Volltext Seite (XML)
Politische Rundschau. Deutschland. * Der Kaiser vahm ani Freitag abend an dem Diner teil, das der Oberpräsident Staats minister v. Achenbach den Mitgliedern des Brandenburgischen Provinzial landtages gab. *Dcr ,Reichsanzeiger' veröffentlicht eine Danksagung des Kaisers für die ihm zu seinem Geburtstage zugcgangenen Glückwünsche. * Der Kaiser empfing am Donnerstag die beiden neuen Bischöfe Willi (Limburg) und Erhart (Fulda) in Audienz. *Die alten Gerüchte von einer Ein mischung Deutschlands auf den Phi lip Pinen werden von unterrichteter Seite nochmals auf das bestimmteste widerlegt. Den .Times' wird nämlich aus Philadelphia vom Mittwoch gemeldet: Der deutsche Botschafter in Washington, Dr. von Holleben, habe die Ver- öffentlichung einer Unterredung mit einem Be richterstatter erlaubt, in welcher der Botschafter jeden Gedanken einer Einmischung Deutschlands in das Vorgehen der Amerikaner auf den Phi lippinen zurückweift uud sagt, Deutschland habe nie auch nur einen Augenblick lang den Gedan ken gehegt, sich ein Gebiet auf den Inseln zu sichern. *Der Reichskanzler veröffentlicht eine Be kanntmachung des Bundesrats, nach der sür die Einrichtung und den Betrieb der Roß haarspinnereien, Haar- und Bor- stenzurichtereien sowie der Bürst en- und Pinselmachereien nähere Vor schriften getroffen werden, die den beteiligten Arbeitern eine bessere Sicherung gegen gefähr liche Krankheitsstoffe gewähren sollen. Die Ver ordnung schreibt zu diesem Zweck eine Des infizierung der aus dem Auslande bezogenen Pferde- und Rinderhaare 2c. vor und verbietet die Verwendung jugendlicher Arbeiter bei den hierzu erforderlichen Verrichtungen. Für größere Betriebe werden sodann noch ins einzelne gehende Bestimmungen über die Errichtung und Instandhaltung der Fabrikräume erlassen, die ebenfalls einen besseren Schutz der Gesundheit der Arbeiter gegen die Gefahren dieser Fabri kation gewährleisten sollen. *Der lübeckische Staat hat durch Beschluß des Senats und der Bürgerschaft nun gleichfalls die Entschädigung für un schuldig Verurteilte gesetzlich festgelegt. *Den Beamten in Ostafrika wird laut kaiserlichem Erlaß ein militärischer Rang nicht mehr verliehen werden, nach dem mit der fortschreitenden Entwickelung des Schutzgebiets der Wirkungskreis der Zivilver- waltung gegenüber den Aufgaben der Schutz truppe eine bestimmtere Abgrenzung erfahren hat. Oesterreich-Ungarn. *Die Vertagung des österreichi schen Reichsrats hat unter den Abge ordneten aller Parteien große Aufregung hervorgern fen. Die Linke will eine gemeinsame Protestkundgebung der deutschen Oppositions parteien an die Wählerschaft richten. Die deut schen Oppositionsblätter kündigen an, daß die Deutschen, ohne welche zu regieren in Oester reich unmöglich sei, nunmehr alle Wege, welche gegen sie führen, rücksichtslos ver sperren werden, um den gerechten und viel zu lange verkannten Wünschen der deutschen Völker in Oesterreich die ihnen gebührende volle Geltung zu verschaffen. Halbamtlich verlautet, daß nunmehr die Regierung die Lantage einbe rufen und, falls möglich, eine Ausgleichsaktion in Böhmen und Mähren betreiben wird. Frankreich. * Pariser Privatmeldungen zeigen deutlich, daß auch eine Ueberweisung der Revision an dengesamten Kassationshof die Anti-Revisio nisten und Monarchisten nicht zur Ruhe bringen würde. Cassagnac erklärt bereits, die ver einigten Senate des Höchsten Gerichts seien bereits ebens 0 verdächtig, wie der Strafsenat; zuverlässig und unverdächtig sei nur noch das Kriegsgericht von sieben Offizieren. * Die Nationalisten kündigen d^Re- gierung die Heeresfolge