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ZUR EINFÜHRUNG Der österreichische Komponist Alban Berg, anfänglich kleiner Wiener Beamter, in den Jah ren 1904 bis 1910 Schüler von Arnold Schön berg, dessen spätere Kompositionsmethode „mit 12 nur aufeinander bezogenen Tönen" in persönlicher Modifizierung Grundlage seines Schaffens wurde, 1930 zum Mitglied der Preu ßischen Akademie der Künste ernannt und 1933 von den Faschisten verfemt und verboten, schuf mit seiner 1925 von Erich Kleiber an der Berli ner Staatsoper uraufgeführten Oper „Wozzeck" ein Hauptwerk des musikalischen Expressionis mus, das würdig neben den Leistungen der ex pressionistischen Maler Marc, Nolde, Pechstein, Schmidt-Rottluff, Kirchner, Kokoschka steht. Das nicht sehr umfangreiche, jedoch höchst be deutende Gesamtwerk Bergs gipfelt fraglos im musikdramatischen Teil, ausgenommen sei das Violinkonzert, vollendet vier Monate vor seinem Tode am Weihnachtsabend 1935 in Wien, ein Werk, zu dessen Gunsten er die Ar beit an der Oper „Lulu" abbrach und das die zwingenden lyrischen und dramatischen Qua litäten seines Autors, seine unerhörte Tiefe der Empfindung, seine ausgesprochene Leiden schaftlichkeit wie seine sensitive Feinnervigkeit und Schwermut offenbart. Die neuartige Ton sprache Alban Bergs, die sich nicht zuletzt in einer spannungsgeladenen Harmonik äußert, empfindet man heute trotz ihrer typisch expres sionistischen Haltung als klassisch-allgemein- gültig. Bergs Violinkonzert ist „dem Andenken eines Engels" gewidmet, der 18jährig an Kinderläh mung verstorbenen Manon, Tochter der Witwe des Komponisten Gustav Mahlers aus zweiter Ehe mit dem Bauhausarchitekten Gropius. Der erste Satz des Werkes zeigt das lebensfrohe Kind, der zweite sein Sterben und die „Befrei ung vom Tod" (eine gewisse Parallele läßt sich also zu „Tod und Verklärung" von Richard Strauss ziehen. Dennoch: welch ein Unter schied!). Ein tragisches Schicksal wollte es, daß dieses in künstlerischer und menschlicher Ein samkeit geschaffene Opus der „Schwanenqe- sang" des Komponisten werden sollte. Die Schatten eines nahen Todes qeistern über dem ergreifenden musikalischen Geschehen, in dem sich Programmatisches und Absolutes, Ex pressives und Konstruktives zu symbolischem Ausdruck verdichten. Bei ernstem, elegischem Grundcharakter, nur episodenhaft konzertant virtuos aufgelockert, besitzt das Violinkon zert zwei Hauptteile, die in sich nochmals zwei geteilt sind: I. Andante-Allegretto, II. Allegro- Adagio. Am ehesten vielleicht dringt man in das Wesen des Werkes, in seine Organik ein, wenn man mit der ungewohnten Satzfolge (langsam, lebhaft, schnell, sehr langsam) bild hafte Vorstellungen verknüpft: der erste Satz gibt die Anmut und Reinheit, die ungebrochene Laune und Heiterkeit des Kindes wieder, das schon auf seinem Schmerzenslager liegt (An dante), im Allegretto scheint es zu träumen. Im zweiten Satz gestaltet der Komponist die Ster beszene mit visionärer Eindringlichkeit. Das schmerzhaft zerrissene Allegro schildert das Aufbäumen des kranken Mädchens gegen den Tod, das Adagio sein Sterben, seine ergreifen de „Verklärung". Für den musikalischen Aufbau des Werkes ent scheidend wird das am Beginn und Schluß des Andante erscheinende Quintenmotiv, das im Allegretto wieder auftaucht, zu Anfang des Al legro von den Streichern und Bläsern „ver zerrt" wird und im Schlußakkord des Adagio im gedämpften Streicherklang „erlischt". Zu diesem Motiv stehen in engster Beziehung die Hauptgedanken der einzelnen Sätze, die aus einer zwölftönigen Terzenreihe entwickelt wer den. Im Allegretto begegnen (mit regelrechter dreimaliger Triobildung bei Wiederholung des Hauptsatzes) walzer- und länderhafte Anklänge, ein Kärtner Volkslied scheint Berg inspiriert zu haben. Der Todeskampf im zweiten Satz (Al legro) wird durch eine erregte Kadenz des Solo instruments mit Orchesterbegleitung dargestellt. Als eine der großartigsten Stellen empfinden wir — ähnlich dem Einsatz des BACH-Themas in der „Kunst der Fuge" — gegen Ende des zwei ten Satzes, im Adagio, den Eintritt des Bach- schen Sterbechorales „Es ist genug" (aus der Kantate „O Ewigkeit, du Donnerwort"), der dann völlig organisch in die Zwölftonstruktur eingefügt wird. Der Gefühlsausdruck dieser Stelle ist einzigartig und weist mit Entschieden heit auf die Neuartigkeit der Bergschen Ton sprache hin, die, „eine Verschmelzung von Klangfarbe und Harmonik", in „Vergeistigung die musikalischen Elemente neu zusammen faßt" (Wörner). Der Bach-Choral setzt zuerst in der Solovioline ein (Berg unterlegte ihm die Worte: „Es ist genug, Herr, wenn es dir ge fällt, so spann mich doch aus"). Darauf er scheint er — in der originalen Bachschen Har monisierung I — in den Holzbläsern. Diesem Gesang zwischen Violine und Holzbläsern folgt eine hymnische Steigerung, die in einem erschütternden, leidenschaftlichen Orchester ausbruch gipfelt. Der Satzausklang — kontra stierend zu dieser Erregung — wirkt verklärt.