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MOmfferTageblatt Nr. 118. — 1923 — 82 Jahrgang. Dienstag / Mttrwoch 9. / 10. Oktober. Vie Sonnabend-Keclr des Kanzlers. Am Sonnabend ergriff Reichstanzler Dr. Stresemann im Reichstag das Wort zu >einer großen Regierungserttärung. Auf die tommumsttschen Empsangsruie: „Der Snnnes-Vertreler!", „Die Kulisse für Stinnes!" antwortete Stresemann in seiner ge- jchiüten Art. Er wies die Zwischenrufe unter heiterer Zustim mung des Hauses zurück. „Die Regierungsneubildung — so begann der Kanzler — hat sich vollzogen auf partei politischer Grundlage. Sie hat Veränderungen gebracht in der Besetzung des Neichswirlschafrsministeriums uno des Relchs- sinanzmmistenums. Das erste wird geführt von Herrn Dr. Koelh, das Reichsfinanzministerium von dem bisherigen Mi nister für Ernährung und Landwirtschaft Dr. Luther. Das Ministerium für Ernährung und Landwirtschaft bleibt vorläufig osten; es ist die Absicht der Regierung, es zu besetzen mit einem aus der Landwirtschaft stammenden, mit ihr in engstem Ver trauensverhältnis stehenden Herrn. — Die Vorgänge der letzten Tage haben eine sehr scharfe Kritik erfahren. Der Reichsverband der Eisen- und Stahlindustriellen jagt z. B., der Parlamentarismus habe versagt. Gestatten Sie mir, die Gegenfrage zu stellen: Hat denn nicht auch die Wirt schaft versagt, indem sie sich dem Staate nicht zur Verfügung stellte? Den Parlamentarismus führt man nicht „ad absurdum" durch Resolutionen, sondern durch praktische Mitarbeit, indem man zeigt, dast man die Dinge besser zu meistern vermag. Nun eine zweite Frage: Die Vorgänge, die sich in den letzten Tagen .abgespielt haben, geben gewiß auch zu beträchtlicher Kritik Anlaß, aber cs ist ein Irrtum, wenn es fo hiügestellt wird, als ob diese ganzen Vorgänge sich lediglich bezögen auf den Kampf um eine andere politische Einstellung. Wir traten an den Reichstag heran, um ein Ermächtigungsgesetz zu erhalten, um den Reichstag zu veranlassen, auf ihm verfas sungsmäßig zustehende Rechte für längere Zeit zu verzichten, dem Kabinett Vollmachten zu geben, die weit hinausgehen über das, was jemals ein Kabinett an Vollmachten besaß. Diese ver fassungsmäßigen Bestimmungen erforderten hier im Hause die Annahme mit Zweidrittelmehrheit. Es war ganz klar, daß bei der Bedeutung der Sachlage dem Kabinett nicht eine Blanlo- vollmacht gegeben werden konnte, sondern daß man sich klar werden mutzte wenigstens über die Grundlinien, denen wir in bezug aus Wirtschafts-, Finanz- und Sozialpolitik folgen mußten, und es handelte sich bei diesem Problem nicht um die Festsetzung von Prinzipien — über die könnte man sich leicht einigen —, sondern dessen, was praktisch geschehen sollte. Bei der Bedeutung dieser Fragen entstanden die Disserenzen, die sich bei der Neu bildung der Regierung gezeigt haben. Mit Bedauern habe ich eine deutschnationale Kritik gelesen, die sagt, die Regierung zeige mehr Vertrauen zum Feinde, als zum eigenen Volke. (Pfui-Ruse.) Diese Kritik bezog sich auf die Aufgabe des passiven Widerstandes. Weiter habe ich gelesen, man bedaure, daß die Regierung bei der Ausgabe dieses Widerstandes die materiellen Gesichtspunkte zu sehr in den Vordergrund gestellt, die ideellen zurückgestellt habe. Eine große Kritik, eine sehr weitgehende, spricht davon, daß man Mißerfolg gehabt habe, weil die Ersolglosigkeit der außenpolitischen Wirkung klar zutage trete. Dieser Kritik liegt' eine falsche Ausfassung zugrunde über die Beweggründe sür die Aufgabe des Widerstandes. Das Kabinett' sand folgende Si tuation vor: Der Nuhrkampf war seit Januar geführt worden, geführt unter Bedrückungen und