in der DreyMis- fache, weil Dupuy und Lebret, dem Wunsche der parlamentarischen Kommission willfahrend, die Rechtfertigung der angegossenen Kriminal kammer vor der Kommission gestatteten. Diese ' Rechtfertigung soll zunächst im schriftlichen Wege erfolgen. *Jn der Deputiertenkammer wurde die Dringlichkeit für den Gesetzentwurf angenommen, wonach den Mitgliedern der Expedition Marchand ein Nationalgeschenk in Form einer lebenslänglichen Pension zu- geteilt werden soll. Schweden-Norwegen. *König Oskar wird, wenn er voll ständig genesen ist, eine Erholungsreise nach dem Süden antrcten. Der König ge denkt am 1. k. nach Biarritz abzurciscn. Gleich zeitig wird die Königin sich nach Honnef am Rhein begeben. Spanien. *Aus Madrid wird der ,Jnt. Korr.' ge meldet: Die nordamerikanische Negierung hat der spanischen Negierung den überraschenden Vorschlag gemacht, sie wolle die spanischen Truppen, sowie alle spanischen Ge fangenen, welche sich noch auf den Philippinen befinden, auf Kosten der Ver. Staaten nach Spanien zu rück b e f ö r d e r n. Offenbar befürchtet man in Washington, daß die fernere Anwesenheit von Spaniern auf der Inselgruppe die Filipinos in ihrem Widerstande bestärken könne. Balkanstaaten. *Der Sultan hak an den Fürsten von Bulgarien eine in sehr warmen Aus drücken gehaltene Beileidsdepesche ge richtet und dem Fürsten gleichzeitig mitgeteilt, daß er einen Hofwürdeuträgcr mit einem Hand schreiben für den Fürsten nach Sofia entsandt habe. Der F ü r st v 0 u M 0 n t e u e g r 0 hat gleichfalls eine Beileidsdcpcsche gesandt und eine dreiwöchige Hoftrauer angesagt. Wahrscheinlich haben auch andere Potentaten ihr Beileid aus- gedrückt; der Telegraph berichtet aber nichts davon. Amerika. *Mac Kinley soll so abgespannt sein infolge des hartnäckigen Widerstandes des Senats gegen den Friedens ver trag, daß seine Gesundheit angegriffen er scheine. Anderseits hat Mac Kinleys Sekretär mitgeteilt, der Präsident sei müde und ange griffen wegen der schweren Aufgabe, die infolge des Krieges und der nachfolgenden Entwickelung der Dinge auf ihm gelastet habe; es sei jedoch nicht wahr, daß er in Gefahr sei, zusammen zubrechen. Die Gesundheit des Präsidenten sei ganz gut, er bedürfe nur ein wenig der Ruhe. * Die seit einiger Zeit drohenden Unruhen inUruguay sind nunmehr thatsächlich zum Ausbruch gekommen. Nach einem Telegramm aus Montevideo ist gegen den erwählten Präsi denten Cuestas eine aufständische Bewegung seitens der Partei der Kolorados ausgebrochen. Ein Trupp von 200 Mann landete bei Carmelo und bemächtigte sich der Stadt. Afrika. *Jn Prätoria ist eine Konferenz von Abge ordneten der Südafrikanischen Re publik und des Oranje-Freistaates zusammengetreten, welche die staatlichen Ein richtungen beider Republiken in engere Ueberein stimmung bringen soll. Asien. *Die Nachrichten aus Peking, wonach die Kaiserin-Witwe bereits einen Thron folger ausgewählt hat, lassen vermuten, daß der durch die letzte Palastrevolution allen Ein flusses beraubte junge Kaiser Kuang- H s ü demnächst der „Krankheit", deren tödlicher Ausgang schon damals in höchst verdächtiger Weise angekündigt wurde, bald erliegen wird. Der Kaiser ist noch immer in seinem, mitten in einem Teiche gelegenen kleinen Pavillon im west lichen Teile des Palastes eingesperrt; die Zug brücke, die nach dem Lande führt, darf er nur überschreite», wenn die Kaiserin ihn zu sehen wünscht. Das Eis, das sich jetzt um den Pavillon bildet, wird sofort wieder zertrümmert, damit sich nicht etwa eine verdächtige Person dem Kaiser nahen könne. Deutscher Reichstag. Am 3. d. wird die zweite