leben, das sie auch in Leipzig führte, war sie noch wortkarger und verschlossener geworden. Die feinen noch im mer schönen Gesichtszügc erschienen wie aus Stein gemeißelt und um den Mund zog sich ein gramvoller Zug. Auch in der Musik hatte sie nicht gefunden, was sie gesucht. Nach Jah ren eifrigsten Studiums hatte sie sich eine glän zende Technik im Klavierspiel ungeeignet, aber ihr Spiel blieb seelenlos, cs vermochte den Zu hörer nicht zu packen, noch weniger das Leid zu lösen, das sich wie eine Eisrinde um ihr Herz gelegt. Seit Jahren las sie keine Zei tungen mehr, aus Furcht, den verhaßten Na men Cedrik zu begegnen, der in rastloser Ar beit mit seinen genialen Gemälden immer neuen Ruhm erwarb. Um ihre Zeit auszu füllen, las sie philosophische Werte und ver tiefte sich i» das Studium der Naturwissen schaften, nirgends Befriedigung findend. Da ergriff sie wieder der Wrndertrieb und sie be teiligte sich an einer Weltreise, welche sie auf Jahre von Deutschland fern hielt. Neu belebt und erfrischt von den wechseln den Eindrücken, kehrte sie zurück und traf an einem schönen Herbsttage ganz unvermutet auf dem Langnerhofe ein. Sie war zu Fuß von der Station heraufgekommen und traf am Waldsaume mit der jetzt zehnjährigen Dolores zusammen, die im denkbar primitivsten Kostüm der Länge nach auf dem Rasen lag und dem Hüterbuben ein Märchen verlas. Der zahlreiche Viehbestand des Lananerhofes weidete auf der Alm und das melodische Geläut der Kuhglocken bildete eine eigenartige Begleitung zu der Hel len, kräftigen Stimme der Vorleserin. Lauschend blieb Gabriele stehen, eine Gruppe niedriger Fickuen verbarg sie den Blicken der Kinder. Jetzt schlug Dolores das Buch zu, kollerte sich im Grase herum, so daß sie auf die Vorderseite des Körpers zu liegen kam, stützte sicki auf beide Ellenbogen und biß herz- haü in einen großen Apfel, dabei mutwillige Blicke ans de» Buben wocfend und mit den unbekleideten Füßen taknnäßig auf- und cie- denbippend. Der Bube saß wie verzückt und starrte sie mit seinen großen, dunklen Augen unverwandt an. „Sei nit so fad, Seppl' und red' lieber was," schmollte das Mädchen. „Was meinst zu dem Märchen? Jst's net, als ob's auf uns Paßte? Bloß, daß Du net « Schweinehirt und ich keine Prinzessin bin. Aber sonst könnt's stimmen, net?" I „Ach was, dumm ist's!" murrte der Bube. „Wo wiro denn ei» Prinzessin an' Schweine hirt heiraten, dös kommt halt nur im Mär chen vcxr. Oder würdsl' am End' mi mögen, wenn i amal groß bin und ane Försterei hab'?" „Kann sei», auch vielleicht »et! lachte das Mädchen. „Wenigstens brancht' i dann net mehr so viel zu lernen, denn mit wem soll denn so ane Föcstersfrcui englisch und franzö sisch reden? Dös braucht's net und deshalb wär's immer zu überlegen." „Ja, 's is ne Verrücktheit, daß Du Di so plagen mußt. I tät's net!" „I tu's auch net. Vorgestern ist die sie bente Gonvernant' auf und davon, weil j gar zu wüstes, ungebärdiges Mädel sei, hat sie aesagt! Int»! Fetzt gibt's Ferien, bis die nächste kommt! Und die wird wieder aussi gegrault. Dös Fräulein Pat' wird giften, aber dös macht nir; auf die Brief' pfeif' i und Herkommen tut sie nimmer, die is jetzt bei den Hottentotten oder sonstwo." — Leise stahl sich jetzt die Lauscherin hinweg und schlug eine» andern, durch das Gebüsch führende» Weg »ach dem Hofe ei». Sie hatte genug gehört und fühlte, daß sie hier durch ihr langes Fernbleiben viel versäumt hacke. So hatte sie sich die Erziehung ihres Kindes nicht gedacht und de» Grund des öfteren Wech sels der von ihr ausgesuchten Gouvernanten mehr in der weltabgeschiedenen Lage und den bäurischen Verhältnissen gesucht, als in dem Widerstreben der Schülerin. Hier mußte un verzüglich Wandel geschaffen werden. Nachdem die Begrüßung zwischen ihr und deni sehr überraschten Langnerschen Ehepaare' nnd der nicht minder überraschten, aber auch chuckich erfreuten Hermine vorüber war, steuerte Gabriele gradeswegs auf ihr Ziel zu und er zählte, was sie soeben gesehen und gehört. (Fortsetzung folgt.)