Gewalttätigkeiten. Er hatte eine seelische Depression ausgelöst, die vielleicht gerade aus der Passivität des Widerstandes hervorging. Der Widerstand war aus der Bevölkerung selbst erwachsen, durch Machtmittel des Staates war er nicht zurückzuhalten. Er war von der Regierung unterstützt worden. Die moralische Widerstandskraft eines Volkes, das so viel durchgemacht hatte wie das deutsche, kann schließlich nicht alles auf sich nehmen und wer im Januar gesagt hätte, daß das deutsche Volk neun Monate lang Derartiges ertragen würde, dem hätte wob! niemand geglaubt, sondern wir alle würden ge glaubt haben, daß diese Dinge viel früher ein Ende finden Würden. Wehe demjenigen, der daraus der Bevöl kerung einen Vorwurf machen würde denn sie hat etwas ertragen, das über das Matz und die Grenze dessen geht, was Menschen irgendwie ertragen können. Mir liegt jede Beschönigung vollkommen fern. Es war infolgedessen klar, daß infolge der Ermattung, die eingetreten war, mit diesem Widerstand allein Franzosen und Belgier aus dem Einbruchs gebiet nicht mehr herauszubringen waren. Je schwächer der Widerstand wurde, desto schwerer wurde es, ihn irgendwie diplo matisch für Deutschland auszunutzen. Wenn wir überhaupt den Wiederaufstieg Deutschlands wollen, jo kann dieser nur aus dem Sittlichen hervorgehen. Ich erwähne das Versagen auf finanziellem und materiellem Gebiet, weil es den Einbruchsmächten anzeigte, wie es mit uns stand. Es fragt sich, ob wir noch weitere diplomatische Erfolge erringen konnten bei dem fortwährenden Verfall der Währung, den keine technische Maßnahme aufhalten konnte und der immer weitere Fortschritte machte, woraus man sah, daß Deutschland finanziell am Erliegen war, womit natürlich die Möglichkeit schwand, mit dem passiven Widerstand etwas zu erreichen. Von diesem Augenblick an mußten Bemühungen eintreten, eine Formel zu finden, die uns die Möglichkeit gab, die Aufgabe des passiven Widerstandes zu politischen Verhandlungen zu benutzen. Diese Ausgabe ist nicht gelöst worden. Wir waren bereit, nach Aufgabe des passiven Widerstandes eine Formel der Industrie anzu- uehmen, die in ganz anderer Weise die Wiederaufnahme der Arbeit regeln wollte, als es Frankreich verlangte. Wir haben nicht ckufgegeben die Forderung der Wieder verfügung über das Ruhrgebiet; wir werden niemals aufgeben den Kampf um die Menschheitsrechte der Bevölkerung. Unser ist der Boden! Unser ist das Land! Unser ist die Hoheit in diesem Lande! Das bleibt bestehen und das soll bis in alle Zukunft jo bleiben. Unser Wille ist der zur Verständigung. Aber es gibt eine Grenze der Geduld des deutschen Volles. Der Kanzler kam dann auf das Verhältnis Bayerns zum Reiche zu sprechen. Er sagte: „Die Rechtslage hinsichtlich des Nebeneinanders der beiden Ausnahmezustände in Bayern und im Reiche kann nicht zweifelhaft sein. Die sür das gesamte Reichsgebiet erlassene Verordnung des Reichspräsidenten ist Reichsrecht, welches dem Landesrecht in jeder Form vorgeht, also auch landesrechtlichen Verordnungen, die auf Grund des Art' 48 Abs. 4 der Reichsverfassung ergehen." Dann fuhr er fort: „Wir brauchen einen Eingriff in die Preisbildung, die bei uns Formen angenommen hat, die wir nicht mehr er trage» können (allgemeine stürmische Zustimmung). Wir brauchen Mittel gegen eine Monopolpreisbildung über den Weltmarkt preis hinaus; es geht nicht an, durch Konventionen und Syn dikate den Wettbewerb aus dem Wirtschaftsleben jo auszu schalten, wie er jetzt ausgeschattet ist. Wir haben eine ganze Reihe von Maßnahmen in Aussicht genommen; das geht nicht mit dem parlamentarischen Apparat, wie er aufgezogen ist. Dieses Ermächtigungsgesetz