Etatsberatung bei der Post- und Telegraphen-Verwaltung fortgesetzt. Die Beratung beginnt mit den Einnah men. Im Titel 1 sind die Porto- und Telegraphen- gebühren mit 335^2 Millionen (27Vz Millionen mehr als im Vorjahre) eingestellt. Abg. Müller-Sagan (fr. Vp.) spricht den Wunsch aus, daß die Vorlage, welche u. a. auch die Erhöhung des Meistgewichts für gewöhnliche Briefe von 15 auf 20 Gramm enthalte, recht bald an den, Reichstag gelangen möge und befürwortet noch weiter gehende Erleichterungen bei der Beförderung von Drucksachen und Vervollkommnung der Fernsprech einrichtungen. Das Bestellgeld für gewisse Post sendungen würde immer mehr als eine Unge rechtigkeit empfunden, namentlich auf dem Lande. Staatssekretär v. Podbielski: Ein Teil der Inkongruenzen sei bereits beseitigt. Die Vorschläge des Vorredners wegen der Drucksachen werde er in Erwägung ziehen. Uebcr die Telephongebühren sei ein neues Gesetz ausgearbeitet worden, das er bereits dem Bundesräte vorgelegt habe. Im Telcphonwesen würden noch weitere Ermäßigungen geschaffen wer den, so Gesprächszähler für solche Teilnehmer, die den Apparat selten benutzen; auch mit der Einfüh rung des Nachtdienstes sollen Versuche gemacht werden. Abg. Boeckcl (wilder Antis.) fordert die Ab schaffung des Strafportos. Die Postverwaltung maße sich eine Strafgewalt dabei an, die ihr nicht zustehe. Staatssekretär v. Podbielski erwidert, es handle sich nicht um eine Strafe, fondcrn um einen Zuschlag zu dem Porto, da unfrankierte Briefe der Post viel mehr Arbeit machen, als die frankierten. Abg. Graf Stolberg-Wernigerode (kons.) gibt der Hoffnung Ausdruck, daß die zu er wartenden Mehreinnahmen aus dem neuen Post zeitungstarif eine baldige Herabsetzung der Telephon gebühren für die kleineren Städte ermöglichen werde. Der Titel wird darauf bewilligt. Im Titel „Zeitungen" sind 5 220000 Mk. (250 000 Mk. mehr als im Vorjahre) eingestellt. Die Kommission (Ref. Abgl Paasche, nat.-lib.) bean tragt Bewilligung. Das Haus tritt diesem Beschlusse ohne Debatte bei. Die Einnahmen sind damit erledigt. — Bei dem Ausgabe-Titel „Staatssekretär" hält zunächst Abg. Lingens (Zcntr.) seine, eine Erweiterung der Sonntagsruhe für die Postbeamten befürwortende Rede. Er müsse anerkennen, daß schon viel in dieser Beziehung geschehen sei, aber es könne noch erheblich mehr gethan werden, namentlich im Interesse des katholischen Teils der Beamtenschaft. Abg. Singer (soz.) schließt sich dem Wunsche des Vorredners an. Oft bekämen leider auch heute noch Postbeamte monatelang nicht die volle Sonn tagsruhe; es sei daher au der Zeit, eine Enquete über die Durchführung der Bestimmungen über die Sonntagsruhe anzustellen. Redner verliest Ver fügungen der Oberpostdirektoren zur Ausführung eines gegen die Zeitung der ,Postbote' gerichteten Erlasses, deren einzelne Stellen von der Rechten mit Beifall ausgenommen werden. Redner bemerkt darauf, es sei erklärlich, daß den Herren diese kavalleristischc Behandlung der Unterbeamten gefalle, im Lande glaube mau aber, diese Erlasse seien nur der Aus-e fluß der blöden Furcht vor dem Inhalt des .Post boten', weil man eben die Wahrheit nicht hören wolle. In einem anderen Erlasse, in dem den Unterbeamten das Wohnen in Häusern verboten worden ist, in denen Arbeiter wohnen, bringe erst recht den Hochmut der Postverwaltung zum Ausdruck. Könne man denn in höhnenderer und verletzenderer Weise gegen die Unterbeamten Vorgehen? Vizcpräs. Schmidt: Ich kann nicht dulden, daß Sie in solchem Ton von der Postverwaltung sprechen. Ich rufe Sic deshalb zur Ordnung! Abg. Singer bringt darauf die Strafversetzung eines