Volltext Seite (XML)
MM » MM Beilage zu Nr. 138. Donnerstag, 2. Dezember 1909. Aus Sachsen. Wilsdruff, den 1. Dezember. Recht unangenehme Bekanntschaft mit dem Gesetze zum Schutze der inländischen Arbeiter in den Vereinigten Staaten mußten sieben Mechaniker aus Che««itz machen. Sie waren von einer Maschinenfabrik in Philadelphia zur Anfertigung von Strickmaschinen engagiert worden, deren Exportztffer, nebenbei bemerkt, durch den neuen amerika nischen Zolltarif ganz erheblich zu Ungunsten der Deutschen Industrie zurückgegangen ist. Da in den Vereinigten Staaten keine ausländischen Arbeiter mit der Zusicherung fester Arbeitsgelegenheit eingeführt werden dürfen, mußten cs sich die sieben Chemnitzer gefallen lassen, daß sie bis zur Erledigung des gegen sie angestrengten Deportations- Verfahrens von der Einwanderungsbehörde, die von ihrem Engagement gehört hatte, auf Ellis Island festgehalten werden. Zweifellos wird ihre Rücktransportierung nach Deutschland auf Grund des sogenannten Kontraktarbeiter- gcsetzes eintreten, obwohl die Philadelphiaer Firma sich alle Mühe zu ihrer Befreiung gibt. Unglaubliche Schweinereien in einer Fleischerei wurden der Oeffentlichkeit bekannt durch einen Prozeß, der sich vor dem Chemnitzer Schöffengericht abspielte und in dem sich der Fleischermeister Schubert wegen Vergehens gegen das Nahrungsmittelgesetz zu verantworten hatte. Er wurde beschuldigt, wissentlich verdorbene Flasch- und Wurstwaren verkauft zu haben, die von ihm in schmutzigem Wasser gekocht und deshalb in Fäulnis übergegangen waren. „Es klingt schlechter, als es ist," bemerkte der Angeklagte, der die Anzeige als einen Racheakt bezeichnete. Tatsächlich wurden aber durch die eingehende Beweis aufnahme unglaubliche Schweinereien festgestellt. Geiz war das Motiv. Wasser war dem Angeklagten ein kost bares Gut. Das mußte ausgenützt werden, deswegen wurde eS, wenn es zu Reintgungszwecken benutzt war, nicht weggeschüttet, sondern immer wieder und tagelang (I) benutzt. Es wurde durch mehrere Zeugen festgestellt, daß Sonntag? regelmäßig Wasser in ein großes Faß geschüttet wurde. Das wurde der Wasserleitung entnommen und dazu wurde das Ablaufwaffer aus dem Eisschrank (!) geschüttet. Nach der Schlachtung an den Montagen wurden dann in dem Wasser die vom Schlachthofe hereingebrachten, zur Wurstfabrikation bestimmten frischen Därme und sogenannten Salzdärme gewässert bis zum Dienstag früh. Dann wurden Flecke in demselben Wasser gespült, hierauf Bauchfleisch, Köpfe u. a. gekocht und schließlich die Wurst darin gebrüht!!! Dann wurden die zur Wurstfabrikation gebrauchten Geräte damit gewaschen. Aber damit war bei dem Angeklagten die Gebrauchsfähigkeit des Wassers noch nicht erschöpft. ES wurde weiter aufgehoben und nach Bedarf am Mittwoch und Donnerstag verwendet und am Freitag noch in die Wurstmasse getan!!!! Die Würste, die am Freitag gemacht wurden, kochte Schubert in „frischem" Wasser, d. h. in solchem, in dem „nur Därme gespült" worden waren. Das alles wurde durch Zeugen- beweis festgestellt, der durch die Gutachten zweier Sach verständiger gestützt wurde. Einer hatte in der beschlag nahmten Wurst — etwa 75 Kilo — Bakterien (Kocken) in ungeheurer Anzahl gefunden. Die Wurst stank. Mit 500 Mark Geldstrafe belegte das Gericht den Angeklagten für die lange Zeit betriebene Schweinerei. In tiefe Betrübnis wurde am Freitag nachmittag die Bäckermeister Tischendorfsche Familie in Lichtenstet«» Callmherg versetzt. Eine Anzahl Schulknaben hatte in dem gegenüberliegenden Garten eine große, starke