müssen Sie uns geben. (Zuruf bei den Kom munisten: Unter der Herrschaft des Belagerungszustandes!) Daß der Belagerungszustand da ist, liegt an Ihnen. (Stürmische, an dauernde Unterbrechung und Lärm bei den Kommunisten.) Wes halb ist der Belagerungszustand verhängt? Er ist verhängt gegen die subversiven Tendenzen ... Es ist ganz klar, daß der Be lagerungszustand sich gegen diejenigen richtet, die sür den Be stand des Staates eine Gefahr sind. Unter dem fortdauernden Lärm der Kommunisten schließt der Reichskanzler seine Rede mit dem Satze: Wir haben Pflichten zu erfüllen, nicht nur in der Gegenwart, sondern auch gegenüber der Generation, die nach uns kommt. Gegen die Stimmen der Kommunisten und der Deutsch- völkischen wird die Aussprache über die Neg.erungserklärung auf Montag 12 Uhr vertagt. Das neue Reichskabinett setzt sich wie folgt zusammen: Reichskanzler: Dr. Stresemann, zugleich mit der Führung der Geschäfte des Auswärtigen beauftragt, Reichsminister für Wiederaufbau: Schmidt, Reichsminister des Innern: Söllmann, Reichsfinanzminister: Dr. Luther, Reichswirtschaftsminister: Dr. h. c. Koeth, Reichsarbeitsminister: Dr. Brauns, Reichsjustizminister: Dr. Radbruch, Reichswehrminister: Dr. Geßler, Reichspostminister: Hvefle, Reichsverkehrsminister: Oeser, Ernährungsministerium noch unbesetzt, Minister sür die besetzten Gebiete: Fuchs. Kleine Zeitung für eilige Leser. * Das neue zweite Kabinett Stresemann wurde unter Aus- swechan des bisherigen Rcichsfinanzmluisters Dr. Hilferding auf Grundlage der bisherigen Großen Koalition gebildet, und »er Reichskanzler gab sodann seine Erklärungen vor dein -ueichstag ab. * In Bayern ist der Druck und die Verbreitung aller kom munistischen Zeitungen und Zeitschriften verboten worden. * Am 10. Oktober soll eine abermalige Verdoppelung der vMnbahntavife in Kraft treten. Curzons Grabrede. Lord Curzon, der englische Minister des Aus wärtigen, hat eine große zweieinhalbstündige — Grabrede gehalten vor der Konferenz der englischen Kolonien und Dominions, die jetzt in London tagt. Eine Grabrede über die englische Politik in Vorderasien und auf dem Konti nent; eine Grabrede über das verlorene Prestige des eng lischen Weltreiches. Am 6. Oktober zoa Kemal Pascha, der neiaen Türkei . Befreier und Oberhaupt, an der Spitze seiner siegreichen ! Truppen in Konstantinopel ein — und Lord Curzon mag j über die politische Rechnung Englands in Vorderasien eine Bilanz gezogen haben, die ein ungeheuerliches Debetsaldo aufweist. Man muß nur, als äußeres Zeichen dafür, jetzt in Deutschland sich aufhaltende Türken über England sprechen hören: aus dem Haß gegen dieses Land, das ihre Heimat zerstückeln, zertrümmern, ohnmächtig machen wollte, das unumschränkt ganz Vorderasien zu beherrschen schien, aus der wilden Wut gegen England ist offener Hohn, ist laute Verachtung geworden. Man äußert in diesen Kreisen ganz offen die Wünsche und Hoffnungen auf Indien, auf Ägypten, auf-die Befreiung Arabiens und Meso potamiens, den Anschluß Persiens und Afghanistans an den sich langsam, aber sicher verbreitenden großen islami schen Bund, dessen Haupt, auch mit den äußeren Ehren des Kalifats umkleidet, vielleicht schon sehr bald Mustafa Kemal sein wird. Länger noch als über die zu Grabe getragenen vorder asiatischen Pläne und Hoffnungen) mag Lord Curzon ge sprochen haben über den Zusammenbruch der englischen Politik auf dem Kontinent, über die Niederlage, die Bonar Law und Baldwin erlitten haben in ihrem Macht kampf mitPoincarö. Ein Machtkampf, der aber nur für Frankreich siegreich endigen konnte, weil Poincarö hin ter seine Worte und seine Pläne unbekümmerten entschlosse nen