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Redaktioneller Teil. /V 87, 14. April 1916. Literatur betreffende Bücher in England überhaupt nicht verlegt werden und alle nichts über sie wissen, so durften diese Ge lehrten, von denen der Hauptschreier ein 70jähriger Greis war, ohne Schaden sich einer solchen frechen Unehrlichkeit schuldig machen. Wollen wir gegenüber solchem verächtlichen Gebaren und den literarischen Verhältnissen, die es ermöglichen, unsere fluch würdige Bescheidenheit, unsere schwachsinnige Verehrung des minderwertigen Fremden nicht endlich aufgeben, zu richtiger Selbstschätzung uns cmporarbeiten und erkennen, daß unsere deutsche Wissenschaft als Ganzes und daher unsere deutsche Bildung sehr hoch über der englischen steht? Noch ein Beispiel. Die englische Shakspere-Forschung hat nicht künstlerisch, aber literarhistorisch und philologisch unter Benutzung der ihr leicht zugänglichen, massenhaften Quellen Hervorragendes geleistet in großen Werken über Shakspere und seine Zeitgenossen und in rühmlichen Ausgaben ihrer Werke; sie hat der deutschen Forschung die Grundlage gegeben, auf der sie weiterbauen konnte. Auch die Einzeluntersuchungen sind hier weniger spärlich als auf andern Gebieten, aber an Masse und Vielseitigkeit doch gar nicht zu vergleichen mit der Fülle der Arbeit, die die deutsche Shakspere-Forschung in den letzten Jahr zehnten, die allerdings ihre Blütezeit darstellen, geleistet hat. Derjenige deutsche Gelehrte müßte in der Tat wenig gelehrt sein, der sein Shakspere-Studium allein auf englisches Material gründen wollte. Der Engländer tut das mit ganz vereinzelten Ausnahmen immer, einerseits weil er in feinem bekannten insu laren Übermut die fremde Arbeit mißachtet und sie mit Leichtig keit entbehren zu können sich einredet, andrerseits weil er zu träge ist, Deutsch zu lernen. Als ich dem vor einigen Jahren verstorbenen, damals ältesten und bedeutendsten englische» Shak- sperc-Forscher Furnivall meine kritische Ausgabe des Macbeth überreichte, erhielt ich die Antwort, daß er kein Urteil darüber fällen könne, weil er nicht Deutsch verstände. Einen deutschen Shalspere-Forscher, der nicht Englisch verstände, kann es gar nicht geben. Die Folge dieser Sachlage ist denn z. B., daß die englische chronologische Shakspere-Forschung sich seit 125 Jahren immer im Kreise herumdreht. Das Fehlen der Spezialstudien muß für die englische Lei stungsfähigkeit geradezu verhängnisvoll sein; denn sie sind das ewig neue Lebenskraft und Bewegung gebende tägliche Brot der Wissenschaft. Eine andere Sorte von kleinen Büchern sind dagegen sehr zahlreich in England: es sind die Abrisse größerer Wissenschafts, gebiete für Laien oder für Schüler. Es gibt hiemnter einzelne nicht bloß praktisch brauchbar«, sondern auch gut geschriebene Schriften, vielfach von einer Autorität des betreffenden Faches, meist aber von unbekannten und keineswegs besonders geschickten Handwerkern. Sie sind sehr wenig umfangreich, 7, höchstens 8 Bogen in Duodez, ja Sedez — mehr als einen Schilling gibt der Engländer nicht gern für solche Bücher aus —, und darum also nicht zu vergleichen mit entsprechenden Sammlungen bei uns, wie »Das Wissen der Gegenwart« (Freytag und Tempsky) oder »Aus Natur und Getsteswelt« (Teubner). Einen nicht zu umfangreichen Gegenstand, wie z. B. die kleograpbx vk tke Lrttisk Isles, kann eine die Sache vollkommen beherrschende Autorität, wie der Geologe Geikie, in diesem Umfange sehr hübsch behandeln. Für gewöhnlich sind diese Uri mors zu ramsch artig abgemacht und zu inhaltleer; mehr, als sie bieten, will der Laie, wenn er sich einmal über ein Wissensgebiet unter richten will, erfahren, und er will es auf dem Wege einer fes selnden Darstellung erfahren, wovon in diesen ärmlichen Mach werken fast nie die Rede ist. Ich habe in dem häßlichen Wort Urimers, Wohl infolge der von dem Inhalt ausgehenden Suggestion, immer eine Lautdarstellung des geistig Nichtigen gefunden. An der lächerlichen Billigkeit solcher geistigen Leistung scheitern oft genug bedeutende Gelehrte. Edward Dowdens »Shakspere« (übersetzt von W. Wagner 1879) ist für mich das eine, wenn auch nicht krönende, aber doch sehr wertvolle englische Buch über Shakspcres Kunst, weil es das einzige ist, das hinter dem Künstler den Menschen sucht, der über dem Künstler steht, weil er sein Erzeuger ist. Die andern englischen Bücher 430 