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' - - / Hohenslem-Emstthiller Tageblatt M-Llyeiger Nr. 243 Sonnabend, den 17. Oktober 1925 2. Beilage Jie Mi! Sa MK Die Beratungen in Locarno — Lebhafte Airs- einandersetzungen um den Artikel 18 — Die Motorbootfahrt auf dem Lago Maggioro — Einigung Uber den Westpakt — Konstrenzkrise wegen der Ostfragen — Die Reife des Staats sekretärs Dr. Kempner nach Berlin — Wieder aufleben der preußische» Regierungskämpfe Bon un Irrem Berliner Berlreter In den ersten zwei bis drei Tagen der Konferenz von Locarno war alles glatt vor sich gegangen, sodaß die alliierten Konferenz kreise mit großem Eifer durch eine großzügige Propaganda in der ganzen Welt den Eindruck hervorriefen, als ob man auf dein besten Wege fei, die großen Probleme des Sicherheitspaktes innerhalb weniger Tage zu lösen. Dieser Opti mismus hielt solange an, als die juristischen Sachverständigen auf Grund ihrer sorgfältigen Vorarbeiten, die sie in London geleistet hatten, tatsächlich mit der Ausarbeitung des Paktent wurfes sehr schnell vorwärts kamen. In dem Augenblick aber, wo die grundsätzlichen politischen Streitfragen an die Oberfläche traten, änderte sich mit einem Schlage das Bild. Die Gegensätze zwischen Deutschland und den Alliierten be gannen sich mit einer derartigen Schärfe abzu zeichnen, daß wiederholt die Gefahr eines Ab bruches der Verhandlungen gegeben war. Die Delegationsführer sahen sich schließlich genötigt, einen sitzungsfreien Tag einzulegen, um durch eine persönliche Fühlungnahme Zeit und Ge legenheit zu finden, sich über die vorhandenen Meinungsverschiedenheiten auszusprechen. Den Reigen eröffnete Briand, indem er den Reichs kanzler Dr. Luther besuchte, während kurz darauf der englische Außenminister Chamberlain sich zu Dr. Stresemann begab. Die ersten Anzeichen einer Besserung zeigten sich aber erst, als am Sonnabend voriger Woche Chamberlain die Hauptdelegierten zu einer vergnügten Motor- bootfahrt auf dem Lago Maggiore einlud, wo man inmitten der Naturschönheiten des Kon ferenzortes die wichtigsten politischen Probleme besprach. Die Folge davon war, daß allseitig schon am Montag der Eindruck entstand, als ob es gelungen sei, eine Lösung der strittigen Pro bleme zu finden. Dieser Optimismus ist aber sehr schnell einer sehr ernsten Stimmung ge wichen, die sich aus den neu ausgetretenen Schwierigkeiten über die Ostfragen e--gab. Akan war beunruhigt über die Haltung Frankreichs und Polens, die hinsichtlich der Earantiefrage im ersten Augenblick auf eine völlige Ablehnung des deutschen Standpunktes hinauslief, während auch der tschechische Außenminister Dr. Benesch sich gedrängt fühlte, den französisch-polnischen Standpunkt nachdrücklichst zu unterstützen und eine Einheitsfront gegen die Deutschen herzu stellen. Inmitten dieser Schwierigkeiten wurde eine Kompromißformel über den Artikel 16 der Völkerbundssatzungen gefunden, eine Formel, die nicht gerade den deutschen Wünschen entspricht und die noch den Gegenstand lebhaftester Er örterungen bilden dürfte. Im übrigen darf nicht vergessen werden, daß die Frage des Artikels 16 endgültig erst durch den Völkerbund selbst ent schieden werden kann und daß die deutsche Dele gation tatsächlich nicht mehr erreichen konnte als eine bestimmte Zusage der alliierten Staats männer, den deutschen Standpunkt -ei den Ver handlungen vor dem Völkerbund selbst zu unter stützen. Vorübergehend war der Plan aufge- taucht, den Völkerbund sofort einzuberufe r, um den in Frage stehenden Punkt der Völke. unds- satzungen zu klären. Dieser Gedanke wurde aber zurückgewiesen mit dem Bemerken, daß da durch nur die Verhandlungen der Konferenz in Locarno eine wesentliche Verzögerung erleiden würden. Soviel steht fest, daß über die Frage des Westpaktes, bereits alle Meinungsverschieden heiten beseitigt worden sind — vergl. dazu die gestrigen Mitteilungen an der Spitze unserer