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Mussolini gegen Österreich. 27. Februar 1928 Sturm in Italien! Aufgeregte Interpellationen der Faszisten! Der italienische Gesandte in Wien soll abberusen werden. Die Presse Roms feiert Wutorgien. Alles dies wegen der Südtirol-Debatte im Wiener Na tionalrat. Diese Debatte war ein Bekenntnis zu den leidenden deutschen Brüdern jenseits der Brenner grenze, ein flammender Appell an Gerechtigkeit, ein Ruf nach dem Schutz des gefährdeten Deutschtums in Italien. Vieles wurde geschrieben und gesprochen, aber wenig unternommen, um die Zustände im italienischen Südtirol zu mildern. Was kann man schon dort an fangen? Der einzige Weg wäre der Völkerbund. Aber Mussolini würde keine solche Debatte in Genf zulassen; und gegen seinen Willen würde man kaum oorzugehen wagen. Andererseits hütet sich die österreichische Re gierung, den italienischen Nachbar allzu sehr zu erzür nen. So begnügte inan sich bis jetzt in deutschen Län dern vorwiegend mit dem moralischen Bekenntnis zum deutschen Südtirol. Aber auch das scheint Mussolini zuviel zu sein, und die letzte Aussprache im Wiener Nationalrat hat eine allgemeine Entrüstung in Italien hervorgerufen. Mussolini hat genug. Oesterreich ist für ihn, wie das saszistentreue „Eiornale d'Italia" erklärte, nichts anderes als ein lästiger Nachbar. Oesterreich wagt seine Stimme gegen Mussolini zu erheben! Das kann nicht mehr geduldet werden! Nun läuft Oesterreich Gefahr, scharfe Sanktionen Mussolinis erdulden zu müssen. Die einzige Waffe Oesterreichs ist der Appell an das Recht. Mussolini verletzt in gröbster Weise die Versprechungen, die in der Mantelnote des Friedensvertrages von St. Germain dem besiegten Oesterreich feierlich gegeben wurden, die Versprechungen, mit der größten Libe ralität die nationale, sprachliche und religiöse Eigenart der Deutschen Südtirols zu schonen. Wie es mit dieser Schonung in der Praxis aussieht, ist längst bekannt. Nicht einmal die Eräberinschriften dürfen in Südtirol deutsch sein, nicht einmal den Namen seiner Väter darf ein Südtiroler behalten! Die Beurteilung -es Auslands. Die holländische Presse besaßt sich in Leitaufsätzen mit dem durch die Südtiroler Frage entstandenen österreichisch - italienischen Zwischen fall, wobei die Minderheitenpolitik Ita liens stark kritisiert wird. „Algemeen Handelsblad" führt aus, die Annexion Südtirols, das in seinem innersten Wesen deutsch sei, durch Italien sei ein Unrecht gewesen, das man allerdings in Italien noch bis zu einem gewissen Grade mit der Berufung auf strategische Gesichtspunkte habe mildern können. Italien habe aber neuerlich versprochen, die deutsche Bevölke rung Südtirols sehr liberal zu behandeln und ihre na tionale Eigenart zu respektieren. Was aus der Er füllung dieser Versprechungen geworden sei, wisse man nicht nur aus den Klagen der Tiroler und Oesterreicher, sondern auch aus den Schilderungen ausländischer Tou risten., Die Mißhandlung Südtirols bleibe ein ernster Fehler der italienischen Politik, ganz gleich, ob ein italienischer Gesandter in Wien sitze oder nicht. Mißbilligung auch in Frankreich. Mit großer Spannung sieht man in Paris der ange kündigten Rede Mussolinis entgegen, in der er auf die Ausführungen des österreichischen Bundeskanzlers Dr. Seipel zur Tiroler Frage antworten soll. In einem Teil der französischen Öffentlichkeit nimmt man an, daß ein Zusammenhang zwischen der St. Gotthard- Affäre und dem österreichisch-italienischen Zwischenfall besteht und, wie „Paris Midi" meint, Mussolini in der Tiroler Frage die Stimme erheben werde, um die Ma schinengewehr-Affäre vergessen zu lassen. Ob die beiden Fragen verbunden seien oder nicht, sagt der rechts stehende „Intransigeant", cs könne nicht geleugnet wer den, daß die italienische Politik in gewissen Ländern Beunruhigung Hervorrufe. Das „Echo de Paris" er kennt an, daß der Faszismus in Mittel europa die heftigsten Reaktionen aus löse und in Tirol eine besonders lebhafte Jrredenta bestehe. Die italienische Politik bewege sich in den ver änderlichsten und widersprechend st en Auffassun gen. Allgemein hebt die Pariser Presse den