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350 ich an dieser Unglückliche» gemacht, die nun ror unö auf der anatomischen Tafel liegt." Die Studenten sabcn sich gegenseitig erstaunt an und unter dem ironischen Ausdruck ihrer Gesichter, womit sie bisher den stillen Gartäno zu betrachten pflegten, mischte sich ein Zug von Erstaunen. War eö doch daö erste Mal, daß sie seine Stimme vernahmen. Bis dahin hatte er nie ein Wort gesprochen. Endlich erwiderte Einer: „So sprechen Sie denn, Gar tano!" „Ja, sprechen Sic! sprechen Sic!" erscholl eS nun von allen Seiten. „Meine Herren!" begann er mit merklich zitternder Stimme, „dieses Mädchen, daö vor unS liegt, dies, s Mädchen, an deren Körper ich seht daö anatomische Messer sctztii will, — dicseö Mädchen ist — meine Schwester!" Grauen und Entsetzen erfüllte die Anwesenden. Gartano blieb ruhig, uur seine Augen blitzten mit unheim licher Beweglichkeit die Zuhörer an. „Ja, meine Schwester!" fuhr er nach einer kleinen Pause fort, meine unglückliche Schwester, die vor Nicht langer Zeit in Krankheit verfiel, und die ich auö Armuth iuö Spital bringen lassen mußte, wo sic nach vergeblichen Bemühungen der Acrztc, sic zu heilen, im Alter von 18 Jahren gestorben ist. Sic, die einst meine Freude, mein Allcö war, nun liegt sie hier, ein Spielzeug Eurcö Jugcndübermutheö, wie ich eö auch bisher ge wesen: ein Häßlicher und eine Leiche! o daö ist ein schönes Gc- schwisterpaar!" >— Bei diesen Worten verzog sich sein bleicher Mund zu ei nem höhnischen Lächeln. Die Studenten horchten schwcichend zu und blicktcn ihn mit dem Ausdruck dcö Schreckens an, der ih nen die Zunge band. „Nun wollen wir an die Arbeit!" Gartano stellte nun die Krankheit seiner armen Schwester von Anfang bis zu Ende mit größter Genauigkeit dar. Alö er zu Ende war, brachen seine Collcgen in lautem Beifall auö. Als er aber zur Scction dcS Leichnams schreiten wollte, fielen ihm die Nächstsitzcndcn in den Arm, verbaten sich die Scction und beantragten, daö Mädchen auf allgemeine Kosten bcgrabcn zu lassen. Daö Auditorium verließ tief ergriffen den Hörsaal und be gleitete ihn unter vielfachen Bezeugungen der Theilnahme b.S znr Thüre seiner Wohnung. Von diesem Tage an genoß Gartano die höchste Achtung und die freundschaftlichste Behandlung von Seiten seiner Eol- lcgcn, welche die tiefe wissenschaftliche Bildung, die sich in sei nem Vortrage ausgesprochen halte, mit Bewunderung anerkann ten. —' HI. Das Schuljahr war zu Ende. Die anatomischen Hörsälc wurden wegen der heißen Jahreszeit geschlossen. Die Studenten der mcdicinischcn Facultät, meist aus Calabricn und Apulien gebürtig, eilten ihrer Heimath zu. Nur Einige blieben in Nea pel, um die Ferien mit den Freuden dieser schönen Stadt auö- zufüllen. Gartano hatte keine Heimath. Schon als Kind hatte er seine Mutter, im Jünglingsalter seinen Vater verloren und so sich schon von früh auf gcnöthigt gesehen, mit seiner Schwester, einem Mädchen von 16 Jahren, und der alten kranken Großmutter die Heimath zu verlassen und sich nach Neapel zu begehen, wo sich doch eher alö in dem dürf tigen Städtchen seiner Geburt ein Broderwerb erwarten ließ. Im Alter von 15 Jahren sollte er sich und zwei andern ihm thcuern Wesen Unterhalt verschaffen. ES wäre ihm wohl unmöglich gewesen, wenn er nicht schon von Kindheit an in der Schule der Entbehrung abgehärtet und seine natürlichen Anlagen zu einer frühen Reife gebracht hätte. Von dem Augenblicke an, wo das Vedürfniß der geistigen Bildung in ihm erwachte, entwickelte sich in Gartano ein eigcn- thümlichcr Hang zum Studium der Medwin. Um aber diesem schwierigen Beruf sich hinzugcbcn, mußte er damit noch einen Broderwerb zu verbinden trachten. Deshalb stellte er sich schon