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Politische Rundschau. Deutschland. *Der ,Reichs-Anzeiger' veröffentlicht einen Dankerlaß des Kaisers für dem Monarchen aus Anlaß seines Geburtstages dar gebrachten Huldigungen und Glückwünsche. „Den schönsten Lohn Meiner Lebensarbeit," so heißt es in dem Erlaß, „erblicke Ich in der Liebe und Dankbarkeit des deutschen Volkes, welches diese Gefühle seinem ersten Kaiser, Wilhelm dem Großen, in so reichem Maße entgegengebracht hat und sich gegenwärtig anschickt, seiner Ver ehrung für den Verewigten noch über das Grab hinaus durch eine nationale Feier der hundert jährigen Wiederkehr seines Geburtstages würdigen Ausdruck zu geben." * Anläßlich der Uebergabe der vom Kaiser Nikolaus seinem preußischen Alexander Garde-Grenadier-Regiment verliehenen Fahnen- bänder durch einen russischen Flügeladjutanten, brachte Kaiser Wilhelm bei der darauf folgenden Frühstückstafel einen warm gehaltenen Trinkspruch auf den Zaren aus, wobei er daran erinnerte, daß letzterer aus freier Entschließung an der Spitze dieser Fahnen seinen Einzug in Breslau gehalten habe. * In der Donnerstagssitzung desBundes - rats wurde u. a. dem Anträge betreffend Be schränkung der Einfuhr aus Asien zur Ver hüt u u g der Einschleppung der Pest sowie dem Ausschußantrage zu dem Gesetzentwurf be treffend die Abänderung vonÄrbeiter- versicherungsgesetzeu die Zustimmung erteilt. *Die Schwierigkeiten, die sich den Beratun gen im Bundesrat über die Militärstraf prozeßreform entgegenstellen, rühren, wie die Münchener ,Allg. Ztg.' vernimmt, nicht da her, daß die preußische Vorlage Bayern nicht liberal genug wäre; den Stein des Anstoßes bilde vielmehr die Frage der richterlichen Zentral instanz. Es beständen indessen keine ernstlichen Zweifel darüber, daß schließlich ein Kompromiß zu stände kommen werde. * Der Entwurf einer neuenSeemanns- ordnung, die an die Stelle der Seemanns ordnung vom 27. Dezember 1872 treten soll, dürfte dem Bundesrat in diesen Tagen zugehen. Dem Entwurf werden, wie die ,Post' hört, auch die gutachtlichen Acußerungen der beteiligten Handelskammern über einzelne wichtige Punkte beigesügt werden, so z. B. Liber die Frage der Abstellung von Mißbräuchen in Verbindung mit dem Institut der Heuerbase. Man nimmt an, daß sich auch der Reichstag mit diesem Ent wurf noch in seiner gegenwärtigen Tagung wird beschäftigen können. *Jn betreff der zollpolitischen Zu geständnisse an Rußland wird jetzt einiges nähere bekannt. Danach ist das Verbot der Einfuhr von Heu und Stroh aus Rußland dahin abgcändert worden, daß die Einfuhr von losem Heu und Stroh aus russischen seuchensreien Grcnzbczirken nach den preuß. Grenzbezirken gestattet ist und daß ferner Heu und Stroh in gepreßtem Zustande aus ganz Rußland zur Ausfuhr unter Plomben- verichluß in gedeckten Wagen zugclassen wird. Ferner ist Pferden, die ihren Standort in RußU nd haben, im kleinen Grenzvcrkehr oder zur Feldarbeit diesseits der Grenze, nach Unter suchung durch einen preuß. Tierarzt, die Uebcr- schreitung gegen eine vier Wochen gültige Ge- sundhcitsbelcheinigung gestattet. Die bezüglichen Anordnungen in den Grenzbezirken sind bereits ergangen. *Jn parlamentarischen Kreisen geht das Ge rücht, daß der Obcrpräfidcnt von Ostpreußen, Graf Bismarck, mit dem gleichen Amte für Schleswig-Hol st ein betraut und in Königsberg den früheren Minister des Innern Herrn v. Köller zum Nachfolger erhalten werde. *Die Erprobung der auf Helgoland fertiggestellten Seefestungsanlagen er gab die Notwendigkeit einer Verstärkung des dort garnisoniercnden Marincdetachements, wofür das bisherige dortige Kasernement ungenügend sei. Die Marine-Verwaltung beabsichtigt den Bau einer massiven