gemüßigten Ton der Rede Seipels hervor, wie sie auch bezweifelt, daß Mussolini seinen Wiener Gesandten abberufen werde. Wenn der Diktator, schreibt „La Rumeur", wirklich die diplomatischen Beziehungen mit Oesterreich abbrechen würde, so würden wir daraus ersehen können, daß Mussolini nichts für die Erhaltung des Friedens in Europa tut. Der „Oeuvre" macht Rom den Vor wurf, daß seine Politik der Ztalienisierung der ger manischen Minderheiten nicht nur ohne Milde, sondern auch ohne Gerechtigkeit sei, und daß diese Politik der Rationalisierung auch in den von Kroaten und Slo wenen bewohnten Provinzen verfolgt werde. Das „Peuple" spricht von einer brutalen Entnationalisie- rungspolitik in einem unbestreitbar durch Bevölkerung, Sprache, Sitten und Gebräuche deutschem Gebiet, die das Werk der Annäherung und des Friedens erschwere. Es bleibt allein dem „Temps" vorbehalten, für den österreichisch - italienischen Zwischenfall ausgerechnet Deutschland verantwortlich zu machen. Ungarns Lage in -er Scent Gotthard-Assare. 27 Februar 1928 In Budapester politischen Kreisen erweckt es leb hafte Genugtuung, daß das Einschreiten des Natspräsi- denten in der Szent Gotthard-Angelegenheit von der deutschen Presse fast einmütig abgelehnt wird. Zugleich fällt es hier sehr auf, daß die italienische Presse, die sich in dieser Angelegenheit seit Wochen in gleichgültiges Schweigen hüllte, nunmehr wie auf Kommando i n scharfer Form für Ungarn Stellung nimmt. Man macht sich hier allerdings keine Illusionen, daß diese plötzliche Sinnesänderung Musso linis etwa Ungarn zuliebe geschehe, sondern man ist der Ansicht, daß offenbar die Spannung mit Frankreich die Ursache dafür gibt. Solange Briand die Waffen- schmugglerafsäre geringschätzig behandele, blieb Italien still. Nun, da bekannt wurde, daß das Telegramm des Präsidenten des Völkerbundsrates nach einer Bespre chung mit Briand zustande gekommen ist, hält Mussolini den Zeitpunkt für gekommen, energisch für Ungarn ein zutreten. Im „Pester Lloyd" äußert sich Gras Apponyi zu dem Schrill des Ratspräsidenten in der Szent Gotthard- Angelegenheit. Er glaube, daß man mit Rücksicht aus den ungarisch-rumänischen Agrarprozeß, der in der Märztagung des Völkerbundsrates ebenfalls entschieden werden soll, Stimmung gegen Ungarn machen wolle. Vor allem hätte Politis, einer der Advokaten Rumä niens, in diesem Prozeß sich sehr auffallenderweise in die Wafsenjchmuggelangelegenheit gemischt. Graf Aponyi wendet sich an die französische öffentliche Mei nung, von der er fordert, sie möge sich auf ihre Anhäng lichkeit an die Friedensverträge erinnern und nicht mit zweierlei Maß messen, sondern die Forderung auf genaue Einhaltung der Verträge nach allen Seiten hin in gleicher Weise aufstellen, also auch die Einhaltung der - Abrüstungsbestim-mungen des Minderheitsschutzes usw. strengstens verlangen. Alan ist der Ansicht, daß die österreichisch-ita lienische Verwicklung auf die Prager Reise Dr. Seipels zurückzufübren ist, da man in Rom augenblicklich eine österreichisch-tschechisch-französische Annäherung als Ziel dieser Reise vermutet. Polen im Wahlfieber. 27. Februar 1928 Der letzte Sonntag vor den polnischen Sejmwahlen verlief ganz ruhig und ohne größere Zwischenfälle. Am Vormittag hielt Vizepremier Bartel in Wilna eine Propagandarede für die Regierung, die über sämtliche polnischen Nadiosender, nicht ohne erhebliche technische Mängel, verbreitet wurde. In den Straßen Warschaus hat ebenfalls die erste stärkere Wahlagitation eingesetzt, an der aber nur die Nationaldcmokraten, daneben die Sozialisten und die Regierungspartei beteiligt sind. Von den ersteren wird eine sehr geschickte auf die primi tive Wählerschaft spekulierende Wahlpropaganda getrie ben mittels Wahlnummern, die an den Häuserfronten, an den Straßen, wo keine weitere Reklame zu sehen ist, in Höhe des zweiten Stockwerkes angebracht werden und gleichzeitig in Millionen von Exemplaren in allen Häusern und Wohnungen verbreitet werden. Anderen in den letzten Tagen eingelaufenen Berichten zufolge soll mit einem weit stärkeren Erfolg der Listen der Na tionalen Minderheiten zu rechnen sein als