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„So?" sagte Bicky spitz. Sie mochte den Gärtner nicht leiden, weil er immer „Leine Fräuleins" zu ihnen sagte. „Und warum sind denn Sie nicht auch dabei, Adams?" Der alte Gärtner schnitt ein ärgerliches Gesicht. „Weil ich mich nicht ausfragen lassen will. Ich lege mich ins Bett und bin krank. Wenn sie trotzdem kommen sollten, sage ich nicht mass noch muh." Damit verschwand er in seinem Häuschen. Bicky und Molly sahen einander aufgeregt an. „Da müssen wir unbedingt dabei sein!" stand in beider Blick. „Das linke Eckfenster der Leutestube steht ja immer offen," sagte Bicky beruhigend. „Und davor wächst der Holunderstrauch. Wenn wir unter den hineinkriechen, können wir jedes Wort hören, was drinnen gesprochen wird, ohne daß man uns sieht." Gesagt, getan. Mit indianerhafter Geräuschlosigkeit nahmen sie ein paar Minuten später ihren Lauscherposten ein, nicht ohne vorher einen Späherblick durch das gottlob wirklich offenstehende Fenster in das Gemach getan zu haben. Interessant genug sah es drinnen aus. Am Mitteltisch saß ein noch junger Herr in Uniform, neben ihm der Schreiber vor einer Mappe, auf der ein Pack Papierbogen lag. An der Korridortür stand steif und unbeweglich ein Schutzmann. Vor ihm in Reih und Glied die Dienerschaft, teils ängstlich, teils verlegen vor sich hinblickend. Nun wurde einer nach dem andern vorgerufen, mußte Namen, Stand, Alter, Länge der Dienstzeit usw. angeben, verschiedene Fragen beantworten und zuletzt das Protokoll unterschreiben. Ihre Aussagen glichen einander fast aufs Haar. Sie hatten persönlich mit Fräulein Schmidt nichts zu tun ge habt, sich um sie auch nicht bekümmert und an dem frag lichen Nachmittag gar nicht zu Gesicht bekommen. Nur das Stubenmädchen Fanny, die eben jetzt als Letzte an der Reihe war, meldete, daß sie Fräulein Schmidt mit der Gnädigen zugleich gegen fünf Uhr den Tee serviert habe, worauf das Fräulein mit ihren Zöglingen erst ins Schul zimmer gegangen sei und sich dann in ihr Zimmer zurück gezogen habe. Molly und Bicky, die das Horchen eben hatten auf geben wollen, da es ihnen langweilig wurde, spitzten die Ohren. Der Beamte fragte: „Und nachher? Blieben Sie dann noch oben im ersten Stockwerk?" „Ja, bis gegen sieben Uhr. Ich hielt mich in der Wäschekammer am Ende des Korridors auf, wo ich die Schränke ordnete." „Würden Sie es von dort aus gewahr geworden sein, wenn Fräulein Schmidt ausgegangen wäre?" „Sicherlich. Die Tür der Wäschekammer stand offen und wenige Schritte davon befindet sich die Treppe." „Gibt es nur diese eine Treppe im Haus?" „Nein, am anderen Ende des Korridors führt noch eine kleine Wendeltreppe hinab. Aber diese ist nur für die Dienerschaft und wird von der Herrschaft niemals benutzt. Außerdem führt sie nach rückwärts in den Park. Jemand, der ausgehen will, würde da nur einen Umweg machen." „Sie sind also der Meinung, daß Fräulein Schmidt sich in der Zeit von 5 bis 7 Uhr in ihrem Zimmer aufge halten hat?" „Ganz bestimmt. Sie kann erst fortgegangen sein, als ich mich ins Eßzimmer begab, um dort zu Abend zu decken." „Falsch!" gellte plötzlich eine triumphierende Stimme ins Zimmer. „Sie ist schon vor sechs Uhr fortgegangen, und zwar über die kleine Treppe in den Park." Es war Bicky, die sich nicht länger halten konnte und ihre Weisheit wie einen Schlachtruf hinausschmetterte. Einen Augenblick herrschte starke Verblüffung. Der Beamte am Tisch blickte suchend umher, woher die Stimme gekommen war. Dann sah er zwischen den zurückgeschla genen Läden des Fensters einen flachsblonden zerzausten Kopf mit Hellen Augen und vor Eifer geröteten Wangen, während Fanny erschrocken murmelte: „Fräulein Bicky!" Er lächelte und gab dem Schutzmann einen Wink. „Bitten Sie die junge Dame, sich hereinzubemühen." .