Kaserne, deren Kosten auf 200060 Mk. veranschlagt worden find. l * Obwohl das Gesetz zur Bekämpfung des unlauteren Wettbewerbes erst kurze Zeit in Kraft ist, haben sich doch bereits ver schiedene Mängel und Unzulänglichkeiten des selben herausgestellt. Die Handelskammer zu Saarbrücken hat deshalb an den Deutschen Handelstag das Ersuchen gestellt, durch Umfragen bei seinen über das ganze Reich verteilten Mit gliedern Material zu sammeln, das die anscheinend bestehende Unzulänglichkeit des Gesetzes nach weist und mit praktischen Beispielen belegt, sowie auf Grund des Ergebnisses dieser Umfragen Anträge zu einer zweckentsprechenden Ergänzung bezw. Aenderung des Gesetzes auszuarbeiten. Frankreich. *Die Regierung hat nunmehr den neuen Entwurf einer Reform der direkten Steuern festgestellt. Dieser entlastet die ländlichen Gemeinden um mehr als 50 Mill. Frank; im besonderen befreit er die kleinen Steuerzahler hinsichtlich der Personal- und Mobiliarsteuer, sowie der Thür- und Fenster steuer etwa von der Hälfte der Lasten. Zur Deckung des Ausfalles wird die Uebergangs- steuer für Wertpapiere erhöht und eine Zu lassungsgebühr für diejenigen fremden Werte eingeführt werden, für welche diese Gebühr bisher nicht bezahlt wurde. * Wegen Spionage und wegen Dieb stahls einer neuartigen Kriegswaffe wurde in der Pariser Vorstadt Lacallois-Perret der Student der Pharmacie Plauffaulle, ein ehemaliger Artillerie-Unteroffizier, samt seiner Geliebten verhaftet. England. *Jm englischen Unterhause wurden am Donnerstag ziemlich starke militärische Rüstungen angekündigt. Der Parlaments- Sekretär des Kriegsamtes erklärte, im Etat des Kriegsamtes werde vorgeschlagen, die Garde um zwei Bataillone zu vermehren, drei Garde- Bataillone im MittelländischenMeere zu stationieren, die Hochländer um ein Bataillon zu vermehren, ein weiteres Regiment Artillerie für Malta auszuheben, ferner das Regiment in Westindien um ein Bataillon zu vermehren, die Garnisons-Artillerie um 3400 Mann zu erhöhen und eine Feld-Batterie zur Vervollständigung des Bestandes der drei Armee korps auszuhcben. * Bei sämtlichen Nachwahlen der letzten Zeit war eine Zunahme der liberalen Stimmen zu beobachten. In Waltamstow, das bisher durch einen Konservativen vertreten war, wurde der Liberale Woods mit 6518 gegen 6239 Stimmen gewählt. Bei der Wahl von 1895 hatten die Konservativen in diesem Wahl kreise eine Mehrheit von 2353 Stimmen. Spanien. *Der Ministcrrat hat das Reform projekt für Cuba angenommen und der Königin-Regentin zur Unterzeichnung unterbreitet. Der Zeitpunkt der thatsächlichen Einführung der Reformen bleibt von dem Stande des Krieges auf Cuba abhängig. Balkanstaaten. * Die russische Regierung hat die Pforte um Erlaubnis ersucht, nach den berühmten Klöstern des Athosberges eine wissenschaftliche Expedition entsenden zu dürfen. Die Pforte hat diesem Gesuch nicht ge willfahrt mit der Begründung, daß sie bei der unruhigen Lage in Makedonien keine Verant wortlichkeit zu übernehmen vermöge. (Man bringt die Weigerung der Pforte damit zusammen, daß erst vor einiger Zeit die Mitglieder einer gleichfalls sich als wisscntschaftlich angcmcldeten Expedition sich als russische Offiziere und Soldaten entpuppten und daß eines der Klöster bereits einen russischen General beherbergt.) * Aus Kreta sind neue schlimme Meldungen bisher nicht eingelaufcn. Die fremden Panzerschiffe kreuzen beständig an den kretensischcn Küsten, um durch ihr Erscheinen auf die mohammedanische Bevölkerung einzu wirken. Der Gouverneur von Kreta hat sich nach Rethymo begeben. Afrika. *Auf die Angriffe Chamberlains im eng lischen Parlament hat sich der Transvaal- PräsidentKrüger in würdiger und fester Weise einem Zeitungsberichterstatter