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234 Endlich sollen die Zigeuner noch von den Pharaonen des alten Aegyptens abstammen. Nach dieser Relation sind sie ver jagte, heruntergekommene Kinder einer gestürzten Dynastie. Der alte Name, Pharao Nephek, Volk des Pharao, die neuen griechischen, französischen und englischen Namen: Gyphtoi, Egyptiens, Gypsics weisen alle auf Aegypten. Sie selbst be zeichnen an verschiedenen Orten und stets mit einem gewissen Selbstbewußtsein Aegypten als ihr Heimatsland, führen die Gabe ihrer Weissagung, ihre Kunst der Chiromantie, ihre Traum- und Sterndeuterei, ihre vielfachen geheimen Künste und Kuren an Menschen und Thieren auf die geheimen Mitthei- lungen alter, ägyptischer Priester zurück. Auch leiten sie die königliche Würde ihres Stammes-Oberhanptes, die bis in neueste Zeit selbst in Europa bestanden, aus dem alten ägyptischen Rechtstitel ab. Doch fehlt dieser Ableitung jeder geschichtliche Anhalt. Europa hat diese schwarzen, kräftigen Nomadenkinder, diese wilden Völker der Steppe und der Wüste, diese Söhne und Töchter der Pyramiden erst im Anfänge des fünfzehnten Jahr hunderts kennen gelernt! Wie aus dem Boden gestampft, waren sie zum größten Erstannen der Europäer mit einem Male zu Tausenden, und zwar in allen Ländern des Erd theilsfastgleichzeitig, vorhanden! Ucberall erschienen sie in demselben zerlumpten, dunklen Gewände, überall zeigten sie dieselben Sitten und Gebräuche und waren trotz der ver schiedenen Namen immer dieselben. In der Türkei und in Rußland hießen sie Tschingani, in Italien Zingari, in Spanien, wo sie wegen ihrer List und ihres Betrugs am wenigsten beliebt waren, Gintanos, in Por tugal Ciganos, in Frankreich Egyptiens, in England Gypsies, in Schottland Trickler, in Norwegen und Dänemark Fantes, in Holland und den Niederlanden Heider, in der Moldau und Wallachei Cigani, in Ungarn Cygari, in Deutschland Zigeuner. Dies Wort soll aus dem Schelt- und Schimpfwort „Zieh' Gau ner!" entstanden sein. Bald nach der großen Kirchenversammlung in Kostnitz, 1415, zeigten sich diese fremden Gäste in Deutschland. Sie sprachen ihre asiatisch-indische Muttersprache, die offenbar aus dem Sanskrit stammt, bekundeten aber für die europäischen Sprachen eine große Befähigung, so daß sie überall gar bald und mit Leichtigkeit sich in der betreffenden Landessprache aus zudrücken vermochten. Sie haben eine scharfe Beobachtungs gabe, einen klaren Verstand und große Anlagen zur List. Ihre Sinnesorgane, besonders Gehör und Gesicht, sind vortrefflich entwickelt, in gleicher Weise sind sie schnell und leicht zu Fuß, ihr Ortssinn ist zuverlässig. Aus diesen Gründen sind sie in ruhigen Zeiten von Vornehmen vielfach als Führer, Kuriere und Boten, in kriegerischen Zeiten aber als Spione verwendet worden. Mittels dieser Beobachtungsgabe und bei ihrer Sprachfä higkeit erkannten die fremden Einwanderer gar bald, wo der Deutschen Herz und Schatz lag. Alles drehte sich in jener Zeit um die Kirche! Und so führten sich denn diese argen Heiden als fromme Pilger, die vom-heiligen Grabe kamen, in Deutsch land ein. Auf Grund dieser lügenhaften Täuschung ertheilte ihnen der Kaiser Sigismund im Jahre 1423 einen Schutz brief, durch den sie im heiligen deutschen Reiche als seßhaft nnd reiseberechtigt angesehen wurden. In ähnlicher Weise erwarben sich die Zigeuner in allen europäischen Ländern das Asylrecht, ein Recht, welches sie auch in den Zeiten schützte, in denen man wegen vieler Verdrießlichkeiten, die sie durch ihr Vagabondireu, Rauben und Stehlen hervorriefen, ihre Entfernung sehnlichst wünschte. In jedem Lande akkomodirten sie sich der herrschenden Religion. In der Türkei sind sie Mohammedaner, in Ungarn, Oesterreich und Böhmen, in Spanien, Italien und Portugal römisch-katholische Christen, in Rußland und Griechenland zählen sie zu den griechisch-katholischen Gemeinden. Von dem späteren Protestantismus, der ihnen zu streng und nüchtern, der zu hohe, sittliche Forderungen an sie stellte, wollten sie nichts wissen, weshalb sie auch in den