einige Tage nach seiner Ankunft in Ncap.l einem alten Notar vor, dessen Expedition sich in der Nähe von Gartano'ö Woh nung befand. Dieser Notar, Namcnö Tommaso Basileo, war ein Geiz hals ohne Gleichen; hatte schon seit seiner Jugend nicht den besten Ruf genossen, allein er kümmerte sich im ruhigen Betriebe seines Geschäftes wenig um daö Gerede der Leute und um die Bedenken und dunkeln Lermuthungcn über seine Vergangenheit, welche sich in der mündlichen Ucbcrlicferung seiner Nachbarn un- vcrwischt fortpflanztcn. Gartauo bekam den gewünschten Schrcibcrdicnst, aber cr hatte den ganzen Tag so viel zu thun für den geizigen Alten, daß ihm kaum Zeit genug übrig blieb, die mcdicinischcn Vor lesungen zu besuchen. Zu seinen häuslichen Studien mußte er daher die Nacht zu Hülfe nehmen. Auch hätte daö Gehalt jener Anstellung nicht hingcrcicht, drei Menschen selbst nur ganz kümmerlich zu ernähren. Katha rina, Gartano'ö Schwester, suchte durch Handarbeiten die dürf tige Lage ihrer Angehörigen wenigstens um ein Geringes zu er leichtern; allein ihr Körper war zu schwächlich, daö tagclangc angestrengte Sitzen zu ertragen. Sic erkrankte. Garlano war m Verzweiflung. Sein Einkommen reichte nicht hin, der Leidenden im Hause selbst die nöthige Hülfe zu verschaffen. Und so sah er sich, obgleich cö sein zartfüblcndcö Bruderherz zerriß, gezwungen, die Kranke inö Spital bringen zu lassen, wo sie auch bald darauf unter großen Leiden starb. Dadurch war Gartano selbst die kleine Unterstützung ge nommen, welche bis dahin der Fleiß der Schwester cingebracht hatte. Er aber ergab sich in die traurige NothwendigUit und abgestumpft gegen allcö Leid, das noch kommen könnte, arbeitete er beim Notar mit der mechanischen Gleichgültigkeit einer Ma schine. Nur im Hörsaale und bei seinen mcdicinischcn Studien auf der einsamen Stube schien er wieder Muth und Kraft zu gewinnen. So ging es ein ganzes Jahr fort. Zur Zeit, in welcher unsere Geschichte beginnt, im Jahre 1810, hatte sich Gartano bereits große Kenntnisse in seinen ärztlichen Studien erworben. Ein durchdringender Scharfblick und eine kalte sichere Erkenntniß der SceUnzustände seiner Kranken zeichneten ihn in Ausübung seiner Kunst vor Allen auö. Auf den Notar, welcher wohl auch vom ärztlichen Rufe seines Schreibers vernahm, hatte dies die Wirkung gehabt, daß er ihn noch härter behandelte. IV. Eines TagcS befand sich Gartano in der Expedition allein. ES war 10 Uhr MorgcnS. Der Notar war fortgcgangcn, um einem Hcirathöakt bcizuwohncn, und hatte sämmtlichc Schlüssel in den Schränken, wo die Protokolle aufbcwahrt wurden, mit- gcnommcn. Gartano saß am Schreibtische und hatte ein Papicrblatt vor sich liegen, über welches die Hand mit der Feder ganz mechanisch hinglitt, während die Gedanken ferne schweiften. Sein ganzes Leben mit seinen fünfundzwanzigjährigen Lei den zog an dem Blick deS Schreibenden vorüber, und er be merkte nicht daö Hcranrollcn eines WagcnS, der vor der Hauö- thürc hielt. AuS dem eleganten Wagen sprang ein junger, fcingcklci- deter Herr. //Ist hier daö Bureau des Notar Basileo?" fragte er hin- eintrctend. „Ja," entgegnete Gartano, ohne sich von seinem Sitze zu erheben. „Er ist nicht zugegen?" „Nein, mein Herr." „Wird er lange auöblcibcn?" „Wohl möglich, da er wegen cincö HeirathöaktcS in die Stadt gegangen ist." Daö Gesicht des Mannes heiterte sich sichtlich auf. Ein lüchtigcö Lächeln war bemerkbar, welches cr aber zu verbergen üchtc, indem er sich den Schnurrbart strich. Eine Zeit lang stand cr schweigcnd da und betrachtete auf merksam den Schreiber, als wollte er in sein Inneres blicken. Daü barsche Betragen Gartano'ö schien ihn unsicher zu machen. Allein der junge Herr, der offenbar seine Gründe hatte,