gegenüber geäußert. Er müsse seine ernste Mißbilligung darüber aussprechen, daß die sog. Uitlauder- Bcschwerden mit dem Einfall der Leute von der Chartered Company vermengt' werden. Da gibt es kein Weißwaschen, da keinerlei örtliche Ur sachen vorhanden waren, die den Einfall recht fertigen konnten. „Ich habe stets allen meinen Einfluß ausgcübt und übe ihn noch aus, um den Rassenhaß in Südafrika zu mildern, aber die neuerlichen Auslassungen auf der anderen Seite gießen Oel ins Feuer." Aus dem Reichstage. Die Beratung des Antrags Auer (soz.) u. Gen. bctr. allgemeine Einführung des achtstündigen Arbeitstages wurde am Donnerstag begonnen, aber noch nicht zu Ende geführt. Abg. Fischer (soz.) be gründete den Antrag. Abg. Hitze (Zentr.) begründete einen Gegenantrag des Zentrums, welcher die Arbeitszeit für erwachsene Arbeiter in den Fabriken auf höchstens 63 Stunden in der Woche beschränken wollte. Die Abgg. v. Heyl (nat.-lib.i und v. Stumm (kons.) vertraten den Standpunkt, daß die Regelung der Arbeitszeit der freien Vereinbarung zwischen Arbeitgeber und Arbeiter Vorbehalten bleiben müsse. Auch der Abg. Schneider (frs. Vp.) wandte sich gegen eine gesetzliche Schablone zur Regelung der Arbeits zeit in der Industrie. Schließlich kam die Debatte auch auf die Bäckerinnung. Am 5. d. wird die zweite Etatsberatung fort gesetzt beim Spezialetat Reichskanzler und Reichskanzlei. Zu dem Titel „Reichskanzler" (54000 Mk.) liegen hier folgende beiden Resolutionen vor: Abgg. Ancker u. Gen. (fr. Vp.) beantragen: „Den Henn Reichskanzler zu ersuchen, das preußische Siaatsministerimn zu veranlassen, Vorkehrungen zu treffen, welche öffentliche Verdächtigungen der obersten Neichsbehörden durch Organe der königlich preußi schen politischen Polizei, wie sic im Prozeß Leckert- Lützow zu Tage getreten sind, für die Zukunft aus- schließcn." Abgg. Barth u. Gen. (fr. Vgg.) beantragen: „Den Herrn Reichskanzler zu ersuchen, dem Reichs tage baldlhunlichst eine Denkschrift über die erkenn baren volkswirtschaftlichen Wirkungen der seit 1892 bezw. 1894 zwischen dem Deutschen Reiche einerseits und Oesterreich-Ungarn, Italien, Belgien, der Schweiz, Serbien, Rumänien und Rußland anderseits be stehenden Handelsverträge vorzulegen." Abg. v. Komierowski (Pole) will die Auf merksamkeit des Reichskanzlers auf die Bedrückungen und gehässigen Angriffe lenken, denen die Polen aus gesetzt sind. Besonders die polnischen Vereine hätten unter den Verfolgungen der Polizei schwer zu leiden. Reichskanzler Fürst Hohenlohe: Die preuß. Regierung hat ihre Pflichten gegen die polnischen Landesteile niemals außer acht gelassen. Aber die polnisch redenden Staatsbürger haben auch Pflichten gegen den Staat. Das wird leider noch nicht über all anerkannt. Es macht sich immer wieder eine Art von nationaler Bewegung geltend. Das kann die Negierung nicht dulden. Abg. Munckel führt zur Begründung des Antrages der freisinnigen Volkspartei aus, die Er klärungen, welche im preuß. Abgeordnetenhaus« zu der Angelegenheit Leckert-v. Lützow abgegen wurden, könnten nicht als befriedigend angesehen werden. Der Reichstag hätte ein Interesse daran, die Sache Weiter zu verfolgen, weil Hohe Reichsbeamte dabei in Frage kämen. Redner kritisiert sodann das Ver halten des früheren Kriminalkommissars v. Tausch und behauptet, daß Leckert und v. Lützow zweifellos Hintermänner gehabt hätten. Redner wendet sich des weitern gegen die politische Polizei und fordert den Reichskanzler auf, als preuß. Ministerpräsident seinen Einfluß dahin geltend zu machen, daß solch mißliche Vorgänge sich nicht wiederholen. Reichskanzler Für st zu Hohenlohe betont, die volle Oeffentlichkeit sei geboten gewesen. Die politische Polizei