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Zeitgenössische Sammelobjekte Von F. Fleischmann, München Kein Blättchen ist so unscheinbar, Daß es nicht nimmt ein Sammler wahr. »Daß Du unter die Sammler gegangen bist, hat mich sehr amüsiert . . . Von dieser Krankheit werden heute so viele Menschen ergriffen, daß man manchmal verwundert den Kopf schüttelt und fragt, ob es denn tatsächlich nichts mehr auf der Welt zu tun gäbe als seine freie Zeit mit dem Sammeln von Briefmarken, Postkarten, Liebigbildern, Pferde- und Eisenbahnbillets, Zündholzschachteln usw. zuzu bringen . . .« So schrieb mir vor anderthalb Jahrzehnten ein Freund, der inzwischen — selbst unter die Sammler gegangen ist. Denn wer sammelt heute nicht? Und was wird nicht alles gesammelt? Noch nie war der Sammeleifer, um nicht zu sagen die Sammelwut, so allgemein und auf so vielen Gebieten tätig wie heute, wo die weitesten Volkskreise, die früher dem Sammelwesen gänzlich fern standen, davon ergriffen sind. War vor zwei und drei Jahrzehnten die auch heute noch nicht außer Kurs gesetzte Briefmarke besonders beliebt und gefragt, so sind in der neueren Zeit viele neue Sammel objekte beliebt, für die früher niemand ein Auge gehabt hätte. Nicht wenig hat dazu das außerordentliche Reklame bedürfnis im Verein mit der neuen künstlerischen Bewe gung beigetragen, weich' letztere zur Folge hatte, daß viele vordem unbeachtete und vernachlässigte Dinge künstlerische Ausführung erhielten, die die Aufmerksamkeit auf sie lenkte und ihre Verschleuderung hintanhielt. Diese allgemeine Sammelbetätigung kommt der Papier- und Druckindustrie zugute, denn die meisten zeitgenössi schen Sammelobjekte sind ihre Erzeugnisse. Halten wir nun unter diesen Umschau.' 1. Die Ansichtspostkarte ist das ausgesprochenste Sammelobjekt der Gegenwart ge worden, von dem mit Recht gesagt werden konnte, daß ein neuer Noah seine ausgesandten Tauben statt mit einem Oelzweig mit Ansichtskarten im Schnabel zurückkehren sehen würde. Ist sie doch überall zu finden: in der Stadt wie auf dem Dorfe, auf den Bergen wie in den Tälern, auf der Eisenbahn und dem Schiffe. Kein Oertchen dünkt sich mehr so weltfern und vergessen, daß es nicht seine An sichtskarte hätte. Fast in jedem Hause hat sie sich einge bürgert und ein Bedürfnis hervorgerufen, dessen Befriedi gung Hunderte von Maschinen und ungezählte Hände in Bewegung setzt. Ihr Sammeln ist deshalb schon längst keine Spielerei mehr, sondern von erheblicher Bedeutung für die genann ten und weitere Industriezweige, z. B. die Albumfabrikation geworden. Die Geschichte der Ansichtspostkarte zählt erst wenige Jahrzehnte. Zweifellos hat die Glückwunschkarte, die außer der eigentlichen Wunschformel auch allerlei bildlichen Schmuck, oft recht zweifelhafter Art, aufwies und die heute ja auch ihre Verfeinerung und künstlerische Wiedergeburt erlebt hat, zu ihrer Entstehung beigetragen. Auch die ehe dem so beliebten und nun von der Ansichtskarte ver drängten Leporellobilder mit ihren Ansichtsreihen dürften vorbildlich dafür gewesen sein. In Deutschland wird A. Schwartz, der Inhaber der Schulze’schen Hofbuchhand lung in Oldenburg, als derjenige bezeichnet, der als erster die von Generalpostmeister Stephan am i. Juli 1870 in Norddeutschland amtlich eingeführte Korrespondenzkarte mit bildlichem Schmuck versah, erst einzeln und für seine Freunde, dann in größerer Auflage für den Handel. Diese ersten mit Holzschnitten verzierten Karten fanden wohl Nachahmung, jedoch vorerst keine weite Verbreitung, denn die Postverwaltungen legten der neuen Erscheinung mancherlei Beschränkungen auf. Inzwischen brachten schweizerische Kunstanstalten von ihrem landschaftlich so hervorragend begünstigten Lande Ansichten auf Postkarten in Umlauf. Ihrem Beispiele folgten, als