evangelischen Ländern nominell Katholiken blieben. Ursprünglich aber, und in ihrem Herzen, sind sic Heiden; Heiden, die auf der niedrigsten Stufe religiöser Anschauung stehen. Sie glauben an den großen Gott im Himmel, der Donner und Blitz, Regen und Schnee, Sturm und Hagel macht. Größer aber als Gott, heiliger als der Himmel ist die Erde, die vom Anfang an besteht und daher nicht erst erschaffen zu werde» braucht. Auf der Erde aber sind die Zigeuner des großen Gottes Lieblinge! Obwohl der Zi geuner eine Fortdauer nach dem Tode, eiu ewiges Leben, eine gerechte Vergeltung nicht kennt, liebt er doch das Grab der Seinigen und bringt, wie der Chinese, damit die arme Seele leibliche Rnhe finde, Opfer an demselben, die in Speise und Trank bestehen und später von den Stammgenossen, zu Ehren der Todten, mit größter Begier verzehrt werden. Wie bei allen nnknltivirten, insbesondere bei den asiatischen Völkern die Männer den Franc» gegenüber eine hervorra gende, herrschende Stellung einnchmeu, so auch bei den Zi geunern. In diesem Volke aber entspringt der Vorzug der Männer nicht nur aus physischen, sondern auch aus religiösen Gründen. Das Weib gilt nämlich als unrein, nicht etwa wie bei den Inden nnd andern orientalischen Völkern nur zu Zeiten, sondern überhaupt. Jede Berührung des niedrig geborenen Weibes verunreinigt den hoch geborenen Mann. Demnach kennt auch det Zigeuner keine Rücksicht für seine Fran. Er ist der Herr, sie die Sklavin, das Lastthier! Infolge dieser rohen Behandlung nnd der vielen Strapazen ans den Märsche», in folge der viele» Gebürte», die sie unter den schwierigsten Acr hültnisse» durchzuniachen haben, welken die in ihrer Jugend oft bildschönen Zigeunerinnen, diese wegen ihrer plastischen Formen so gesuchten Statisten, schnell dahin und werden sch"» im frühen Alter mumienhaft, häßlich, runzlig. Wie mit dem Alter die Schöne des Leibes schwindet, so verdunkelt sich nnch die geistige Anmnth, Unbefangenheit und Schelmerei des Geistes. Die alten Zigeuncrmütter haben nichts Anziehendes, Edles, nichts Matroneuhaftcs, sie sind neidisch, herrschsüchtig, zänkisch, »er bissen, mißgünstig und eifersüchtig auf die jungen Stamm- genossinneu. Tie Zigeuner betraten unsern Erdtheil in verschiedenem großen Waiiderzügen. Die einzelnen Horden hielten s>^ dann zeitweise in einem bestimmten Lande, welches sie nach allen Winden abstrciften, unter einem selbsterwählten Zigeuner- könige ans. Seßhaft wnrdcn sie niemals, sie blieben Nomaden Ihre Muttersprache, die sie in Europa mit Ausdrücken nnd Kouftruktioucn der verschiedenen Landessprachen verunreinigte und endlich als Gamicrsprachc völlig entstellten, hat keine Worte für „wohnen" nnd „Wohnung". Am liebsten waren ihnen z""' Aufenthalt für ihre Pferde, Esel und Herde», die sie zusamnnm schacherte» und stähle», wo sie wußte» u»d ko»«ten, die große Steppen in der Türkei, in Rußland, in Ungarn, die schöne Weiden in den österreichischen Ländern. Es wird nicht mit Iln recht angenommen, daß sich in diesen Gegenden circa toOchOO Zigeuner anfgehaltcu haben. Sehr wohl fühlten sich diese die madcii auch in Deutschland und besonders in Böhmen. /R grasreichen Wiesen an den Moldauufern, die dichten, wildrciäM Wälder waren ihnen wie die Heimat lieb. Wegen dieser Am hänglichkeit an Böhmen hießen die Zigeuner in Frankreich laug' Zeit Bohemiens. In Deutschland und Böhmen sollen eiw' 200,000 Zigenuer eingczogen sein. Trotzdem, daß den südliW Zigennernatnrcn das nördliche Klima wenig bchagtc, finde" wir sie doch in Holland, Norddeutschland, England nnd LelM land, in Dänemark, Norwegen, Schweden nnd Finnland. 3" den großen nordischen Wälder», wo Wild n»d Holz, Waid'' »»d Gras die Fülle, i» den Klüften, Schluchten und Thäle«', wo Deckung gegen Rege», Sturm uud Schnee zu finden wn«"' fühlten sie sich, weil vollständig frei und unbeherrscht, gne haglich. Ma» rechnet, daß circa 300,000 Zigeuner nach de" Norden Europa's gezogen sind. So möge» denn wohl in Jahren von 1417 bis 1425 eine Million Zigenncr um darüber Europa überflutet haben! (Schluß folgt.)