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11 statt, die, wenn auch noch nicht gerade eine „Umkehr", doch keinesfalls eine weitere Annäherung an die na tional-liberale Partei bedeutete. Die Möglichkeit der Bildung einer compacten, sichern Regierungsmehrheit im Reichstage und die damit zu sammenhängende einer praktischen Antheilnahme der National-Liberalen an der Regierung war damit, wenn auch nicht aufgehoben, so doch auf unbestimmte Zeit hinaus verschoben. So standen die Dinge im 'Reichstage, als am I I. Mai das erste jener fluchwürdigen Attentate auf Se. Maj. den allverehrten Kaiser geschah, welche ganz .Deutschland in Bestürzung »ersetzten. Damit begann für die parlamentarische Lage eine ganz neue Phase. Dieser sei ein folgender Artikel gewidmet. Deutsches Reich. kl.1,.0. SerUn, 1. Ian. Der Verein zur För derung der Handelsfreiheit hat durch seinen Vorsitzenden, den Reichstagsabgeordneten l)c. Bam berger, dem BundeSrathe eine Eingabe in Sachen der Zolltarifrevision überreicht. DaS höchst beachtenS- werthe Schriftstück untersucht die von dem Reichskanzler in dem Anträge vom 12. Nov. wegen Einsetzung einer »Commission zur Revision des Zolltarifs aufgeworfenen Fragen und entwickelt diejenigen leitenden Grundsätze, welche in Bezug auf die Zollpolitik nach der Ueber- zeugnng des Vereins allein als richtig auzuerkennen find. Wir werden auf die streng sachlichen Ausfüh rungen znrückkommen. Fürfetzt seien auS der Schluß- betrachtung folgende Sätze hervorgehoben: > Ausnahmen find bei allen Regeln zulässig, auch bei der .Regel de« freien Verkehrs. Für die Handelspolitik ist der Schutz der inländischen Industrie durch die Erschwerung der Zufuhr von außen in der Hauptsache nur begründet, wenn thatsächlich aus der bestehenden Zollgesetzgebung histo rische Productionsverhältnifse erwachsen sind, die zu einer ganzen Verkettung von gewerblichen Anlagen geführt haben, sodaß diese Kette nicht plötzlich zerrissen werden kann, ohne neuen, erheblichen Schaden zu stiften. Die Politik de« -freien Verkehrs, welche in der mit so bewunderungswürdiger Klarheit abgefaßten Instruction vom 26. Dec. 1808 für Preußen verkündet worden war, ist, von einem einzigen Anlauf zur RückwärtSbewegung abgerechnet, die richtung gebende für das Königreich und für seine Zollverbündeten geblieben.... Doch selbst während des epochemachenden Abschnitt« der europäischen Handelsverträge hat die deut sche Zollpolitik bei aller Freiheit ihrer Anschauungen nie mals ihren vorsichtig conservativeu Charakter abgelegt. Sie »äst den von Anfang her beobachteten Grundsätzen treu ge- Miben, wesentlich dahin zielend, vor allem Nahrung-- und Rohstoffe, dann die nothweUdigste» HUfSmittel der großen 'Fabrikation und de« Landbane« zu entlasten, nur allmählich und mit äußerster Schonung jeweilig einzelne Artikel von chen lästigsten und entbehrlichsten Fesseln zu befreien. So sind wir zu einem Statusquo gelaugt, der, weit entfernt von der Verwirklichung eines freihändlerischen Ideals, durch« uu« den überlieferten Zuständen Rechnung trägt und sie mit einem System mäßiger Schutzzölle umgibt. Aber ge rade ans diesem Gründe wäre es eine verhängnißvolle und »erderbliche Umkehr, wenn die zum freien Verkihr gelang ten und bereits nach ihm entwickelten Gewerbe durch neu zu errichtende Schranken eingeengt, wenn die bereits betre tenen Wege des Verkehrs wieder verschüttet, und wenn hinter neu aufzuführenden Schutzwehren künstliche Existenzen .mit neuen Ansprüchen in« Leben gerufen würden. Neben der eben geschilderten Rücksicht auf historisch gegebene Zu- stäude kann der Grund zur Abschließung gegen das Ausland nur in der Nothwendigkeit gefunden werden, die für die Landesvertheidigung nothwendige Industrie unabhängig vom AuSlande hinzustellen. Aber gerade in dieser Industrie der Wehrhaftigkeit überragt Deutschland alle andern Staaten. Eine Beleuchtung des Schreibens des Reichskanzlers vom 15. Dec. behält sich der Ccntralausschüß des , Vereins zur Förderung der Handelsfreiheit