sei in der Staatsverwaltung nicht zu entbehren. Die politische Polizei müsse auch Agenten haben, ob man in der Auswahl der letzteren immer vorsichtig genug gewesen sei, lasse er dahin gestellt sein. Es hätte übrigens des Antrages nicht bedurft, um die nötigen Reformen einzulcitcn, da das sofort nach dem Prozeß geschehen sei. Staatssekretär Frhr. v. Marschall: Abg. Graf Limburg hat neulich im preuß. Abgeordneten hause mein Verhalten in dem Prozeß kritisiert. Er hat gesagt, ich hätte mit den Ressorts verhandeln sollen. Das ist leicht gesagt. Im öffentlichen Leben muß man heut gegen Wurfgeschosse aller Art gefeit sein. Ich habe mein Leben lang nicht nach dem Strafrichter gerufen. Ich stand aber hier vor Lügen und Verleumdungen, denen gegenüber es eine Pflicht der Selbstachtung für mich war, den Schuldigen zu brandmarken. Man hat es gerügt, daß ich von einer Flucht in di« Oeffentlichkeit gesprochen. Denselben Weg haben aber auch andere meiner Kollegen beschritten. Zu einer Diszipiinar-Untersuchung gegen Herrn v. Tausch fehlte es ganz an Beweisen. Diese hat erst die öffentliche Verhandlung erbracht. Graf Limburg darf auch die Gutmütigkeit meiner Gegner nicht über schätzen. Die Ratschläge des Grafen Limburg möge» gut gemeint sein. Hätten wir die ganze Sache ver deckt, so wäre nicht nur der Polizeibeamte gedeckt geblieben, nein, auch über der Ehre des Auswärtigen Amts wäre die Decke geblieben. Sie soll aber wieder klar und rein dastehen. Graf Limburg sieht den Vertreter der Staatsautorität nur in de« Kriminalkommissar. Er vergißt, daß auch ein SlaatS- minisier, der zugleich Ches eines obersten Reichsamt ist, ein Vertreter der Staatsautorität ist. Ich über nehme jederzeit die Verantwortung dafür. Ich kann nicht verpflichtet sein, Verunglimpfungen gegenüber meinen guten Namen zu opfern. Abg. Gras Mirbach (kons.) bemerkt, er müsse an der Auffassung festhalten, daß das Verfahren der Regierung im Prozeß Lcckert-Lützow nicht da» richtige gewesen sei. Das Ansehen der politische« Polizei, die unentbehrlich sei, sei durch den Prozeß herabgesetzt. Unter dem Fürsten Bismarck würde« derartige Vorgänge nicht vor der Oeffentlichkeit ver handelt worden sein. Abg. Bebel (soz.) meint, die politische Polizei sei eine Schöpfung Bismarcks, und man ernte jetzt nun die Früchte dessen, was er gcsäet. Redner be schäftigt sich dann sehr eingehend mit dem Treibe« der v. Tausch und Normann-Schumann und be hauptet , zwischen dem Fürsten Bismarck und v. Tausch hätten noch nach dem Rücktritt des Fürsten Bismarck Beziehungen bestanden. Weiterhin bringt Redner die Sprache auf die angeblichen Beziehungen v. Tauschs zu dem deutschen Botschafter in Wien, dem Grafen Philipp zu Eulenburg, und des Nor mann-Schumann zu dem Grafen Walderscr. Staatssekretär Frhr. v. Marschall erhebt euergischen Protest gegen die Weise, in welcher der Abg. Bebel den Wiener Botschafter in die Debatte gezogen und bezeichnet die Auslassungen des Redners als willkürliche Kombination. Daß Gras zu Eulen burg dem v. Tausch einen österreichischen Orden ver mittelt habe, sei lediglich die Erfüllung einer dienst lichen Verpflichtung gewesen, da ». Tausch seiner Zeit in Stettin mit der Sicherung der Person des österreichischen Kaisers betraut gewesen war. Auf die Erwähnung des Namens d«S Grafe« Waldersee durch den Abg. Bebel erklärt der Staats sekretär, daß sich bisher auch nicht die Spur eines Beweises dafür gefunden habe, daß v. Tausch oder seine Agenten irgend welchen hochgestellten Hinter- mann hatten. Die so beharrlich fortgesetzte Suche nach einem solchen Hintermann sei nichts als ei« leichtfertiges Spielen mit der Ehre anderer Menschen. Abg. Graf zu Limburg-Stirum (kons.) betont, daß seine