ursprünglich angenommen wurde. Besonders in den östlichen Min derheitsgebieten ist es deshalb bereits zu erheb- lichen Terrorakten gekommen. Ebenso stehen die offiziellen Kreise der polnischen Regierung der Liste der Kommunisten und deren wahrscheinlich sehr starkem Erfolg mit großer Besorgnis gegenüber. Man rechnet damit, daß die Kommunisten, obwohl sie keine Propa ganda machen dürfen, stärker als die Regierungsliste und sogar die Sozialisten aus dem Wahlkampf hervor gehen werden. OsloberschlesiemmZeichen-esWahllerrors Armer Korfanty! Am Sonntag erreichte die Wahlagitation in Kattowitz wohl ihren Höhepunkt. Den Kirch gängern bot sich ein widerwärtiges Bild. Sämtliche Häuser, Schaufenster und Zäune waren mit großen Pla katen der Liste verunstaltet. Die übrigen Parteien, die sich an dieser marktschreierischen Wahlpropaganda nicht beteiligten, durften noch nicht einmal Fluqzettel in den Straßen verteilen, da die Zettelverteiler sofort von Aufständischen vertrieben wurden. Ein Flug blatt der Korfanty-Gruppe, das in mehre ren Tausend Exemplaren bereits gedruckt war. wurde von der Polizei beschlagnahmt. Auch der „Ober- Mesischs Kurrier" und die „Breslauer'Zeitung" ver fielen bereits am Sonnabend der Befchlägnahme. Systematisch wird jede gegen denRegierungsblock ge richtete Wahlpropaganda unterdrückt. Am Sonntag vormittag wäbrend des Gottesdienstes versammelten sich vor dem Theater mebrere Kompagnien Aufstän dische. die nach einer Wahlrede mit einem Lastauto durch die Straßen rühren, auf dem eine Korfanty darstellende Puppe und eine 'zweite Puppe einen prcußistben Schutzmann darstellend verhöhnt wurde. Die Straßen, die zu Korfantys Villa führen, wurden von berittener Polizei abgesperrt. Zu ernsten Zwischenfällen ist es jedoch nicht gekommen. General Guillaumat Nachfolger des Marschalls Petain? Paris, 27. Febr. Das „Journal" verzeichnet ein Gerücht, wonach Marschall Petain sein Amt als Mit glied des Obersten Krieasrats niederzulegen gedenke. Als sein Nachfolger und künftiger Eenerallissimus wird der Oberkommandierende der Rhcinlandtruvpcn. Gene ral Guillaumat, und als dessen Eeneralstabsches Maurin genannt, der an die Stelle des Generals Debeney treten würde. Ernennung Sir Horace Rumbold zum britischen Botschafter in Berlin. London, 27. Febr. Die Ernennung des gegenwär tigen britischen Botschafters in Madrid, Horace Rum bold, zum britischen Botschafter in Berlin als Nach folger für Sir R. Lindsay wird in hiesigen wohlunter richteten Kreisen im Laufe der kommenden Woche er wartet. Die formelle Antwort der deutschen Regierung, daß Horace Rumbold in Berlin persona grata ist, steht noch aus, dürfte aber in den nächsten Tagen eingehen. Unmittelbar darauf wird die Ernennung bekannt ge geben werden. Sir Korace Rumbold. Der künftige englische Botschafter in Berlin. Wie bereits gemeldet worden ist, wird auf dem englischen Botschafterposten in Berlin in Kürze ein Wechsel stattfinden, nachdem der gegenwärtige Botschaf ter Lindsay als Nachfolger des Staatssekretärs Tyrrel in Aussicht genommen ist. Ursprünglich wurde als Lindsays Nachfolger der von seinem Votschafterposten in Washington zurücktretende Sir Howard Esme ge nannt, der sich jedoch geweigert hat, den Berliner Posten zu übernehmen. Damit ist die Kandidatur Sir Rum- bolds die einzige, die noch in Frage kommt. Sir Horace Rumbold, der z. Zt. Großbritannien in der spanischen Hauptstadt vertritt, ist im Jahre 1869 geboren, er steht mithin im 60. Lebensjahre. Seine diplomatische Karriere begann 1888 mit einem Posten in der britischen Gesandtschaft im Haag. Seine weitere Laufbahn führte ihn nach Athen, Theheran, Wien, Kairo und Madrid, nachdem er vorübergehend auch Geschäftsträger in München war. 1908 wurde er nach Tokio versetzt. 