Zeitung — und daß der Sicherhsitsvertrag selbst nicht mehr in dem Mittelpunkt der politischen Auseinandersetzungen steht. Durch die günstig verlaufenen Beratungen der juristischen Sach verständigen konnte eins vollständige Einigung bereits Anfang voriger Woche erzielt werden, und man darf daher mit Spannung der Ver öffentlichung des Entwurfes des Westpaktes entgegensehen, die für die nächsten Tage vorge sehen worden ist. An dem Westport nimmt nun mehr auch Italien offiziell teil, das als Sig natarmacht einen nicht unwesentlichen Einfluß auf den Gang der Beratungen ausgeübt hat. Tas Abkommen bezieht sich nur auf die fünf Mächte Deutschland, Frankreich, England, Italien, Belgien und steht in keinerlei Zusam menhang mit der Regelung der Ostfrngcn, die gesondert erfolgen muß. Polen und die Tschechen versuchten mit aller Gewalt auch einen 'ge nannten Ostpakt in Vorschlag zu bringen, der nach ihrer Meinung durch alle Westmächte garantiert werden müßte. Um diesen Vorschlag kam es zu sehr lebhaften Auseinandersetzungen. Man stand wieder einmal vor einer treuen Kon ferenzkrise, deren Ausgang diesmal sehr ungewiß erschien, denn Polen und die Tschechen suchten einen starken Druck auf Frankreich auszuüben, um es dazu bestimmen, den deutschen Standpunkt als unannehmbar abzulehnen. Die Situation war zeitweise so kritisch, daß man mit der Mög lichkeit eines Scheiterns der Verhandlungen rechnen mußte. In diesem Augenblick sandte Reichskanzler Dr. Luther den Staatssekretär Dr. Kempner nach Berlin, um dem Reichskabinett über den Verlauf der Verhandlungen Bericht zu erstatten. Der Berliner Reise des Staatssekretärs Dr. Kempner wurde in den politischen Kreisen von vornherein eine große Bedeutung beigelegt, während auf der anderen Seite die amtlichen Stellen wiederholt darauf hinwiesen, daß es sich nur um eine allgemeine Orientierung des Ber liner Ministerrates über die Konferenzlage in Locarno handelte. Soviel ist jedoch sicher, daß zwischen Staatssekretär Dr. Kempner und den Regierungsstellen in Berlin sehr ernste Dinge besprochen wurden, daß man in Berlin alles mögliche getan hat, um die Position der deutschen Delegation zu stärken. Während sich gegen Ende der Woche die Lage in Locarno immer mehr zu klären beginnt und man schon von einem bevorstehenden Abschluß der Konferenz spricht, ist die innenpoli tische Lage wieder sehr gespannt geworden. Zwischen den Rechtsparteien und der Linken hat es verschiedentlich heftige Auseinandersetzungen gegeben, die sich teilweise um außenpolitische, teilweise aber um rein politische Momente drehten. Besonders heftig waren die Proteste der Linken, als in Pressemeldungen über die Denkmalssinweihung für die gefallenen Augu- staner von einer angeblichen monarchistischen Provokation des Generals Sixt von Arnim berichtet wurde. Der General soll angeblich in seiner Rede vor den Teilnehmern der Feier und vor der Traditionskompagnie der Reichswehr die Aufforderung ausgesprochen haben, den ^em früheren Kaiser geleisteten Fahneneid auch jetzt noch treu zu bleiben und die alten Traditionen weiter zu pflegen. Das Reichswehrministerium hat einen Bericht über die Rede des Generals von Arnim eingefordert, vor dessen Eintreffen aber über die ganze Angelegenheit kaum etwas genaues gesagt werden kann. In Preuße n ist wieder einmal der Kamps zwischen den Regierungsparteien der Weimarer Koalition und den Rechtsparteien auf der gan zen Linie entbrannt. Nachdem die Deutsch- nationalen einen Mißtrauensantrag gegen den preußischen Innenminister Severing eingebracht hatten, ging auch die Deutsche Vojkspartei mit einem Mißtrauensvotum vor, durch das die ganze preußische Negierungsfrage von neuem aufgerollt wird. In den parlamentarischen Kreisen nimmt man an, daß auch hierbei die Frage einer Neuwahl des Preußischen Land tages akut werden wird. Minister Severing bat die Debatte mit einer großen Rede einge leitet, in der er sich