vor. Schon jetzt heißt es aber in Bezug auf die in diesem Schrei ten in Vorschlag gebrachten Grundlagen der künftigen Handelspolitik: „Diese Grundlagen, deren Ausbildung Deutschland zu dem System des sogenannten geschloffe nen HandelsstaateS führen würde, sind daS Gegentheil derjenigen, welche vor 70 Jahren als daS Programm Preußens verkündet und seit 60 Jahren für die deut sche Handelspolitik leitend gewesen sind." — Die National-Liberale Correspondenz schreibt „an Ler Jahreswende": „Das Jahr 1878 wird für alle Zeit einen hervorragenden Platz in der Geschichte . LeS Deutschen Reiches behalten. Leider ist eS kein Ehrenplatz. Erhebend kann für das Herz des Pa trioten, nur der Rückblick auf die Stellung sein, welche - Deutschland auch während dieses Zeitabschnittes im Rathe der Völker eingenommen hat. Daß der euro päische Congreß zu Stande kam, daß er zum Frie- denSfchluß führte, ist unbestritten in erster Linie das Werk unserS großen Staatsmannes. Wie sehr man auch den Berliner Vertrag bemängeln möge, er ist heute der einzige feste Punkt, aus den der Friede der Welt sich stützt. Sollten die Hoffnungen, die an ihn . sich knüpfen, in dem neuen Jahre getäuscht werden, - Ler Ruhm der deutschen Politik würde dadurch keine Schmälerung erleiden. Unwiderleglich hat das ab gelaufene Jahr bewiesen, daß daS neue Deutsche Reich mit Uneigennützigkeit den europäischen Frieden zu be festigen bemüht ist. Wo sind heute jene Klagen, die mit der Gründung dieses Reiches das europäische Gleichgewicht vernichtet glaubten? Niemals in diesen acht Jahren hat Deutschland weder in seiner Sprache noch in seine» Handlungen Ansprüche erhoben, wie sie die Phrase von dem «berechtigten Uebergewicht Frankreichs» zwei Decennien hindurch gerade am Neu- jahrStäge den Völkern ins Gedächtniß rief. Auch un sere Neider und Haffer müssen bekennen, daß das »europäische Gleichgewicht» heute jedenfalls mehr zur Wahrheit geworden ist al« zur Zeitj des Napoleonischen Kaiserthums. Und so dürfen wir am Ende des Jahres mit aufrichtiger Anerkennung sagen: unsere auswärtige Politik hat die Achtung der Nationen vor dem Deut schen Reiche nur befestigen können. Damit ist aber. das Befriedigende des JahrcSergebnisscs erschöpft. Was die innere Entwickelung unserS Staatswesens anlangt, > so sind der Rückb ick in die Vergangenheit und der Ausblick in die Zukunft gleich trostlos. Wir schweigen von dem, was in jedem deutschen Herzen für alle Zu kunft Scham und Zorn erwecken muß, so oft der Name des Jahres 1878 genannt wird. Traurig genug, daß die verruchten Angriffe auf das ehrwürdige Haupt unsers Kaisers' der Anlaß gewesen sind der einzigen kraftvollen That, zu welcher sich die Faktoren derRcichsgesetzgebungzusammengefundenhaben! Traurig genug, daß wir allein aus dem Zustandekommen des SocialistengesetzeS die Zuversicht auf die ungebrochene Lebenskraft unserS BolkSkörpers schöpfen können! Wäre cs bei der Jugend unserS nationalen Staates nicht gar zu widersinnig, man könnte glauben, in der un seligen Verwirrung, in welcher unsere inner» Dinge nun seit Jahr und Tag ziellos umhertreiben, ein Zeichen des auflösenden Marasmus erblicken zu müssen. In mitten der unvermeidlichen Reibungen, welche die un fertige und verwickelte Organisation des Reiches zur Folge hat, war längst als dringendste Nothwendigkeit die Herstellung einer engern Fühlung zwischen der Volksvertretung und der Regierung des Reiches er kannt worden. DaS Jahr 1878 begann in dieser Beziehung mit den überschwenglichsten Erwartungen, die freilich schon im Februar zerrinnen sollten. Kaum drei Monate später erlebten wir dann das wunderliche Schauspiel, daß derselbe Hr. v. Bennigsen, mit dem man zu Anfänge dcS Jahres über den Eintritt in das Ministerium verhandelt hatte, von der gouvernemen- talen Presse als Feind der Regierung bezeichnet wurde. Die Neuwahlen zum Reichstage haben daS ungesunde Berhältniß zwischen Regierung und Reichstag nicht geändert. Des Reichskanzlers Idee einer Verschmelzung der National-Liberalen