1905 heiratete er Miß Ethelred Fane, eine Tochter des ehemaligen Diplomaten Sir Edmund Fane. Sir Horace Rumbold, der seine Schulbildung auf dem berühmten Eton-Lolledge erhalten hat, gilt als ein äußerst feingebildeter Diplomat, der seinen Auf enthalt in München benutzt hat, um sich eine umfassende Kenntnis der deutschen Verhältnisse und insbesondere des deutschen Geisteslebens anzueignen. Er stammt aus einer alten Diplomatenfamilie, denn sein Vater, der ebenfalls Horace Rumbold hieß, war zuletzt Botschafter am Wiener Hofe, wo er kurz vor seinem Rücktritt durch die Veröffentlichung von Enthüllungen über Kaiser Franz Josef viel von sich reden machte. Die Mutter des künftigen Berliner Botschafters war eine Amerika nerin, die Tochter des amerikanischen Gesandten in Bern, George Harrington. Sir Horace Rumbold der Aeltere, der Nater des neuernannten britischen Botschafters in Berlin, war zur Zeit des schärfsten englisch-russischen Gegensatzes Bot schafts-Attache in Konstantinopel. In seinen als Buch erschienenen Enthüllungen über Kaiser Franz Josef, das er 1901 veröffentlichte und das in Deutschland und Oesterreich, aber auch in England selbst peinliches Auf sehen erregte), erzählte er u. a. auch einige amüsante Episoden aus seiner Konstantinopeler Zeit. So ist Sir Horace einmal dem Botschafter Ruß lands in Konstantinopel in eine sehr geschickt gestellte Falle gegangen. Ein großes Fest auf der russischen Botschaft in Pera mar wochenlang vorher angekündigt. Eine Dilettantenaufführung mar vorbereitet, man wollte Komödie im Salon spielen, und der russische Bot schafter machte Mr. Rumbold so viele Komplimente über sein angebliches Talent, daß dieser sich zuletzt ent schloß, den Bitten des Diplomaten gemäß eine sehr drollige Rolle in einem Feuillet'schen Einakter zu über nehmen. Der festliche Abend kam heran, und als Rumbold, geschminkt, kostümiert und zu Späßen aufge legt, die Bühne betrat, bemerkte er plötzlich, daß die erste Reihe des Zuschauerraums ausschließlich mit hohen türkischen Würdenträgern besetzt war. Nun sah Num- bold erst ein, daß er in eine Falle gegangen war. Die ganze Geschichte war nur veranstaltet worden, um ihn, bzw. die Engländer, herabzusetzen. Denn die Türken sind sehr ernsthafte Leute, Menschen, die Späße treiben, sich vermummen, Theater spielen, gelten ihnen als ver ächtliche Gaukler, unwürdig edler Beschäftigungen; der russische Botschafter wollte auf diesem Wege den hoch gestellten Türken die Ueberzeugung beibringen, daß die Engländer nur Clowns und politisch bedeutungslos seien Rumbold fühlte seinen Hineinfall, als er sah, mit welcher Verwunderung die Türken zu ihm auf die Bühne blickten; aber es war zu spät, er konnte den fal schen Schritt nicht wieder gutmachen. Ganz heiter ist auch folgende Geschichte, die Sir Horace Rumbold in seinem Buche erzählt: Ein Korre spondent der „Times" in Konstantinopel hatte sich in eine der Töchter eines reichen griechischen Kaufmanns verliebt. Er hatte ihr die Ehe versprochen, und das Mädchen liebte ihn wieder. Aber der Vater widersetzte sich der Ehe aufs hartnäckigste, und so faßten die Lieben den aus Verzweiflung den Plan, der Engländer sollte die Griechin auf dem Seewege entführen. Da das Mädchen nach orientalischer Sitte sehr streng bewacht wurde, so blieb nur der Weg übrig, sie in einer Kiste als Frachtgut auf ein Schiff zu bringen, das der Jour nalist dann gleichfalls besteigen sollte. Das Unternehmen glückte: die Kiste mit der kostbaren lebenden Last ge langte unversehrt an Bord. Aber als dann unterwegs der Liebhaber sie öffnete — welche Enttäuschung! Das war nicht seine Angebetete; ihre ältere und viel weni ger hübsche Schwester stieg heraus! Die jüngere hatte im letzten Moment den Mut verloren, und die ältere hatte sich entschlossen, sie zu vertreten. Der Engländer war zunächst entsetzt, dann aber machte er gute Miene zum bösen Spiel, heiratete das Mädchen und wurde sehr glücklich. Und wenn sie nicht gestorben sind . . . In einen kleinen Zwischenfall war übrigens auch der künftige Botschafter Berlins. Sir Horace Rumbold. oder, genauer genommen, seine Gattin, Lady Rumbold, verwickelt. Im Jahre 1923 war nämlich der Lady Rumbold im Palace-Hotel in Caux oberhalb von Mon treux ein sehr wertvolles Perlencollier abhanden ge kommen. Der kostbare Schmuck hat sich dann nach zwei Jahren hinter einem Waschtisch vorgefunden und wurde seiner Besitzerin aus diplomatischem Wege zugestellt. In dieser merkwürdigen „Diebstahlsaffäre" ist niemals völlige Aufklärung geschaffen worden.