mit ungewöhnlicher Schärfe gegen die Rechtsparteien wandte. Der Minister sagte den Rechtsparteien den Kampf an, indem er auch auf die Frage der monarchistischen Propa ganda zu sprechen kam. Seine Ausführungen, die von den Rechtsparteien mit schärfstem Wider spruch ausgenommen wurden, fanden bei der Regierungs-Koalition minutenlangen Beifall. Die Atmosphäre ist derartig mit Konfliktstoffen geladen, daß man mit weiteren heftigen Aus einandersetzungen im Preußenhause rechnen mutz. Dis befreite Türkei Von Erna Niegger, zurzeit Konstantinopel Unter den wenigen gastfreundlichen Ländern, die dem übervollen Deutschland Expansionsmög lichkeit gaben, steht mit an erster Stelle die Tür kei. Die deutsche Industrie hat dort bereits wie der festen Fuß gefaßt, und wohltuend berührt es, wenn man beobachtet — in Konstantinopel oder im Innern Anatoliens —, wie der Fremden gegenüber sonst so verschlösse,)«- Türke freundlich und entgegenkommend wird, sobald er hört, daß man „Alman" ist. Das gemeinsame Kämpfen ist nicht vergessen; hauptsächlich ist es das unbe wußte Empfinden, bei vielen aber auch die aner kannte Wahrheit: Der Deutsche kommt in dein Land zu ehrlicher Arbeit, an deren Ertrag auch du teilhaben sollst, nicht um dich auszusaugen und dann liegen zu lassen wie eine ausgepretzte Frucht. Was weiß man in Deutschland von der neuen Türkei ? Ein paar vage Begriffe, wie sie von Jahrzehnten her überliefert sind: Geheimnisvol les und Abenteuerliches, Harem und verschleierte Frauen, heulende und tanzende Derwische, bun tes morgenländisches Stratzenleben, Bärenfüh rer, die den gefangenen Hochwaldriesen tanzen lassen, Begriffe aber auch von Korruption in allen Aemtern, daß man mit Bakschisch Mögliches und Unmögliches erreichen kann, zu all diesen Begriffen aber der Erundton: der purpurfarbene Fes. Und alles das ist nicht mehr. Die Türkei hat eine Zeit des vollständigen Umsturzes hinter sich. Ein Umsturz, der sich so ruhig und selbstverständlich vollzogen hat, mit Naturnotwendigkeit, wie eine reife Frucht sich Beim Einkauf v. jedem Pfd. verl. man gratis Der Herr im Hauss Humoristischer Roman ft. von Heinrich Vollrath Schumacher tkovyriabt WM bv Greiner k tLvmv-, BeiNn W. 80 14s Macydruck verboten. Wieder hielt Litte inne. „Sie muß furchtbar fromm geworden sein!" dachte sie. Dann fiel ihr Blick auf den folgenden Satz. Sie nickte, wie bestätigend, vor sich hin und sagte dabei laut: „Na, ja! Drum auch!" „Pst!" machte Biadame de Regnault liebens- würdig-malitiös. „Das sein nickt erlauben, ßu spreken!" Litte hörte nicht darauf. Sie hatte sich schon wieder in den Brief vertieft. „ Und dabei habe ich nichts zu lesen, als die Bibel. Weißt Du, die große, mit den vielen Bildern. Das ist ein Glück für mich. Sonst wäre es zu langweilig. Aber wenn Papa was von der Bibel verstände, so hätte er sie mir nicht gegeben. Es sind zwei Bücher drin: Ruth und das Hohelied Salomonis! Da ist nur von Liebe die Rede. Das stärkt mich. Sonst bin ich verzw-ifelt. Denn nun wird er mich nicht hei raten wollen. Erstens habe ich ihn beleidigt, zweitens ist er Papas Todfeind, und drittens kann er es auch gar nicht. Bertha hat zu mir ge sagt, daß Mama ihr gesagt hat, daß Papa zu ihr gesagt hat, er wolle mir einen Mann suchen. Ich will aber keinen anderen, als ihn. Lieber werde ich eine Stiftsdame oder barmherzige Schwester. Ode« noch besser, ich springe aus dem Fenster! — Wegn ich nur wenigstens Papa böse sein könnte. den neuesten Band der lUesi-OanSbiicherci! Per Ich habe es versucht, aber es geht nicht. Gott, Litte, wie unglücklich bia ich. Und dabei ist cs doch so schön, wenn man einen so recht, recht lieb hat. Aber ein Held muß es sein. Denke Dir, Bertha erzählt mir, er habe sich einen schrecklichen Katarrh geholt und liege Im Bett. Bei der Hitze! Und am Ende ist es Typhus und er muß sterben! Dann sterbe ich auch! Ja, wenn Du wenigstens hier bei mir wärest, aber so .... Es