Postschaffners in Braunschweig zur Sprache, der 21 Jahre im Dienst gewesen, weil er zu Kollegen ge äußert hatte: Wählt bloß, und weil seine Behörde, die das als „Wählt Blos" gedeutet, ihn sozialdemokra tischer unsittlicher Bestrebungen beschuldigte. Dies Urteil enthalte doch eine gehässige Verhetzung. Vizepräs. Schmidt ruft den Redner wegen dieses Wortes zum zweiten Male zur Ordnung und macht ihn auf die geschästsordnungsmäßigen Folgen aufmerksam. Abg. Singer (soz.) schließt mit der Erwartung, daß das Urteil gegen den Beamten aufgehoben wer den würde. Staatssekretär v. Podbielski erwidert, er könne die Angriffe des Vorredners einfach zurück weisen. Blöde Furcht kenne er nicht. Er werde seine Maßnahmen durchführen, ob der Reichstag versammelt sei oder nicht. Nun und nimmer werde er dulden, daß ein Sozialdemokrat Beamter bleibe. Er werde immer nur seine Pflicht thun, wenn er solche Leute aus den Reihen der Beamten entferne. Welchen Weg ich immer dabei gehe, ich bin mir be wußt, daß ich nicht gegen das Gesetz verstoße. Ich nehme aber selbst die Verantwortung für solche Maßregelungen, auf mich, ich überlasse sie nicht den Behörden. Beamte, die sich vertrauensuuwürdig zeigen, die sich von dritten Personen beeinflussen lassen, können nicht länger geduldet werden. Es wird aber immer der Versuch gemacht, Agitationen in die Beamtenschaft zu tragen. Das ist auch seitens des Verbandes dec Postnnterbcamten geschehen. Herr Singer hat den.Postboten' als Organ dieses Ver bandes bezeichnet. Dies war einmal beantragt wor den, der bezügliche Antrag ist jedoch ocMi Verbände abgelehnt worden. Ich übernehme die volle Verant wortlichkeit auch für die Kündigung von Beamten, die aber nicht wegen der Zugehörigkeit zum Ver bände erfolgt ist, wie es der.Vorwärts' fälschlich dargestellt hat, sondern wegen des Lesens des ,Postboten'. Daß sie auf diesen abonniert waren, war durch einen Zufall herausgekommen. Verboten hatte ich übrigens den .Postboten' nicht, ich habe nur vor ihm gewarnt, aber ich erwarte, daß meiner Warnung Folge gegen wird. Dem Postassistenten-Verband bin ich von Anfang an mit Wohlwollen entgegcngetreten; um so mehr mußte es mich überraschen, daß dieser Verband einen wegen erheblicher dienstlicher Vergehen entlassenen Beamten zum Ehrenmitglied gewählt hat. Die Ver bände mögen existieren, aber wenn sie gegen die Verwaltung vorgehen, dann löse ich nicht die Ver bände auf, sondern ich verbiete die Mitgliedschaft. Abg. v. Kard 0 rff (freikous.) dankt dem Staats sekretär für seine entschiedene Sprache gegenülxr den Sozialdemokraten. Lange habe man solche Sprache vom Bundcsratstisch nicht mehr gehört. Hoffentlich nehmen sich die anderen Staatssekretäre diese Sprache zum Muster. In der großen Armee der Post müsse die Disziplin mit allen Mitteln aufrcchterhalten werden. Bei den Sozialdemokraten fliegen die Ge nossen ja auch bei ganz geringen Anlässen heraus. Abg. Werner (Antis.) wünscht baldige allge meine Einführung einer leichten Sommerkleidimg für die Beamten, und tritt dann für den oft zn Unrecht geschmähten Postassistenten-Verband ein, der nichts weiter bezwecke, als die wirtschaftliche Hebung der Mitglieder, unter Pflege der Treue zu Kaiser und Reich. Auch der .Deutsche Postbote' werde falsch beurteilt. Artikel sozialdemokratischer Tendenz seien in demselben nicht erschienen. Darauf wird die Weiterberatung vertagt. Kandtaq. Am Freitag setzte das Abgeordnetenhaus die zweite Etatsberatung fort und erledigte den Etat der Gestütsverwaltnng und in zweiter Lesung die Vorlage betr. Regelung der Synagogenverhältnisse in Frankfurt a. M. Daraus folgte