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Wöchentlich erscheinen drei Nummern. Pranumerations- Prei» 22j Lar. (j Ldlr ) rimeljährlich, z Thlr. für das ganze Zahr, ohne Er höhung, in allen Theilen der Preuliiscdcn Monarchie. a g a für die Man vränumcrirt auf diese» Beiblatt der AUg. Pr. Dtaats- Zeinmg in Berlin in der Exxcdilion (AriedrichS-Strake Nr. 72); in der Provinz so wie im Auslände bei den Wohllöbl. Pest Äemtcrn. Literatur des Auslandes. 42 1839. Berlin, Montag den 8. April Frankreich. Die Salpetrivre- Das Hospital der Salpeiriöre in Paris ist geräumig, gut ge baut iind lieg! an einem schönen, luftigen Platze. Rings herum herrscht die größte Stille; dicht an die Salpeiriöre gränzi der Pflanzenganen, und die Seine fließt nahe genug, um fle für die Bedürfnisse der Anstalt zu benutzen, und wiederum auch so em- serm, daß der schädliche Einfluß ihrer Ausdünstung s,ch nicht bis dahin erstrecken kann. Obgleich der Boulevard, auf dem das Hospital sich befindet, einen Namen von schlimmer Vorbedeutung führt, Boulevard des Hospitale, so scheinen doch die Leute, denen man dort begegnet, — mcisteniheils Bewohner der Vorstadt Sl. Antoine und der Vorstadt du Marais, — im Allgemeinen kräftig und gesund zu seyn, was wohl der reinen Luft zuzuschreibcn ist, welche inan in diesen dem Mittelpunkte von Paris so fern liegen den Stadtvierteln cinalhmei. Der Eingang zum Hospital der Salpctriöre hat übrigens etwas Feierliches, Erhabenes, was sehr gut zu der Bestimmung eines der Barmherzigkeit geweihten Ge bäudes paßt, auf dessen Giebel man die Inschrift: „Zuflucht des Alters", liest. Der Name Salpetriöre kommt daher, weil man ehemals >n diesem Viertel viel Salpeter anferiigie. Im Jahre I6SK wurde dies Gebäude auf Befehl des Parlaments-Präsidenten von Paris gegründet, der vom Könige die Erlaubniß erhalten haue, ein öffentliches Hospital zu errichten, worin alle Bettler, mit denen Paris in Folge der durch die Fronde und Ligue verursachten Un ordnungen überschwemmt wurde, ausgenommen werden sollten. Seil jener Zeil wechselte die Salpeiriöre mehrmals ihre Bestim mung; sie war nach einander ein Arbeitshaus für Bettler, ein Zufluchtsort für kleine Kinder und ein Zuchthaus für öffentliche Dirnen. Jehl ist sie ein Hospital für aiie Frauen. Das Hospital der Salpeiriöre ist das weitläuftigste in Europa; mit Recht Hal man von demselben gesagt, daß manche Siadt keinen so großen Raum einnehmc und nicht so viel Einwohner zähle. Die Höfe, die Säle, die Gärten, Alles ist geräumig, be quem and sehr gut veriheiil. Die Mmelzähl der jährlich in der Salpeiriöre aufgenvmmenen Frauen beläuft sich ungefähr auf sechstausend. Leidende aller Art finden hier eine Zuflucht: Fieber kranke, Gichibrüchige, Epileptische, Blinde und so fort. Aber mitten in dieser nur von den Kranken und ihren Wäner» be wohnten Siad, ist ein Viertel, welches ganz besonders die Auf merksamkeit in Anspruch nimmt; es ist die sogenannte fünfte Äblhcilung des Gebäudes, in welcher sich die Wahnsinnigen be finden. Früher war der Zutritt in diese Abiheilung des Hospitals Jedem gestattet, doch wurde durch die häufigen Besuche und durch die Gegenwart fremder Personen die Aufregung der Irren nur gesteigert und die Ordnung und Disziplin gestört, deren Aufrechthaltung gerade bei solchen Kranken von äußerster Wich tigkeit ist. Oft machten sich sogar unvorsichtige Personen kein Gewißen daraus, die Wahnsinnigen zu erzürnen, sie einzuschüch- iern und sich auf ihre Kosten zu belustigen; aller dieser Ursachen wegen trugen die bei dieser Abiheilung besonders angestellten Aerzle auf Untersagung jedes Besuches an, und man erhält jetzt nur mit großer^Mühe die Erlaubniß dazu. Wer die Salpeiriere zum erstenmal betritt, kann sich einer Anwandlung von Trübsinn nicht erwehren, wenn er diese weilen stillen Höfe durchschreitet und nur hin und wieder einigen armen alte», kranken und gebrechlichen Frauen begegnet, die sich an Krücken forischlcppen und von Zeit zu Zeil auf den hier und dort angebrachten steinernen Bänken aueruhen. Die Blinde athmet hier ein wenig frische Luft ein und sag, der angenehmen Wärme des Tages Lebewohl; die Gichtbrüchige versucht zu gehen, viel leicht sind dies die letzten Schritte ihres Lebens. Traurige und dahinwelkendc Ucberrestc des menschlichen Daseyns, die langsam ihrem Grabe zuschlcichen, und denen man selbst von Herzen ein schnelles Ende ihrer Leiden wünschen muß! Doch giebt es einen "och beirübenderen Anblick, der unser Mitleid und unser In teresse noch mehr erregt; das sind die Kämpfe und Todeszuckun gen der Vernunft, die von jenem Uebel befallen wird, welches die Menschheit