grüßt Dich Deine tief unglückliche, den Tod oder Dich herbeisehnende Schwester Ulla non Nohusdorff. P. S. Könntest du nicht kommen? Wann hast Du Ferien? Gott, wie ich den Xenophon hassen! Der ist auch schuld daran." Wieder schüttelte Litte nachdenklich den Kopf. „Erst liebt sie ihn und nun haßt sie ihn? Sic muß wirklich sehr, sehr unglücklich sein!" „P. S. P. S. Eben lese ich den Brief noch einmal durch. Gott, er ist so konfuse geworden, daß Du ihn wahrscheinlich gar nicht verstehen wirst. Da-fällt mir ein, daß ich Dir ja noch nicht geschrieben habe, wer „Er' ist. Also — „Er" ist . . . ." Es war zu Ende, Die Tinte war völlig ver wischt, anscheinend in großer Hast. Litte erfuhr nicht, wer „Er" war. Auch die kurze Bleifeder- Notiz auf der Rückseite des Kuverts gab ihr keine Auskunft. „Papa kam plötzlich. Ich mußte schnell chließen, weil Bertha Angst hatte! Kommst Du?" Litte versank in Gedanken. Dann mit einem energischen Entschluß warf sie das Köpfchen in den Nacken und sagte, wie sie bereits morgens r. n. Erofftager der B M. W. Nürnberg: Fri nach der ersten Lesung gesagt hatte, laut und vernehmlich; „Ich komme!" Madame de Regnault blickte auf und nickte ihr liebenswürdig lächelnd zu: „Mademoiselle Melitta von Rohnsdorff," notierte sie im Ton höchsten Wohlwollens, „eine Rüge, weil Sie aben gesprekt unerlauben!" * * Eben hatte die Turmuhr von der nahen Kirche zwölf geschlagen, als Evy von Lennep aus dem Halbschlummer erwachte, in welchem sie trotz ihrer Anstrengungen, wach zu bleibe», ge sunken war. Litte stand vor ihr und beugte sich über sie. „Mach' ein bißchen Platz, Evy!" flüsterte sie. Evy drückte sich mehr an die Wand, und gleich darauf lagen die beiden jungen Mädchen neben einander, lautlos, ohne sich zu bewegen, mit an- gehaltenem Atem horchend. Doch alles blieb still. Madame de Regnault schlief fest, und ihre aus den Kissen hervorragende spitze Nase warf im Lichte des auf dem kleinen Tisch neben ihrem Bette stehenden Nachtlämpchens einen ungeheu ren reglosen Schatten auf die gegenüberliegende Wand. „Achte auf die Nase!" raunte Litte endlich. „Wenn sic sich bewegt, so stoße mich an!" Und Evy achtele auf Madames Nase. Aber sie bewegte sich nicht, und Litte konirte ihrer jünge ren Freundin ohne Umschweife ihren Entschluß mitteilen, das Institut noch in dieser Nacht heim lich zu verlassen. < Evy fuhr erschreckt empor und ihre Augen ; Aungmann, Glauchau, Kasinoftr. 1, Tel. 160 verließen das Objekt ihrer Beobachtung, um sich flehend auf das Gesicht neben ihr auf dem Kopf kissen zu richten. Aber ihre Absichft Litte das Wagnis auszureden, erstarb angesichts der un erschütterlichen Ruhe, die sich auf diesem Gesicht ausprägtc. „Ob, Litte!" stammelte sie bestürzt, „wenn du durchgehst, wird dich der General nie wieder auf nehmen!" Das Fräulein von Rohnsdorff stieß einen kurzen, pfeifenden Ton aus. „Glaubst du denn, daß ich ihn je vor diese Frage stellen werde? Ich bin siebzehn Jahre alt und halte meine Ausbildung für vollendet. Außerdem — hier lernt man ja doch nichts, als Dummheiten machen! Ich weiß es selber besser, als ihr alle, daß ich ein vorlautes, keckes, unge zogenes Ding bin. Gott, die Vorwürfe, die ich mir schon gemacht und die guten Vorsätze, die ich gefaßt habe! Aber es half nichts: sobald mor gens der Drill und die Knechtung von neuem be gannen, war alles wieder verflogen. Ich passt eben nicht in die Schablone! Drum wird auch der General den Tag, oder vielmehr die Nacht seg nen, da er mich los wurde!" Evy von Lennep seufzte tief auf. „Ja, das wird er!" sagte sie dann überzeugt. „Aber was soll ich nun anfangen? Wer wird mich in Schutz nehmen, wenn ich mal wieder einen dummen Streich ... Ach Gott, es ist zu fürchterlich!" Sie drückte ihr Gesichtchen tief in das Kissen, um nicht laut aufzuschluchzen. Litte strich ihr schweigend über das entfesselte Haar und dann schluchzte und schluckte auch sie, bi, ein leiser