diese Karten willige Abnehmer fanden, deutsche und österreichische Firmen, und so. mehrten sich die Ansichtspostkarten, die als Er innerung an besuchte Orte und Gegenden gerne gekauft wurden. Künstlerische Ansprüche wurden an diese ersten und eigentlichen Ansichtspostkarten nicht gestellt. Sie wurden lithographisch in recht handwerksmäßiger Weise hergestellt, einfarbig sowohl als bunt, und wie auf die Schönheit, so wurde auch auf die Treue der Darstellung nicht viel Sorg falt verwendet. Da es den damals für solche Zwecke wenig vorgebildeten Lithographen viele Schwierigkeiten bereiten mochte, die Großartigkeit und Majestät eines Gebirgs panoramas oder den Blick auf eine vieltürmige Stadt auf den beschränkten Raum einer Postkarte oder ihrer Hälfte zu bringen, so entstanden Bilder, die an die Phantasie der Empfänger große Anforderungen stellten. Die großen Fortschritte der Photographie und der auf ihr beruhenden Vervielfältigungsverfahren gegen Ende des 19. Jahrhunderts, die hierdurch bewirkte Entwickelung der graphischen Kunstanstalten, nicht zuletzt die bessere Aus bildung der Lithographen, waren von großem Einflüsse auf die junge Postkartenindustrie, die durch ihr Aufblühen wiederum jene förderte. Neben der Lithographie wurden nun auch Buchdruck, Lichtdruck, Kupferdruck und Photographie zur Herstellung von Ansichtspostkarten herangezogen, während anderseits sich Künstler in ihren Dienst stellten. Den Originalen von Künstlerhand wurde sodann künstle rische Wiedergabe zu teil, die durch die Ausbildung des typographischen Drei- und Vierfarbendrucks einen hohen Grad der Vollendung erreichte. Die unkünstlerische und handwerksmäßige Lithographie beherrschte zwar noch lange den Markt, aus dem sie auch heute noch nicht ganz verschwunden ist und wohl auch nie gänzlich verschwinden wird, allein die Käufer unter schieden allmählich doch die guten Karten von den minder wertigen, wozu die Unterstützung, welche die künstlerischen Karten durch Preisausschreiben und Ausstellungen erfuhren, wesentlich beitrug Von Deutschland ausgehend, hat sich die Ansichtspost karte auch das Ausland erobert, und es wird nicht viele der Kultur erschlossene Gebiete geben, wo sie noch nicht Fuß gefaßt hat. Sie hat durch die Möglichkeit, auf ver hältnismäßig kleinem Raume die Schönheiten und Eigenart eines Ortes oder einer Gegend wiederzugeben, dem Reisen einen neuen Reiz verliehen, denn sie gestattet, die Eigen art eines bereisten Landes auch den zurückgebliebenen Lieben und Freunden zu vermitteln und dabei das um ständliche und zeitraubende Briefschreiben zu umgehen. Das wird noch begünstigt durch die Billigkeit der überall erhältlichen Karten und die Leichtigkeit, mit der sie auf dem Postwege in alle Winde gehen können. Diese leichte Art der Vermittelung führte zu sehr viel seitiger Verwendung der Ansichtspostkarte. Man erblickte in ihr ein willkommenes Werkzeug zur Förderung des Kunstsinnes, denn kein Gegenstand eignet sich besser zur Massenherstellung und ist mehr geeignet, den Geschmack der großen Menge zu bilden und diese für Schönheit und Kunst empfänglich zu machen, als die billige Postkarte, die in alle Hände kommt. So wurde sie der Kunst dienst bar und feierte als Künstlerpostkarte, welche, selbst ein kleines Kunstwerk, bedeutende Kunstwerke aus alter und neuer Zeit wiedergab, neue Siege. Aus der Ansichtskarte, die Orte, Gegenden oder Bau denkmäler darstellte, wurde so die Bildkarte, welche alles Darstellbare in ihren Bereich zog. Das öffentliche und gesellschaftliche Leben mit seinen Tagesvorfällen bieten überreichen Stoff zur Darstellung auf der Postkarte Es gibt kaum ein Gebiet, dessen sie sich nicht bemächtigt hätte; selbst das Heiligenbild wanderte auf die Postkarte. Alle diese Umstände ließen sie zur »Gelegenheitskarte«