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5. Kapitel. Über das primitive Gedächtnis. Wenn die bewußte Empfindung das Grundelement des höheren Seelenlebens ist, so besteht dessen nächsthöhere Stufe in der Wahrnehmung, daß eine ge g enwärtige Empfindung ähnlich oder unähnlich einer früheren ist. Wenn ich eine Rose sehe und mir sage: „Ah, eine Rose!", so habe ich hiermit schon einen sehr komplizierten geistigen Akt vollbracht. Die Vorstellung Rose setzt sich aus Seh-, Geruchs- und Berührungsempfindungen zusammen. Beim Erkennen der Rose habe ich außerdem schon das Objekt unter den um fassenden Begriff Pflanze gebracht und es ferner als eine besondere Art von Pflanzen erkannt. Schließlich habe ich die aus mehreren Sinnesempfindungen zusammengesetzte Vorstellung mit einem Wort, eben dem Wort: Rose bezeichnet, habe also die Sachvorstellung in Beziehung zu der Wortvorstellung Rose gebracht. Alles dieses bedeutet eine komplizierte geistige Leistung, die, wie wir später noch sehen werden, ein hochentwickeltes Nervenzentrum zur Voraussetzung hat. Hiermit haben wir es vorläufig jedoch nicht zu tun. Wir betrachten jetzt nur den Vorgang, der darin besteht, daß eine gegenwärtige Sinnes- empfindung im Bewußtsein einer früheren ähnlich oder un ähnlich erscheint. Dieser Vorgang bedeutet eine primitive Gedächtnisstufe. Mit irgend einer Begriffsbildung braucht er gar nicht verbunden zu sein. Wir können uns vielleicht das Wesen des in Rede stehenden ursprünglichen Gedächtnisvermögens auf folgende Weise anschaulich machen. Eines Tages bemerken wir einen ungewöhnlichen Geruch und vielleicht nach mehreren Tagen noch-