(Fortsetzung folgt.) Nun lag sie oben in ihrem hübschen, koketten Damen- . zimmer, bekam einen Weinkrampf nach dem andern, ließ ! sich von dem besorgten, selber noch ganz verstörten Gatten I trösten und von ihrer Jungfer betreuen. Aber nicht einmal dies sollte ihr ungestört vergönnt ; sein, denn bald nach Tisch wurde Betty, die Jungfer, ab- > gerufen. Unten sei ein Polizeikommissar mit einem I Schreiben erschienen, der noch einmal die gesamte Diener- t schäft einem Verhör unterziehen wollte. Fluch das noch!" stöhnte Frau My. „Polizeiverhör ! in unserem stillen, lieben Hause! Muß man das wirklich I dulden, Rudi?" Herr von Rehbach strich beruhigend über ihre Stirn. » „Leider, Liebste! Aber rege dich nicht auf. Uns wird man ! ja wohl in Ruhe lassen, da wir bereits alles sagten, was I wir wissen. Und ich verspreche dir, daß wir sobald als > möglich — hoffentlich schon in einigen Tagen — nach dem » Süden fahren, damit du all diese schrecüichen Eindrücke ! loswirst." Er gab Labei Betty einen Wink, die sich stillschweigend ; entfernte. So schrecklich all diese Dinge Fran My erschienen, i so sehr erfüllten sie die beiden Töchter des Hauses, Bicky I und Molly, mit heimlichem Entzücken. Gewiß, Fräulein I Schmidts Tod, Len sie vorhin von Papa erfahren hatten, ; tat ihnen leid. Aber alles, was drum und dran hing, war i doch so furchtbar romantisch! Endlich erlebten sie einmal I in Wirklichkeit einen Roman, Ler an Spannung und ! Schauerlichkeit nichts zu wünschen übrigließ. Ganz abge- » sehen davon, daß sie in diesen Tagen, wo niemand Zeit i hatte, sich um sie zu kümmern, endlich einmal ihre Freiheit I genießen loyalen. Zwar hatte Papa ihnen streng eingeschärft, sich still I auf Hrem Zimmer zu hatten, sich um nichts zu kümmern, I und das von Mama ihnen zugewiesene Pensum an Hand- I arbeiten gewissenhaft zu erledigen. Aber wann hätten i zwei lebensdurstige Backfische, die in Len allerschönsten ! Flegeljahren standen, sich um derlei Vorschriften ernstlich i bekümmert, besonders'wo Papa Lurch Mamas Nervenzu- I stände so prächtig beschäftigt war. Bicky und Molly taten also gerade das Gegenteil von » dem, was man ihnen aufgetragen hatte. Sie waren der I überall und Nirgends im Haus, horchten begierig auf I jedes Wort der Dienerschaft, sahen und beobachteten alles » und genossen mit gruselndem Behage« jede Einzelheit » dieser aufregenden Vorgänge. I Sogar die Wegschaffung -es Toten oben vom Winzer- I Haus hatten sie heimlich von einem sicheren Versteck aus mit ; angesehen. Zu all dem empfanden sie noch Las entzückende Ge- I fühl besonderer persönlicher Wichtigkeit für den Fall. Denn I sie wußten ja viel mehr als alle anderen. Wenn man sie i nur gefragt hätte —! Aber Las fiel leider bisher keinem ' Menschen ein. „Wenn wir einfach heimlich zum Untersuchungsrichter' I gingen und ihm sagten, daß Fräulein Jela sich Kcher nur ! aus unglücklicher Liebe umgebracht hat?" meinte Bicky, ! die Vierzehnjährige. Aber die um ein Jahr altere Molly schüttelte bedenk- Rch den Kopf. „Papa würde es uns nie verzeihen! Außerdem könnte i es vielleicht Onkel Hans unangenehm sein." „Ach, dem geschähe es nur recht! Mag er sich dann ! nur Vorwürfe machen. Ich habe gar kein Mitleid mit ! ihm. Warum war er so grausam gegen die arme Jela! Immer sehe ich es noch vor Mr, wie er ihre Hand von sich abschüttelte und dann, unbekümmert um ihre Tränen, ! davonlief!" „Ja, es war sehr häßlich von ihm.* Sie saßen während Lieser Beratung auf ihrem Lieb- I lingsplätzchen, einem dürren Laubberg zwischen Glashaus > und Gärtnerei. Da kam der Gärtner eilig vom Hause her. Als er sie bemerkte, blieb er stehen und sagte: „Gehen Sie jetzt nicht ins Haus zurück, Leine Fräuleins. Es sind schon wieder Leute von -er Polizei da, die herumschnüffeln un- alle ausfragen. Die ganze Dienerschaft haben sie ins Leutezimmer zusammengetrommelt. und jeder soll einzeln ' befragt werden."