Schnec- wand aufgebaut und in dieser eine Höhle eingerichtet. Die Kinder belustigten sich schon tagelang in und vor dieser Höhle, warfen immer neue Schneemafsen auf den Bau, um ihr Werk zu vervollständigen. Freitag nachmittag kroch der zwölfjährige Sohn der Tischendorfschen Ehe leute in die Höhle und fand darin schon nach wenigen Augenblicken den Lod. Der Schneeball war zusammen- gebrochen, das Unglück auch sofort bemerkt worden. Zirka acht Personen eilten mit Schaufeln herbei und er reichten nach drei Minuten den unglücklichen Knaben. Letzterer wurde in hockender Stellung tot aufgefunden. Alle Wiederbelebungsversuche blieben ohne Erfolg. Ein tödlicher Rodelunfall hat sich in Seifenhenners» d»rf ereignet. Der 21 jährige Musterweber Dehner fuhr von der neu angelegten Rodelbahn beim Burgberg herunter und kam dabei zum Sturz. Den schweren Verletzungen, die er dabei erlitt, ist er jetzt erlegen. In Falkenstein wird im kommenden Frühjahr eine Stickereifachschule für sechs Schiffchenmasä inen mit einem Kostenaufwande von 56 300 Mark errichtet. Man will damit der dortigen Industrie geschulte, leistungsfähige Kräfte zuführen. Für später ist die Errichtung deS HandelsschulgebändeS neben dieser Schule geplant. Dem Flammentode entrissen wurde nachts in Gestelzt- der Uhrmacher Schau. Der einbeinige und zudem schwerhörige Mann wurde durch den Bierverleger Urban von Weißenberg in letzter Minute aus seinem brennenden Häuschen gerettet, das gleich darauf zusammen brach. Schau bewohnte das Grundstück ganz allein. Der Roßschlächter Franz in Lohme» fand beim Schlachten eines Pferdes im Blinddarm desselben einen 7'/i Pfund schweren Stein, der sich im Körper des Tieres selbst gebildet hat. In der Angelegenheit des verfallenen Hauptgewinnes der letzten Kreuzbrudervereins-Lotterie hatte der Vorsitzende des Zittauer Kreuzbrudervereins eine Gesamtvorstands sitzung etnberufen. Man kam auf Vorschlag des Vor sitzenden einstimmig zu folgendem Beschluß: 1. Es wird festgestellt, daß das Los, auf das der Hauptgewinn fiel, verfallen ist. 2. Der Hauptgewinn wird der Inhaberin dieses Loses als Geschenk überwiesen. Das arme Dienstmädchen, das nun doch in den Besitz der Wohn- stuben-Einrichtung (in einer solchen bestand der Haupt gewinn) kommt, dürfte über den hochherzigen Beschluß des KreuzbrudervereiuS hocherfreut sein. Beim Einhänaen der Doppelfenster in einem Lehr zimmer der Realschule in Löstau stürzte der Hausmann Knöschke von der Leiter und schlug mit dem Kopfe auf die darunter befindlichen Bänke auf. Der Bedauerswerte trug eine schwere Gehirnerschütterung davon, an der er nach einigen Stunden verschied. Zentral-Äusschuß -er gewerblichen MMel- standsverbande Deutschlands. i. Vom Hansabunde, von freisinniger und sozial demokratischer Seite werden über die am 22. November stattgefundene außerordentliche Delegiertenversammlung des deutschen Mittelstandes Nachrichten verbreitet, die den wirklichen Sachverhalt in sein direktes Gegenteil zu verkehren suchen. Bei der großen Bedeutung, die die Leipziger Vorgänge für die gesamte deutsche Mittelstands bewegung besitzen, ist es deshalb notwendig, von den Ereignissen eine jederzeit beweisbare, aktenmäßige Dar stellung zu geben. Die Deutsche Mittelstands-Vereinigung hat durch ihre Anlehnung an den Hansabund ihre Aktionsfähigkeit als Gesamtvertretung aller deutscher Mittelstandsgruvpen fast völlig eingebüßt. Nur wenige Monate Dienstzeit als Soldat des Hansabundes haben hingereicht, die Disziplin in den Reihen ihrer Anhänger zu zerstören und ihre