gleicher Art enthalten bei dem herrschenden Mangel an künstlerischer Begabung und Bildung eine seuilletontstische Sumpf-, Wald- und Wesen-Ästhetik. Er ist einer von den fünf oder sechs englischen Shakspere-Gelehrten, dem es feine Sprachkenntnis ermöglicht hat, sich durch tief- dringende Studien der deutschen Kunstbetrachtungen be fruchten zu lassen. Dieser bedeutende Mann hat sich dazu ver führen lassen, einen Duodez-Shakspere-Primer zu verfassen, der den Laien wegen seiner Abgcrissenheit nicht fesseln und dem Fach mann natürlich gar nichts geben kann. Demgegenüber vergleiche man das kleine, 340 Seiten stillende Buch über Shakspere von Max Koch, das der Cottaschen Shakspere-Ausgabe beigegcben ist; jeder Laie wird das hübsch geschriebene Werkchen mit höchstem Interesse lesen, denn soviel wie hier muß eben seiner Wißbe- gicrde geboten werden; und da es wissenschaftlich genau ge arbeitet ist, wird es auch dem Fachmanne guten Dienst tun. Das nichtzuunterbietendc Stück solcher »nützlichen« Nichtig keitsschöpsungen istLvsrxbocl^'sk'oolrstOxelopaoclia, (Konversationslexikon) von 208 Seiten Sedez zu 50 H. Der Verfasser hat seinen Namen wohlweislich verschwiegen, die Ver leger sind Saxon L Co. Im Jahre 1888 war es erschienen, aber nur mit 160 Seiten, im Jahre 1890 erlebte es die 6. Auflage von je 50 000 und wurde um 48 Seiten vermehrt. Damals kaufte ich es mir; wenn der Zulauf so rasend geblieben ist, mutz es heute 84 Auslagen hinter sich haben, also in 4 200 000 Exemplare» verkauft sein . . . Den Inhalt zu charakterisieren ist unmöglich; denn erstens steht Tod und Teufel darin, und zweitens ist nichts zu finde». Aber einige Beispiele werden eine Anschauung geben: Sämtliche Mythologien 31- S., dazu 5 S. Abbildungen; Architekturen 1K> S., (!4 S. englische Baustile; 1 S. Abbildungen aus antiken Baustilen); das Tier-, Mineral reich Pflanzenreich 1 S.; Chemie 2 S.; ein Weltatlas 10 S.; »Die Weisheit der Alten« in Aussprüchen ^ S. Den Löwenarrteil haben der Handel und die Hygiene (natürlich, denn die Sorge für den geliebten Körper ist in dem Engländer jeden Augenblick lebendig) mit je 32 S. Ich glaube nicht, daß ein solches Buch in Deutschland verlegt werden könnte, weil eben niemand bei uns eine solche literarische Albernheit kaufen würde; die englischeWißbegierde ist eben anders geartet. — Ich kaufte mir gleichzeitig die National Lnaxelopaoäia, ein stattliches Werk von 13 Lexikonbänden. Auch das ist charakteristisch für die englische Wißbegierde: gut darin ist, was Engländer inter essiert, englische Geschichte und Geographie, Staatseinrichtungerr und Gesetze, exakte Wissenschaften (außer Chemie und Medizin, welche Wissenschaften dort noch wenig entwickelt sind); schlecht ist alles, was das Ausland betrifft, und von deutscher Kultur, von deutscher Kunst und Wissenschaft sind nur spärliche Andeu tungen zu finden; man hat offenbar Mitarbeiter, die Autoritäten im Ausland-Wissen waren, nicht auftreiben können. Wenn unser kleiner einbändiger Meyer auf seinen 2000 Seiten so unerhörte Lücken aufweisen würde, wie sie hier gewöhnlich sind, dann könnte er nicht das gute Werk sein, das er in seiner Art wirklich ist. Unsere großartige wissenschaftliche Literatur ist nun zustande- gekommen unter Umständen, unter denen die englische wahrschein lich ganz versiegt wäre. Der gebildete (nicht gelehrte oder literarische) Deutsche kaufte früher gar keine Bücher, und jetzt kauft er viel zu wenig. Als konventioneller Grund wird dafür angegeben, daß Deutschland früher ein armes Land war — und jetzt?? — Nein: solchen heuchlerischen eant dulden wir in Deutschland nicht; die Wahrheit aber lautet: Ihr, meine lieben, gemütlichen Landsleute, habt für Euer Vergnügen immer Geld gehabt, und wenn Ihr es borgen mutztet; für Bücher anschaffungen n i e. Lassen wir Bücherfreunde unsere wohlhaben den und reichen Bekannten in gewerblichen Kreisen doch einmal Revue passieren: sie machen alles, was das Leben an Genuß, Behaglichkeit und feinem (nicht bloß äußerlichem) Luxus zu bieten hat, sich zu eigen; es sind prächtige, gut erzogene, geistig angeregte Menschen darunter, die einen großen Teil der Welt mit Augen von deutscher Sehkraft in sich ausgenommen haben und uns gelehrte Einsitzer beim Glase Wein stundenlang inter essant zu unterhalten wissen; bei ihrem Einkommen machen sie sich gar nichts daraus, meiner Sitzung bei Dressel mit guten