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Wöchentlich erscheinen drei Nummern. Pränumeration^ Preis 22j Sgr. (( Thlr.) vierteljährlich, Z Thlr. für daS ganze Jahr, ohne Er höhung, in allen Theilen der Preußischen Monarchie. Magazin für die Man pränumerirt aus diese« Beiblatt der Allg. Pr. Staat«, Zeitung in Berlin in der Expedition (Friedrichs-Straße Nr. 72); in der Provinz so wie im AuSlande bei den Wohllöbl. Post-Aemtern. Literatur des Auslandes. 64. Berlin, Mittwoch den 29. Mai 1839. Rußland. Gesänge und Gesangliche der Russen. Von I. G- Kohl. Von allen schönen Künsten, welche die Menschen pflegen, erfreut sich keine einer allgemeineren Verehrung über den ganzen Erdboden, bei allen Völkern, Ständen und Klassen der mensch lichen Gesellschaft, als Musik und Gesang. Keine redet verständ licher zu Menschen aller Farben und Bildungsstufen, und keine zählt einen größeren Kreis begeisterter Jünger. Das Volk, inso fern wir darunter die ungebildeten Naturmenschen einer Nation verstehen, übt die Kunst des Gesanges und der Lieder-Composiiion mit einer Meisterschaft aus, die selbst von den Eingeweihten dec Kunst selten erreicht wird, und wahrend bei Gemälden, Skulp turen, dramatischen Darstellungen u. s. w. nur von den Jüngern der Kunst das Höchste erreicht wird, scheint das Lied, das aus der Kehle dringt, jedem fühlenden Menschen zu gelingen. Daher wir denn auch nie von Volks-Malerei, Volks-Architektur u. s. w. reden, wohl aber von Volks-Poesie und Volks-Gesang. Es giebl Länder, in denen die Musik al« Kunst und als Wissenschaft höher steht, und Völker, die tiefere und erhabenere Kunstwerke und größere Meister in der Musik hervorgebrachl haben — Jtaliäner und Deutsche nehmen in dieser Hinsicht den ersten Platz in dem Tempel der Polyhymnia ein ; schwerlich aber giebl es ein Land, in welchem der Dilettantismus der Musik verbreiteter, und schwerlich ein Volk, das mehr, so zu sagen, von Musik und Gesang durchdrungen und durchhaucht wäre, als Rußland und die Ruffen. Die musikalischen Instrumente, die auch bei uns einst in den Händen ihrer Erfinder, der gemeinen Leute des Volkes, waren, sind diesen nun durch weitere Ausbildung fast völlig entrungen, und ihre Verfertigung so wie ihr Gebrauch ist in die Hände weniger Künstler übergegangen, aus denen sie nur spär lich dem Volke wieder zugestellt werden. Die Lyra, wie Merkur sie erfand, indem er über dem Schildkrötengehäuse Sailen aus- spannle, die Flöte, die er sich aus dem Schilfe schnitt, sind langst bei uns verschwunden und zu künstlicheren Instrumenten veredel«. Niemand bedient sich ihrer mehr, und selten versteht sie Einer aus dem Volke zu verfertigen. Anders ist dies bei den dem Ur zustände der Menschen noch näher stehenden Ruffen, bei denen noch Jeder im Besitz des Wissens und Könnens ist, das dem Menschen in allen Lebensverhälmiffen dient. Wie der gemeine Ruffe sein eigener Architekt, sein eigener Tischler und Bierbrauer ist, so ist er auch sein eigener Instrumentenbauer, so wie sein eigener Musiklehrer. Die Balalaika (Russische Cylher) aus Linden holz zu schnitzen und mit Sailen zu beziehen, — die Skruibka (Violine) zu formen und zu stimmen, — die Tibien, sowohl Doppel-Tibien als einfache, zu höhlen und einzuspielen, — ver stehen dorr eine Menge der gemeinen Ackerbauer, während der gleichen bei uns bloß Sache der Leute vom Fach ist. — Eben so nun verhält es sich auch mit den Gesängen und Volksliedern und ihrer Compostiion. Wahrend bei uns ihre Dichtung und ihr Vertrag mehr Sache der Zunft und Schule geworden sind, gehen sie bei den Ruffen noch fortwährend au« der Masse des Volks hervor und entquellen noch täglich unmittelbar dem kräftigen Urquell des Raiionalgeiste«. Bauern, Soldaten, Offiziere, Ge lehrte, Künstler singen und komponiren Lieder und Gesänge, «heilen sie sich unter einander mit und machen sie zu allgemein gekannten Volksweisen. Wie selten sieht man im Ganzen doch unsern Bauern einmal singend durchs Feld schreiten; welche besondere Gelegenheit wird dazu nicht immer erfordert, daß er den Mund zum Gesang öffne, entweder eine Versammlung in der Kirche oder ein frohes Zu« sammenseyn junger Bursche nach der Arbeit. Daß der Deutsche Handwerker bei seiner Arbeit singe oder gar der Fuhrmann singend Himer seinem sechsspännigen Frachiwagen hergehe, scheint wgar fast unnatürlich und mit ihrem Wesen unverträglich. Bei den Russen ist dies ander«. Ihre Liebe zum Gesang ist so groß wie die der Vögel, die beständig zwitschern und pfeifen. Der Deutsche ist ernst, gründlich und mehr überlegend als poetisch; der Russe dagegen ist leicht, heiler und weniger nachdenkend