Ausführungen im preuß. Abge ordnetenhause nicht seine persönlichen Anschauungen hätten darlegen sollen, sondern aus dm Erwägungen hervorgegangen wären, die die konservative Fraktion angestellt hatte. Es habe sich auch keineswegs um einen persönlichen Angriff gegen den Staatssekretär Frhrn. v. Marschall, dessen Fähigkeiten sein Ver- blewen auf dem von ihm eingenommenen Posten als wünschenswert erscheinen ließen, gehandelt. Red ner vertritt dann nochmals die Ansicht, daß mit dem Prozeß Leckert - v. Lützow ein verkehrtes Ver fahren eingeschlagen wäre: im Wege deS Disziplinar verfahrens hätte sich ohne Schädig»»« des Ansehens der Regierung und der staatlichen Institutionen das Gleich: erreichen lassen, was mit dem Prozeß ange strebt wurde. Abg. Richter (fr. Vp.): ES handelt sich hier um Augriffe auf einen der höchsten Reichsbeamten, und nach den Angriffen der Konservativen im preuß. Abgeordnetenhaus? waren wir daher genötigt, die Sache hier zur Sprache zu bringen. Wir sind dem Staatssekretär dankbar, daß er in die Oeffentlichkeit geflüchtet ist und da» heute so schön motiviert hat. Die Worte, die er sagte, sind so schön, daß man sie der Militärstrafprozeßorduung als Begründung bei geben könnte. Was uns unbegreiflich erscheint, ist die Thatsache, daß das Treiben der politischen Polizei gegen das Auswärtige Amt über drei Jahre dauern konnte, ohne daß es dem Rcssortchcf gelang, Remedur zu schaffen. Deshalb mußten wir dle Sache hier zur Sprache bringen. Abg. Gras Bismarck (wildkons.): Ich will nur einige Behauptungen des Abg. Bebel richtig stellen. Derselbe sagte, Briefe an den Fürsten Bis marck seien der politischen Polizei und speziell Herrn von Tausch zur Recherche übergeben worden. Diese Behauptung entbehrt vollständig der Begründung Fürst Bismarck hat v. Tausch niemals gesehen, und auch mir ist derselbe persönlich gänzlich unbekannt, und ich hoffe, daß nach dieser Feststellung endlich die Insinuationen ein Ende nehmen, in welchen sich die gegnerische Presst gefallen hat. Daraus wird ein Vertagungsantrag angenommen. Ein Ehrenwort. Roman von L. HaidHei». (Fortsetzung.» Fides sah schöner aus als je. Die Reise eindrücke und die Zerstreuung hatten gewiß ihren Anteil daran, aber das allein konnte es nicht sein. Trautmann blickte sie interessant an; es lag auf ihr eine eine Liebenswürdigkeit, die sie früher nicht gebabt. „Wissen Sie, wen wir gesprochen haben?" fragte der Oberförster, Trautmanns Blicken folgend. Eine plötzliche Veränderung in Fides' Mienen ließ den Assessor unwillkürlich ausrufen: „Oskar von Truhn? Sicher!" „Geraten!" lachte der Hausherr, „der brave Bursche zeigte uns die Anstalt, bei der er an gestellt ist; mich sührte er herum, meine Frau und Fides mußten im Garten bleiben, dergleichen ist nicht für Damen." „Und wie war seine Stimmung?" „Hoffnungsreich und zusrieden, momentan auch strahlend glücklich!" versicherte der Hausherr. „Aber Ulla kann nicht daran denken, vor dem Winter zu ihm zu ziehen-, von der Wohnung, die Herr von Truhn bekommt, stehen nur.die Außenwände aus Fachwerk, man hat überall Schwamm entdeckt und macht alles neu," setzte die Gattin hinzu. „Am besten wäre es, er nähme sich selbst eine Frau da hinein, ob arm oder reich, er sehnt sich nach häuslichem Glück," sagte wieder der Manu. „Arm oder reich ? So thöricht wird kein armes Mädchen sein, den armen Jungen zu heiraten," erwiderte Traurmaun, Fides ansehend. „Aber wenn ein reiches Mädchen ihn nähme? sagte sie mit dem alten kampflustigen Ausdruck in den Augen. „Er läßt sich nicht heiraten. . Er wird sich bedanken für solche Wohlthat," reizte er sie. „?tun, damit sagen Sie nur, daß er ein Ehrenmann ist," ging sie sofort auf die Heraus forderung ein. „Ich