in erster Beratung der Gesetzentwurf betr. die Fürsorge für Hinter bliebene von Volksschullehrern. Die Vorlage wurde von allen Parteien freundlich begrüßt. Abg. Dittrich (Ztr.) betonte bei dieser Gelegenheit die Notwendig keit der Vorlegung eines Volksschulgesctzes. Die Vorlage wurde einer Kommission überwiesen. Uon Uah und Fern. Hechingen. Es ist gegründete Hoffnung vorhanden, daß der Kaiser diesen Herbst einige Tage auf seiner Stammburg Hohenzollern zu bringen wird. Es wird davon gesprochen, daß die diesjährigen Kaisermanöver zwischen dem württembergischen und badischen Armeekorps sich auf die hiesige Gegend erstrecken sollen und der Kaiser dann aus diesem Anlasse hier anwesend sein werde. Lübeck. Nach LOOjährigem Prozeß zwischen Mecklenburg und Lübeck sind letzterem die Hoheits rechte über den Dassower See zuerkannt; da nachgewiesen ist, daß der See während des Prozesses ganze Landgebiete an sich gerissen, strengte Mecklenburg den Prozeß abermals an, weil Lübecks Hoheitsrecht sich nur auf die eigent liche Tiefe des Sees, nicht auf das Ueber- schwemmungsgebiet erstrecke. Kevelaer. Ueber den gewaltigen Fremden verkehr in dem bekannten niederrheinischen Wall fahrtsorte wird berichtet: Im Jahre 1898 trafen 231 510 Personen mit der Bahn ein; die zu Fuß angekommenen Besucher hinzugerechnet, ergibt sich eine Frequenz von 270000—280000. In Berücksichtigung dieses Verkehrs braucht man sich nicht zu wundern, daß das kleine Kevelaer alle modernen Einrichtungen einer Groß stadt besitzt. Am Norabend der Hochzeit. LOj Roman von Helene Stökl. IForNeyünq.) „Ja, Herr Präsident, den Zeugen aus Buenos Ayres," war die feierliche Antwort, die der Staatsanwalt gab. Der Zeuge aus Buenos Ayres legte einen Brief von Dr. Baumann vor, in welchem dieser seine Absicht aussprach, am 28. Juni 1885 ab zureisen, um seine Stellung so bald wie mög lich anzutreten, und wies ferner aus amtlichen Bescheinigungen des Konsulats nach, daß Doktor Baumann bis zum 3. August 1889, wo er, der Zeuge, Buenos Ayres verließ, um seine Angabe vor Gericht zu machen, seine Stellung an dem dortigen deutschen Hospital nicht an getreten hatte. Jetzt aber trat ein Slillstand in der Ver handlung ein. Vierzehn Kohlenwagen und zwei Lokomotiven vcrspenten mit ihren Trümmern den Schienenstrang von Neudorf und die Zeugen von dorther' können vor fünf Uhr nicht eimreffen. Demgemäß wird die Sitzung auf den nächsten Tag neun Uhr vertagt. „Haben Sie einen Kalender vom vorigen Jahre bei der Hand?" fragte Rechtsanwalt Hallbcrg seinen Kollegen Mellien, als er mit diesem den Gerichtssaal verließ. Als Mellien den Kalender brachte, zeigte es sich, daß der Mond vom 23. August 1886 fast gleich mit dem vom 28. Juni 1884 war. „Wir wollen heute nacht auf die Brücke gehen," sagte Hallbcrg, „und uns durch eigene Anschauung davon überzeugen, ob das Mädchen das, was es gesehen zu haben vorgibt, wirklich sehen konnte oder nicht." Um die festgesetzte Stunde trafen sie auf der Brücke zusammen, Rechtsanwalt Hall berg blieb auf derselben stehen, während sein Gefährte den Pfad bis zu den wieder holt von Käthe Rallas beschriebenen drei Weiden entlang ging. Dort gab er sich den Anschein, als würfe er einen Gegenstand und als stieße er den leblosen Körper desselben in das Wasser. Der Mond stand voll über der Stadt und seine Strahlen beleuchteten den Platz am Fuße der drei Weidenbäume fast mit Tageshelle. Als Mellien zu Hallberg zurückkehrte, fand er den selben nachdenklich über das Geländer gelehnt, wie das Mädchen es in der Nacht gethan haben mochte. „Sie konnte sehen," sagte er niedergeschlagen, „denn ich kann sehen. Blicken Sie nach den Weidenbäumen hin, man kann jedes einzelne Blatt deutlich an ihnen unterscheiden. Das Mädchen Hat die Wahrheit gesprochen." Mellien sah einen Augenblick lang aufmerk sam nach den Weiden hin, dann stieß er plötzlich einen lauten Schrei der Ueberraschung und der Freude aus. „Sie bat gelogen, Herr Kollege, sie hat ge logen! Und wir können es ihr beweisen!" 