und Conservativeu zu einer «feste» Majorität» muß der Natur der Sache nqch ein froiumer -Wunsch - bleibe». Diese Majorität wird sich in der äußersten Noth .immer von selbst zusammen- finden; die Basis eines freudigen, zielbewußten und wirklich fruchtbaren Schaffens aber könnte sie uinimer- mehr bilden. So steht das Problem jener engern Fühlung noch immer Ungelöst. Die Verwirrung aber ist noch gestiegen. Hat doch die allerneueste Wendung eine Gruppirung der Parteien zu Wege gebracht, in welcher allein das Centrum vollzählig auf der Seite - des Reichskanzlers erscheint! Aus solcher Lage heraus die schließliche Lösung des Problems zu prophezeien, übersteigt menschliche Kunst. Wir müssen nns be gnügen mit der Erkenntniß, daß diese Lösung gefunden werden muß, weil nur dann eine gesunde Entwicke lung des Reiches gesichert ist, und mit der Zuversicht, daß sie gefunden werden wird, weil eine weltgeschicht lich nothwendige Schöpfung wie unser heutiges na- tionaleS Gemeinwesen nicht nach wenigen Jahren des . Bestehens wieder auseinanderfallen kann." , Böhmert's Social-Correspondenz sagt beim Jah- ' reSwechsel: „Ueberblicken wir die großen Ereignisse des Jahres 1878, so ziemt uns vor allem Dankbarkeit dafür, daß wir vor einen« Weltkriege bewahrt geblieben sind und aller Voraussicht nach einen solchen auch in nächster Zukunft nicht zu befürchten haben. Die Be festigung der friedlichen Weltlage ist eine Vorbedingung für die Verbesserung der wirthschaftlichen Verhältnisse, die fast allenthalben eine schwere Krists erlitten haben. Wir werden klug handeln und am raschesten wieder ! gesund werden, wenn wir die Schuld unbefriedigender geschäftlicher und socialer Zustände nicht immer auf Regierungen, Gesetze und staatliche Anordnungen schie ben, sondern uns selbst anklagen und die Ucbcrstürzun- gen der Production und Consumtion durch weise Selbst- , beschränkung und Sparsamkeit wieder gut zu machen . suchen. Die beiden letzten Jahrzehnte haben die Mensch- heit einen gewaltigen Schritt vorwärts gebracht und besonders die handarbeitcnde» Klaffen von zahlreichen politischen und gewerblichen Beschränkungen befreit. Solche Nengestaltungen vollziehen sich nicht ohne man- Lerlci Irrthümer und Störungen. Wir leben nxch in dem Uebergange von der Gebundenheit zur Freiheit und haben den Misbrauch der letzter» bitter empfunden. Aber eS ist von den höher« Klaffen und von den Un ternehmern wol ebenso viel, ja vielleicht mehr gesündigt worden, als von feiten der untern Klassen und der Arbeitnehmer. Alles wollte seine Lebenshaltung plotz- i lich erhöhen, während doch das WirthschaftSleben keine Sprünge duldet und vermehrte Güter sich nicht aus dein j Boden stampfen, sondern nur durch ausdauernde Arbeit l erringen lassen. Unser Geschlecht krankt noch immer' an einer mangelhaften Einsicht in die Natur der wirth- schaftlichcn Dinge; eS hat einen wahrhaft naiven socia- listischen Aberglauben an Universalmittel und an die Möglichkeit einer staatlichen Organisation der Produc tion und Consumtion, anstatt sich mit den harten Thal- fachen und Einzelheiten des Erwerbslebens zu beschäf tigen und den liefern Ursachen der socialen Noth nach zuforschen. Möge die Menschheit im Jahre 1879 vor allem Fortschritte in der Selbstkenntniß und Selbstbe herrschung machen! Möge aller Groll und alle Bitter- 1 keit aus dem Jahre 1878 in ein tiefes Grab verseolt werden und ein versöhnlicher Ton und ernster Sinn in > den öffentlichen DiScussionen platzgreifcn! Wenn sich außerdeui jeder vornimmt, mit der Besserung zunächst im kleinen, bei sich selbst, in seiner eigenen Familie, Werkstatt und Gemeinde anzufangen, gegen Selbstsucht, Trägheit und Genußsucht entschlossen anzukämpfen und seinen Mitmenschen im Kampfe umS Dasein hülfteich beizustehen, so wird eS im neuen Jahre auch im gro ßen besser werden!" — Aus Berlin vom 31. Dec. schreibt man der Neuen Preußischen Zeitung: „Wie verlautet, erfolgte im BundeSrathe die Ueberweisung des Schrei bens des Reichskanzlers vom 15. Dec. an