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schriftsteller und -philosoph, als Konzertpianist, Medienmann und Musikreisender Tribut zahlen müs sen und sich im Strudel seiner im mensen Verpflichtungen selbst gele gentlich verfangen. Zwar war er selbst ein „Musikunternehmen", hatte für alle Bereiche stets etliche Helfer zur Seite, doch auch ein so hochspezialisierter Mensch, der vieles in sich selbst vereinen konn te, zudem noch so erfolgreich war, mußte viel innerliche Ruhe aufbrin gen, wenn er selbstschöpferisch tätig wurde. Hat er es immer ge schafft? Merkwürdig mutet es schon an, daß seiner Musik der ab solut individuelle Tonfall fehlt, kein wirklicher Bernstein-Stil entstanden ist. Viele seiner Werke sind von sol cher Komplexität, Sprunghaftigkeit und Übersteigerung, daß man sie getrost mit der monumentalen, aber doch orientierungslosen Ar chitektur Manhattans vergleichen könnte. Musikalisch wollte er „die ganze Welt umfassen", hat auch überall „hingegriffen", wo er Anre gungen fand, orientierte sich an Stilen, Schreibarten anderer Kom ponisten und mixte viel Strawinsky, Copland, auch Schostakowitsch, benutzte Jazz und ibero-amerikani- sche Idiome, bekannte sich zur eu ropäischen Musik (vornehmlich Ro mantik bis zu Wagner) und liebte Mahler sehr (die Einspielungen der Sinfonien sind Glanzpunkte der Mahlerinterpretation). Doch dies alles wiederum - ein Spiegelbild verschiedener Kulturen, in denen sich der Mensch des 20. Jhs. befin det - benutzte Bernstein nur als Muster und machte daraus eine ei genständige Musik, eine typische Bernstein-Musik. Die allerdings ist von Werk zu Werk anders. Er er wies sich als virtuoser Rhythmiker und erfindungsreicher Melodiker und schuf großartige Werke und solche, die die Zeiten kaum lange genug überdauern werden. Er fühl te sich keiner Schule oder keiner Richtung verpflichtet. Er bekannte sich ausdrücklich zu einem unbe grenzten Eklektizismus und ent wickelte eine besondere Meister schaft im Umformen, Variieren und Paraphrasieren von irgendwo auf gefangenem thematischen Materi al. Wie die USA ein Schmelztiegel der Rassen waren, konnte Bern stein zusammenschmelzen und um formen, daraus eigenes machen. Er wollte nicht avantgardistischen Spuren folgen. Die Atonalität z. B. war ihm wesensfremd. Dennoch hat er sie gelegentlich einbezogen. Als sein Credo setzte er gegen den „Untergang Gottes und der Tona lität" eine „neue Vorstellung von Gott und eine neue Auffassung von Tonalität". Bezeichnend für Bernsteins kompo sitorisches Denken ist die Aussage: „Ich habe insgeheim den Verdacht, daß jedes meiner Stücke - ganz gleich für welches Medium - in ge wisser Hinsicht Theatermusik ist". Und seine Kompositionsmethoden, die Erfindungen von Motiven und Themen, den Satzbau, seine Lyrik und Dramatik, die gesamte Klang farbendisposition und formale