19. Am nächsten Tage ist der Gerichtssaal wo möglich noch mehr besetzt, als am Tage zuvor, denn obgleich die meisten der in der Gerichts- Praxis erfahrenen Leute erklären, daß der Fall so gut wie entschieden sei uud nichts mehr fehle als der Spruch der Geschworenen, so will doch jedermann zugegen sein, wenn eben dieser Spruch über den jungen, reichen Gutsherrn gefällt wird. Heinrich von Lestow sieht noch angegriffener aus, als am Tage vorher, und der müde, apathische Blick, den er über die neugierige Menge schweifen läßt, wenn er sein Gesicht nicht in der Hand verbirgt, zeigt nur allzu deutlich, daß er selbst die Hoffnung auf einen günstigen Ausgang der Verhandlung aufgegeben habe. Die Zeugen aus Neudorf sind eingetroffen, sie werden beeidet und bezeugen nacheinander Marthas Entführung, das in Umlauf gesetzte Gerücht von ihrem Tode und ihre geheime Heirat mit dem Angeklagten, obwohl Rechtsan walt Hallberg eine nochmalige gewaltsame An- strengu. g macht, diese Punkte von der Verhand lung auszuschließen. Er behält sich vor, noch einige Zeugen aufzurufen, und beginnt dann seine Verteidigungsrede. „Wir haben hier," so sagt er nach den üblichen einleitenden Worten, „wir haben hier einen Mord vorliegen, aber ohne Ermordeten. Auch nicht der kleinste Teil eines Leichnams beweist, daß überhaupt ein Mord stattgesunden hat. Ich bitte Sie, meine Herren Geschworenen, diesen Umstand fortwährend vor Augen zu behalten. Die Anklage beruht einzig und allein auf der durch nichts unterstützten Aussage einer Zeugin und auf einer Reihe zufälliger Umstände. Ohne die Aussage der Zeugin würde die ganze Ange legenheit einfach in nichts zerfließen. Lassen wir nun die Beweise, welche die Umstände zu ergeben scheinen, einen nach dem andern an uns vorüberziehen. Sie sind eine Reihe von Nullen, wie ich Ihnen darlegen zu können hoffe. „Zunächst also: ein Hut ist aufgefunden vor- den, dessen Krempe eine Beschädigung hat! „Wenn Sie diesen Saal verlassen, mein« Herren Geschworenen, so bitte ich Sie, Ihre eigenen Hüte genau^ansehen zu wollen, ob der eine oder der andere davon vielleicht einen nicht ganz unbeschädigten Rand hat, und sollte dies der Fall sein, so fragen Sie sich, ob eine solche Zufälligkeit wohl genügend wäre, um darauf die Anklage des Mordes gegen einen Ihrer Neben-- menschen zu erheben. Sie müssen zugeben, daß dies einfach lächerlich wäre. Wie leicht kann der Riß durch einen Stoß in einem Omnibus, durch einen Fall, ein Hängenbleiben, oder durch irgend einen der tausend kleinen Unfälle, die auf Reisen vorzukommen pflegen, entstände« sein! , „Ich komme jetzt mit Bedauern auf jenen Teil der Anklage zu sprechen, der sich auf die geheime Heirat des Angeklagten bezieht. Der Herr Staatsanwalt hat es sür gut befunden, den Namen einer Dame, den niemand ohne Achtung nennen kann, hier in die Verhandlung des Gerichtshofes hineinzuziehen. Au welchem Zwecke? „Zum Beweise dafür, daß diese edle Frau einen Meuchelmörder heiratete, um ihn vor den Folgen seiner That zu schützen, — zum Beweise dafür, daß sie ihre reine, schuldlose Hand in die von Freundesblut befleckte Hand eines feige« Mörders legte! „Der Alaun, der dort zwischen Leben und Tod zittert, war öffentlich mit ihr verlobt und