Willen, England aber, Lord Curzon besonders, hinter seine Reden gar nichts setzte. Tönendes Erz waren sie und wie eine klingende Schelle. Curzon mußte zugeben, daß die englischen Abmahnungen an Frankreich nichts genutzt hatten, daß ebenso die Mahnungen, jetzt, nach Aufgabe des passiven Widerstandes durch Deutschland, wirtschaftliche Ver nunft walten zu lassen, unbeachtet bleiben. Und er, der Deutschland allein ringen ließ um sein Dasein, flicht jetzt Pastorale Töne verwunderten Entsetzens in seine Grab rede, weil in Deutschland nach diesem Zusammenbruch das Chaos droht. Und darum erfleht er von Frankreich die Vorlegung von Plänen, wie es sich nun eigentlich die weitere Entwick lung im Ruhrgebiet denke, schwingt sich sogar zu dem Satze auf, daß England in Köln bleiben würde, um zu verhin dern, daß „die Regelung ohne unsere Mitwirkung geschehe". Um sofort das abzuschwächen durch die Erklärung, daß man nicht daran denke, Deutschlands Partei zu ergreifen oder gar Frankreich dessen zu berauben, „was ihm gebührt". Und be klagt schließlich bitterlich, daß alle ach so gut gemeinten Vor schläge Englands an Frankreich und Belgien, wie nun das ganze Reparations-Problem weiter behandelt werden sollte, nicht auf die geringste Gegenliebe gestoßen, von ihnen mehr oder minder schroffabgelehnt worden seien. Dann bricht er ab; was soll er auch vor den Vertretern der Kolonien diese gewaltige englische Niederlage noch brci- ! ter darlegen? Auf das Prestige englischen Herrentums, aus vcn englischen Schifsskanoncn ist dieses Weltreich errichtet, seit Nelson bei Trafalgar den französischen Nebenbuhler um die Herrschaft der Welt endgültig vernichtete. 120 Jahre später ist dieser englische Sieg wettgemacht; wieder durch Kanonen, die von Calais aus England beherrschen, durch Flugzeuge, die die unangreifbare Stellung der Insel Eng land zu einer Illusion machen. Napoleon, der den Kon tinent beherrschte, vermochte England nicht unter seine Faust zu beugen; Poincarö ist auch dies gelungen. Denn Lord Curzon „bittet", „schlägt vor", „ersucht in aller Freund schaft" — und Poincarö wird diese Bitten. Vorschläge und dieses Ersuchen soweit erfüllen, als es ihm beliebt. Richt mehr und nicht weniger. Das alles, weil England die traditionelle Politik ver letzten 159 Jahre verlassen hat: niemand auf dem Kon tinent Alleinherrscher werden zu lassen. Aus wirtschaftlichem Konkurrenzneid gegen Deutschland ist man von dieser Linie abgewichen, und darum mußte jetzt Lord Curzon seine Grabrede halten. politische kunüschau. veullckrs beiM Wieder Verdoppelung der Bahntarise. Vom Mittwoch, den 10. Oktober, ab werden die Schlüsselzahlen für die Eisenbahntarife im Pcrsonenver kehr 69, im Güterverkehr 72 Millionen betragen. Bei dieser Erhöhung ist die außerordentliche Geldentwertung der letzten Tage noch nicht berücksichtigt. Der letzte Satz der vorstehenden amtlichen Mitteilung scheint weitere Steigerungen anzukündigen. Christlich soziale Stellungnahme in Bayern. Der Landesvorstand der christlichen sozialen Partei trat in München zu einer Sitzung zusammen, in der sic zur gegen wärtigen politischen Lage Stellung nahm. Nach einem Re ferat des Landesvorsitzenden Kral wandte sich Vie Landes vorstandsschaft gegen die Rechtsbewegung, deren Ziel der Kampf gegen die Demokratie und gegen den Einfluß der arbeitenden Stände auf Verwaltung und Gesetzgebung, die Abschaffung der Volks- und Arbeiterrechte und die Wieder einführung der Monarchie in Bayern und im Reiche sei. Vorbedingung für Deutschlands Einigkeit und Rettung sei soziale Einsicht, Zurückstellung des Kampfes in Verfassunas- fragen und Gerechtigkeit gegen alle Volksgenossen.