Organisation in einen Zustand der Auflösung zu versetzen. Schlesien, Danzig und andere ostdeutsche Bezirke, die Landesverbände Thüringen und Sachsen- Altenburg, die Ortsgruppen in Hannover, Lüneburg, Frankfurt a. M., Wiesbaden und das übrige Hessen- Nassau, Barmen, Mainz usw. zogen sich zurück. Ferner schwand für die Deutsche Mittelstands-Vereinigung jede Aussicht, mit den beiden stärksten und lebensfähigsten Gruppen der Mittelstandsbewegung, der Mittelstands- Vereinigung im Königreich Sachsen, der allein mehr alS 500 Korporationen mit über 140000 Mitgliedern an- geschlossen sind, und der Westdeutschen Mittelstands-Ver einigung für Handel und Gewerbe (Sitz Düffeldorf E. V.) auch in Zukunft noch engere Fühlung zu halten. Die Mittelstands-Vereinigung in Karlsruhe, der Württem- bergische Bund für Handel und Gewerbe, der Nieder sächsische Schutzverband für Handel und Gewerbe in Braunschweig, die Hamburger Gewerbeschutzkommisstonen, die großen deutschen Zentralverbände für Handel und Gewerbe, die weitaus größte Mehrzahl der großen Jnnungs verbände sowie die Handwerks- und Gewerbe kammern nehmen dem Hansabunde gegenüber eine direkt ablehnende oder völlig neutrale Stellung ein, d. h., sie halten es für richtig, daß die Mittelstands organisationen als solche von einer Stellungnahme zum Hansabunde absehen und durch Anschluß- oder Ablehnungs erklärungen die gebotene Neutralität nicht verletzen. Wie richtig diese Vorsicht ist, beweist das Schicksal der Deutschen Mittelstands-Vereinigung. Seit ihrer Erklärung für den Hansabund hat sie nicht mehr eine ruhige Stunde gehabt. Der leidenschaftliche Streit, der unter ihren eigenen Mitgliedern und Freunden entbrannte, droht ihr den Untergang zu bringen. Aber noch größeres Unheil kann dem gewerblichen Mittelstände durch den Hansabund erwachsen. Die Sorge der führenden Mittel- standSkreise, daß der Bruderkampf, der jetzt durch die Schuld der Berliner Richtung die deutsche Mittelstands- bewegung so tief schädigt, auch auf die rein gewerblichen Jnnungs- und kaufmännischen Verbände übergreifen kl« verdSngnlr. Originalroman von Hans Wachen Husen. 13 „So sei's denn! Der Vater war ja so ruhig heute Moräen. — Ich oehe eben, es ihm zu sagen." „Tu' es! Ich sah vom Aensler aus Beide kommen. Sagtest Du dem Vater von meiner Ankunft?" Er freut sich sehr auf Dich." „Nun, so isi's besser, ich gehe mit Dir." Der Kommerzienrat empfing seine Schwägerin mit Herzlichkeit. Als er sich mit ihr ausgesprochen, erbarmte sie sich des armen Mädchens, das sie auf Kohlen sitzen sah. „Ich lraf hier gerade zu einem unerwarteten Fanu- lien-Ereignis ein, lieber John", sagte sie mit ruhigster Miene. „Klaus hat sich ja heut Morgen in aller Stille verheiratet. Daß der sich noch dazu entschlossen!" Aränzchen beobachtete heimlich mit Angst des Vaters Antlitz. Sie sah, wie es in demselben zuckte, wie er die blassen Lippen zusammenprehke, um sein nervöses Er schüttern zu bemeistern. Seine im Schoß gefalteten, von -er Krankheit abgemagerten Hände zitterten. Ein schwe res Weh lag um die ein gesunkenen Augen. „Er konnte, um Deiner Ruhe willen, natürlich nicht an eine Hochzeiksseier denken", setzte die Schwester scho nend hinzu. Die des Greises eingesunkenen Augen deckenden Lider blieben noch unbeweglich; er bestand einen inneren Kampf, der sich in leichtem Zucken seiner Glieder aus prägte. Aränzchen fürchtete jeden Moment einen Rückfall. Au ihrer Beruhigung aber blickte er erst sie, dann die Schwägerin an, freilich so geistesabwesend, als wollte er sich erst übrrzeuger, wer ihm