ihrer schönsten Rechte beraubt und sie dem Thiere gleichsten,. Der Tag beginnt in der Salpeiriere, wie in allen öffent lichen Anstatt«», schon sehr frühzeitig. Bei dem ersten Msrgcn- strahl sich- man bereue die Hausbcanuen in den Höfen umher- wandccn. Doch kommen die Aerzie selicn vor acht bis neun Uhr an; drei derselben sind bei der Irren-Abiheilung insbesondere angcstclli. Früher haue jeder von ihnen unter seiner Behandlung eine bestimmte Anzahl von Kranken, welche in drei Klaffen ein- gerheilt waren: in solche, die noch unter ärztlicher Behandlung standen, m Unheilbare und in Blödsinnige. Jetzt aber Hal jcdpr Ar-l Kranke aus allen drei Kaiegorieen unter seiner Obhut, was seine Bc;uu-e jur ihn weniger einjr.inig machn Oft werden die Aerzle bei ihrer Rückkehr aus dem Hospital auf dem Hofe von den Verwandten irgend einer der Wahnsinnigen mit lhränenden Augen über das Befinden einer Mutier, einer Tochter oder Schwester befrag«; eine traurige, fromme Pflicht, welche zeigt, daß die Gefühle des Herzens durch nichts emmuchigl und ge schwächt werden, selbst wenn auf keine Erwiederung derselben mehr zu hoffen ist. Wenn so ein Arzt gefragt wird: „Wie geht es ihr- Ist sie ruhigerk Können wir hoffen, sie bald hcrauezu- nehmen?" so antwortet er gewöhnlich: „Es geht besser", — was oft aber vielmehr sagen will: „Es geht schlechter, oder es gehl weder gut, noch schlecht", — denn der Zustand der Irren bleibt sich fast immer gleich: die Heilungen sind in den meisten Fällen mehr zufällig, als vorhcrge;ehen, da bei den Gemüths- kranken Alles dunkel und ungewiß ist; oft sind gar keine bemerk bare Ursachen, keine organische Verletzungen vorhanden, das Ge hirn, der Kopf und die übrigen Organe befinden sich oft in voll kommen regelmäßigem Zustande. Es scheint, als wolle die Ver nunft, deren erhabene Thäiigkeit für uns ein Gehcimniß ist, sich auch in ihren Zuckungen und Störungen dein menschliche» For schen entziehen. Wenn die Angehörigen eine Wahnsinnige, die sich längere Zeil ohne Spur von Besserung in der Kur befunden, wieder zu sich nehmen wollen, so widersetzt man sich diesem Wunsche sehr selten, weil oft ein Ortswechsel, eine andere Aimo, sphäre, eine andere Reihefolge von Gegenständen, Eindrücken und Ideen schon hinreichend ist, um eine heilsame Veränderung in dem Instand der Irren hervorzubringen. Oft sind nach einem bloßen Wechsel des Schlafgemachs plötzlich die Zeichen der Hei lung eingetreicn. Eine Wahnsinnige wird manchmal schon am Tage nach ihrem Eintritt in das Hospital völlig geheilt, weil das Betragen, die Sprache, ja der bloße Anblick der sie umge benden Irren einen gewaltigen Eindruck auf sie macht und sie gleichsam durch das" warnende Beispiel wieder zu sich selbst bringt. Zuweilen aber, wenn eine Wahnsinnige aus der Salpe- «riöre hcrausgenommen wird, üb« gerade diese Rückkehr zu ihrer Familie eine emgegengesegie Wirkung ans; denn Rückfälle sind bei solchen Kranken immer zu fürchic», und nichts ist gewöhn licher, als daß eine Irre wieder in das Hospital zurückgcbracht werden muß, nachdem sie einen oder zwei Monate außerhalb desselben den vollständigen Gebrauch ihrer Vernunft gehabt ha«. Wie mächtig^ wir uns aber auch von Traurigkeit und Ent setzen ergriffen fühlen mögen bei dem Gedanken, daß wir in die Höse, Zellen und Schlafsäle von Wesen einirclen sollen, welche ihres Verstandes beraub« sind, so ist es doch rathsamcr, sich vorher keine zu übertriebene Vorstellungen von diesem An blick zu machen, weil man sonst die Wirklichkeit tief unter der Erwartung finden wird. Man glaubt kaum, unter Wesen zu seyn, welche eingesperrt worden, weil sie wahnsinnig sind, da sie sich doch so ruhig und so vernünftig geberden; man meint, nur gewöhnliche Kranke zu sehen. Jede Irre sitzt in dem Raum zwischen ihrem Bett und dem ihrer Nachbarin; die eine strickt, die andere näht, eine dritte hilf, den Mägden bei ihren Arbeiten. Man wird ihre Krankheit erst gewahr, wenn man länger bei ihnen verweilt, tiefer eindrjngl und jenen Sccnen von Aufregung und Wuth beiwohn«, die zu de» seltenen Fällen gehören und oft nur ganz zufällige Krisen des Wahnsinne sind. Die Schlafsälc bestehen aus langen, sehr Hellen Galcriccn, die alle mit einander Zusammenhängen, so daß man oft ein bis zwei Stunden gehen kann, ohne sonst irgend Jemand als Wahn sinnigen zu begegnen, welche den Fremden grüßen, Verbeugungen machen, lächeln und einige Wone an ihn richten, Worte, die mit den Ideen, von denen sie besessen sind, in Verbindung stehen, denn nur selten fällt ihnen etwas auf den Augenblick Bezügliches ein; sie sprechen nur au« ihrer Erinnerung oder Dinge, die sie für ihre