die TarifrevisionScommission zwar nicht einstimmig, doch mit großer Majorität. Die Mehrzahl der deutsch«» Bevollmächtigten zum BundeSrathe nimmt zu dem Schreiben augenscheinlich eine freundliche Haltung ein, womit nicht gesagt ist, daß in allen Punkten eine Uebercinstimmung der Ansichten vorhanden wäre. Allein als Ausgangspunkt zur Gewinnung eines WirthschaftS- progrqmms, das die Matricularbeiträgc wesentlich ver ringert, findet es volle Beachtung, und es scheint nicht, als würden dem Reichskanzler seitens des BundeS- ratheS Schwierigkeiten in den Weg gelegt werden. — Durch die Zeitungen läuft die Nachricht, der Reichs kanzler, welchen: alles daran gelegen sei, sein neue» Zollprogramm zur Durchführung zu bringen, solle sich den: Finanzminister gegenüber zu Concessionen betreffs der von liberaler Seite gestellten Forderung nach Quotisirung der direkten Steuern geneigt ge zeigt haben. Minister Hobrccht habe Sr. Maj. dem Kaiser und König darüber eingehenden Bericht er stattet. Man versichert ferner, daß der Finanzminister in der Lage sein würde, bei den von der Budgetcous- mission des Abgeordnetenhauses an das Plenum zw erstattenden Generalberichte die nähern Bedingungen anzugeben, unter welchen die Regierung bereit sti, die theilweise Quotisirung zu gestatten. In dieser Gestalt sind die obigen Mitthrilüngen schwerlich richtig. Der Finanzminister soll sich mit den: Reichskanzler über eine Erklärung verständigt haben, durch welche die Rechte der Landesvertretung für den Fall einer erheb lichen Vermehrung der Reichseinnahmen gewahrt wer den; doch wird nach Lage der Dinge von einer Zu sicherung der Quotisirung kaum schon die Rede sein können." — Nach der Auffassung der Elberfelder Zeitung würde der Schwerpunkt der parlamentarischen Verhand lung über den Reformplan des Fürsten Bis marck in der Frage der Getreidezölle liege», über welche der Reichskanzler sich nicht äußere, woraus sich folgern laste, daß er sie der DiScussion offen halte. Es wird in dieser Beziehung auSgeführt, daß eine in mäßigen Grenzen sich bewegende Abgabe von 20—25Pf. vom Centner von denjenigen; welche einen mäßige» Schutzzoll zur Stärkung einzelner Industriezweige for dern, als Compensatio«, wenn auch mit schweren: Her zen, bewilligt werden würde: Der maßgebende Gesichtspunkt für dies« Grnppe wird der folgende bleiben: Bis zu welcher Grenze kann auf Ge treide ein Zoll gelegt werden, ohne daß dadurch da« unent behrlichste LebenSmtttel effectiv vertheuert wird und ohne daß durch den Zoll ein bedenklicher moralischer Eindruck auf die Bevölkerung hervorgerufen würde? Denn auch mit diesem wäre sehr ernst zu rechnen. Nickt erst die Vertheue- rung selbst, sondern schon die Furcht vor einer Vertheue- rung kann denselben in sehr nachtheiliger Weise ausüben. Führen dann zum Unglück MiSernten eine wirkliche Ber- theuernng herbei, so wird es unmöglich sein, dem Volke die Meinung zu nehmen, daß das neue Zollgesetz ausschließlich für die Calamität verantwortlich fei. Wir halten die Zahl der Abgeordneten, welche sich von diese:: Gesichtspunkten leiten lasten, für ziemlich beträchtlich; die weitere Eonsequenz für sie würde sein müssen, daß sie jeden höher gehenden Zoll auf Getreide verwerfen» Wir glauben daher, daß in der Frage der Getreidezölle die 204 Unterzeichner der Er klärung nach verschiedenen Richtungen sich spalten werden. Die Deutsche VolkSwirthschaftliche Correspondenz sagt an: Schluffe eines Artikels über das Schreiben: „Die Industrie hatte diese entscheidenden Wendepunkte in unserm wirthschaftlichen Lebe» längst herbcigesehnt, und oft genug hat man Kläge über die Verzögerung hören können; allein der Fürst hat sich auch hier wieder als ein Stratege ersten Ranges bewiesen. Wäre er früher gekommen, so würde wahrscheinlich der Eindruck kein so hochmächtiger und überwältigender gewesen sein wie gegenwärtig." — In Bochnm beschlosten am 28. Dec. die da selbst znr Vornahme der ErgänzüngSwahlen für dieHan- delskaMMer versammelten Wahlberechtigten (91 an.