gegenüber sitze. „Er halte mir versprochen, erst anzuhören, was ich ^ihm Wichtiges nutzutcilen habe, und ich verließ mich darauf, daß er einen Tag benutzen werde, an welchem ich kräftig genug . . . ." Der Gedankenfaden riß in ihm; er führte seine unsi chere Hand über die Stirn und blickte nieder vor sich. Seine Gesichtsnerven spielten unruhig, seine Lippen bewegten sich wie verschmachtend. Aränzchen holte ihm einen Trank. „Du hast ja uns noch, Robert und mich, Papa!" schmeichelte Fränzchen, ihm die Hand über den Nacken legend, und das schien ihn wirklich zu beruhigen, zu seiner Sammlung beizulragen. Er nahm ihre Hand. Die seinige war so kalt, daß er erschrak. „Wenn es Dir recht ist, John, bleibe ich so lange Ihr mich haben wollt!" Volda reichte ihm die ihrige und er drückte sie dank bar. „Nur heute möchte ich Klaus und sie nickt empfangen; agt, ich fühle mich nicht gut. — Mit Dir, Poldchen, wöasi' ich noch etwas besprechen; es ist gut, daß Du gekommen. Doch das hat jetzt wohl keine Eile." Er nahm sich merkbar zusammen, wollte von dem, was in ihm vorging, sich nicht beherrschen lassen. Er lächelte sie sogar, wenn auch schmerzlich, an und drückte ihr wiederholt die Hand. „Du begreifst", sagte er, „daß ich das Bedürfnis fühle, die letzten Jahre, die mir noch vergönnt sind, meinen jüngsten Kindern zu widmen; bleib bei uns. Du sollst mir leben helfen." Er wollte absichtlich an Klaus nicht denken. „Steh auf, Iränzchen", er legte dem Mäd chen, das an seiner Seite niedergekniet, die Hand aus den Scheitel. „Ich will mit Euch jetzt täglich ein paar Stunden spazieren fahren; die Stubenlusk ist es, die mich so schwch macht!" Dankbar, getröstet blickte Aränzchen zu ihm auf. „Laß Herrn Jost bitten. Ich möchte, wenn er aus dem Geschäft kommt, mit ihm sprechen!" 5. Es ist wohl zweifellos, daß der Wille einen bedeu tenden Einfluß auf die Lebenskraft des Menschen zu üben im Stands ist, wenn der Organismus nichts vollends zerstört ist. John Brinkmann besaß diesen Willen; er erkannte ihn als seine Pflicht den noch unversorgten Kindern gegenüber, als er eingesehen, daß seine Ahnung! einer düsteren nächsten Zukunft sich bestätigen werde. ! Klaus und seine Gattin hatten ihm am nächsten Tage ihren Besuch gemacht. Nichts war gesprochen wor den über sein selbskwilliges Vorgehen, während er, der Vater, dem Tode nahe. Das wurde als Tatsache hin genommen, gegen die der Letztere nichts mehr vermochte. Laurette zeigte sich auch bei diesem Besuch als ein liebenswürdiges, junges Weib, takkgewohnt und von genügender Bildung. Tante polda wollte nur bemerken, daß sie für ihr Alter sehr viel Lebenserfahrung verrate; aber sie war ja Künstlerin, auch daß ihr Wesen etwas „Gewackles" zeige; indeß das hakte die elbe Ursache, oie sckönen Augen des jungen Weibes bestachen sie wie jeden Andern, dock wollte sie beobachtet haben, daß die selben immer auf den Effekt ihres Sichgebens berechnet waren. Doch auch das war ja Künstlergewohnbesi. Im! Ganzen war ihr der Eindruck ein sehr günstiger, nament lich die Herzlichkeit der jungen Frau gegen Aränzcken. Daß es danach nicht zu einer wirklichen Intimität, gekommen, schrieb man Klaus zu, der, mit seiner ff rau von seiner Reise zurück, sich jetzt weniger als tonst und überhaupt nur geschäftsmäßig um den Vater kümmerte/ wenn sein Erscheinen geboten war. Seine jüngeren, Geschwister würdigte er kaum einiger freundlicher Worte, was Robert zwang, selbst seine Anstandsbesnche vorläu fig einzustellen, und zwischen Laureite und Iräuzchen ein Anjchließen unmöglich wa hle.