glaube übrigens auch nicht, daß er Gelegenheit dazu haben wird, einem reichen Mädchen einen Korb zu erteilen, Fräulein Fides, denn die Lebensstellung, die er ihr dafür bieten kann —" „Lebensstellung? Was ist er selbst denn wert?" sagte sie erglühend. „Das ist relativ. Mir ist er sehr viel wert, aber wie ich sieht ihn nicht jeder an," lachte er. Da merkte sie erst feine Tücke, wandte ihm den Rücken und fragte im Hinausgehen: „Haben Sie schon gehört, daß ich aller Wahrscheinlichkeit nach meinen Prozeß in letzter Instanz auch ver lieren werde?" Sie wollte sich damit vor Trautmanns Ge danken, als sei sie selbst das reiche Mädchen, schützen, doch erschrak Trantmann ernstlich, als der Obersörster ihm erzählte, daß sic unterwegs einem hochgerühmten Nechtsgelehrten den Fall vorgestellt, und daß dieser mit dem Vorbehalt, die Sache vielleicht nicht richtig zu übersehen, gegen FideS entschieden habe." Das say traurig aus! Wie würde sich des Mädchens Zukunft gestalten? „Sie nimmt Herrn von Truhn, wenn er sie will!" sagte die Oberförsterin. „Truhn hat Schulden und ist vorläufig in so schwieriger Lage, daß er überhaupt an eme Heirat nicht denken wird," erklärte Trautmann. „Er hat mir davon gesprochen," erzählte der Oberförster. „Aber er berichtete mir, sein Gläubiger, ein Bankier in der Residenz, habe ihm geschrieben, er bedürfe weder des Geldes noch der Zinsen für die nächsten Jahre, sondern müsse dem Sohne des verstorbenen Geheimrats jetzt bekennen, daß der selige Herr ihn einst vor einem großen Verluste bewahrt habe. Er ver lange also erst Abzahlung in kleinen Raten, wenn Truhn die Direktorftelle erlangt habe. Nun, ich gönne dem Jungen jedes Glück! Er war selig, der brave Kerl, der Oskar!" — — Nach drei Tagen war Winzcek in Rheustein wieder angclangt. Sobald die Arbeiter und Diener erfuhren, er mache Ernst mit der Entlassung, packte sie die Reue. Einer gab dem andern an der Aufhetzerei Schuld und allen trat vor die See'e, welch guter Herr er gewesen war, wie oft er eine offene Hand gehabt hatte, wo immer die Not seiner Leute es forderte. Bleich und sehr ver ändert kam ier ndes von der Station. Die ganze Schar folgte dem Wagen auf den Hof- Ehe Winzcek in die offene Thür treten konnte, redeten sie ihn an: „Herr, verzeihen Sie uns doch!" „Verzeihen? Sehr gern; euch allen verzeihe ich eure Dummheit, die für euch selbst die schlimmsten Folgen hat." „Ach, Herr, Sie werden uns doch wieder nehmen, wir bereuen es ja I" baten die erschreckten Männer. „Wieder in Arbeit nehmen?" Nein! In einer Viertelstunde kommen meine neuen Leute, euch kann ich nicht weiter brauchen. Sucht euer Brot bei anderen Herren und vergeßt nicht was ihr heute lernt!" War das der milde, freundliche Gebieter, den sie seither gekannt hatten? Ganz bestürzt sahen sie ihm nach.! So hatten sie sich den Verlauf iffrer Sache freilich nicht gedacht. Vergebens schickien sie ihm nochmals eine Deputation hinein, er ließ dieselbe gar nicht vor. Die Herbstsonne brannte auf den Schloßhof und die Wartenden herab. Da kam durch das Thor eine ganze Schar von fremden Leuten, jeder hatte sein Bündel am Stock auf dem Nacken. Eine Anzahl Frauen folgte ihnen. Alle zogen singend auf den Hof und gegen seitig stutzend sahen die neuen und die alten Arbeiter sich an. „Laßt uns sie verhauen, daß sie das Wic- dcrkommen vergessen," ging es unter den letzteren herum. Es dauerte nur wenige Minuten, so warm die Leute im heftigsten Wortstreit, der schon zu Thätlichkeitcn ausarietc. Vergebens mischte sich Winzceks Kutscher be sänftigend und ermahnend dazwischen; sic schrieen iVm wütend zu, er sei ein Verräter, und ehe der Friedensstifter sich dessen versah, lag er auf der Erde und drei bis vier der Wütenden warfen