als beständig dichtend und poetisch schaffend. Jener ist daher mit Leib und Seele bei der Arbeit, die ihn angestrengt beschäftigt und nach deren Beendigung erst er allenfalls einen Gesang an« stimmt; dieser dagegen sucht das Mühselige der Arbeit, das ihm eben nicht sehr mundet, mit Gesang zu schmücken, und singt gerade nie mehr, als während der Arbeit. Es ist ungemein charakteristisch für den Russen, daß man gerade während der Förderung ernster Geschäfte die schönsten Lieder von ihm hört. Während beim Deutschen mehr als bei irgend einer anderen Nation der Bibelspruch; ,,Du sollst Dein Brod im Schweiße Deines Angesichts essen", in Erfüllung gehl, wofür ihn denn auch nach Gelingen der Arbeit ein Gefühl der Genugthuung und Zufriedenheit belohnt, wie auch nur er cs kennt, scheint auf den Russen, der willig und mit Leichtigkeit sich jeder Arbeit unter zieht und sie dann mit Gesang und spielend oberflächlich schaffend abmachl, jener Spruch gar keine Anwendung zu leiden. Von den Malern, die gemeinschaftlich den Plaifond eines Zimmers ausmalen, von den Mädchen, die sich zum Spinnen oder Nähen vereinigen, von den Schneidern und Schustern, die zusammen in einer Stube sitzen, hört man häufig die reizendsten Chorgesänge von der Welt, die durch ihre wunderbaren Harmo- nieen und Einklänge wahrhaft bezaubern. Doch nicht nur diese leichteren und ohnedies durch die An und Weise ihrer Betrei bung zu geselligen Miithcilungen reizenden, sondern auch selbst die schwersten und lästigsten Arbeiten begleitet der Russe mit Gesängen, die freilich eben so oft und öfter melancholische Ele- gieen als heitere Päanen sind, immer aber von dem poetischen Gemüthe des Russen zeugen, dem es Bedürfniß ist, seinen Schmerz wie seine Freude durch Gesang und Musik erklingen zu lassen. Die Russischen Fuhrleute singen im Winter bei Sibirischer Kälte und Unweiler oft den ganzen Tag über, auf freiem Schlit tet, sitzend, von ihren Pelzen kaum verhüllt. Die Zimmerleute beim Behauen der Baumstämme führen ihre Schläge häufig nach dem Takte ihrer eigenen Singemusik. Von den Russischen Mauern, namentlich von denen der Kirchen und Klöster, gilt noch, was von Troja's Mauern erzählt wird, die unter dem Flöienspiel Apollo's sich zusammengefügt haben sollen. Selten tritt man in den Neubau einer Kirche oder eines Kloster«, ohne daß Einem dort die lieblichsten Chor-Gesänge, die dann bei solchen heiligen Gebäuden immer ernsten Inhalt« und gewöhnlich der schönen Russischen Kirchenmusik entnommen sind, emgegen- klangen. Die Soldaten, die es wahrlich auf ihren großen Märschen nicht leicht haben, begleiten ihre mühseligen Tritte fast unaufhörlich mit Gesang, der sie, ihrer Lebendigkeit und ihrem Mienenspiel zufolge, fast noch mehr anstrengen muß, als der Marsch. Gewöhnlich gehen ein Paar Musiker mit der Trommel oder mit einer Pickelpfeife voran, die von den Sängern um- drängl werden und die mit ihren rauschenden und scharfen Tönen den Kraftparrieen des Gesanges die grellsten Lichter und dunkel sten Schatten geben. — Ja, sogar die Ackerlcuie auf dem Felde singen nicht selten hinter dem Pfluge her oder in der heißesten Sommer-Mittagssonne, wenn sie da« Korn mähen. Auch die Russischen Kaufleute, sonst ein ziemlich prosaische« Völkchen, singen erstaunlich viel mehr, als unsere Krämer, und wenn sie in ihren Gostinnoi Dwor's (Basar«) die Köpfe zusammenstecken, so bildet gewöhnlich, wenn es nicht Geld oder Damenbre« ist, die Musik das Thema ihrer Unterhaltungen, ein neuer Gesang, den Jemand lobt, ein Sänger, der sich hören ließ und bekrittelt wird, ein Chor, den sie am Abend singen wollen u. s. w. Die. Volksgesänge und Volksweisen sind in ganz Rußland dieselben, und man Hörr von Kamtschatka bis Petersburg ganz dieselben Verse und dieselben Melodieen; das heißt, so weil der Großruffe, der Moskowite tritt, der eigentliche Herr im Lande. Der Kleinruffe, der nur in den Süd-Europäischen Step» penländern lebt, Hal ganz andere Melodieen als jener. Er ist wo möglich «och musikalischer und gesangliebender als der Groß ruffe. Jedoch existirt zwischen beiden Slämmen, die sich in so vielen Sillen und Gebräuchen einander gcgenuberstehen, der Un- «n-schied, daß bei den Großruffen entschieden die Männer die vor züglichsten Sänger sind, bei den Kleinruffen gerade umgekehrt vorzugsweise die Frauen des Gesanges pflegen. Dieser Unter schied ist so auffallend, daß man anfangs bei den Großruffen alle Frauen klanglos wähnt, so wie bei den Kleinruffen alle Männer stumm, bis man denn später einfleht, daß bei beiden Stämmen beide Geschlechter singen, nur bei jedem eines vorzüglich fleißig. (Schluß folgt.)