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ZUR EINFÜHRUNG Unser heutiges Konzert wird eröffnet mit Carl Maria von Webers Ouvertüre zu seiner Oper „Der Freischütz" (1821). Diese Kompo sition ist wie das gesamte Werk, das nach Mozarts „Zauberflöte", Beethovens „Fidelio" und vor Richard Wagners Musikdramen den bedeutendsten deutschen Beitrag zur Gattung Oper darstellt, eine Musikschöpfung von einzigartiger menschlicher Aussagekraft. Musik dieser Art konnte nur ein Musiker schaffen, der wie Weber innig mit der Natur, der deutschen Landschaft verbunden war, der aus dem Leben und Empfinden des Volkes heraus musizierte. Formal ist die „Freischütz"-Ouvertüre — wie Mozarts „Zauberflöten"-Ouvertüre und Beethovens drei Leonoren-Ouvertüren — eine Tondichtung, die den wesentlichsten Ideen gehalt der Opernhandlung nach klassisch-sinfonischem Prinzip verarbeitet. Der in der Oper gestaltete Sieg des Guten über das Böse hat denn auch in der Ouvertüre vollendeten künstlerischen Ausdruck gefunden. Dabei weist dieses geniale Tonstück trotz vieler Klangmalereien nichts Äußerlich-Programmatisches auf. Alles entspringt vielmehr logischer, innerer musikalischer Entwicklung. Nach einer knappen, feierlichen Streichereinleitung erklingt in den Hörnern jene volkstümliche Weise, die Stimmungshaft den Schauplatz der Opernhandlung charakterisiert: den deutschen Wald. Im anschließenden c-Moll-Allegro entsteht sodann vor dem Hörer die Düsterheit der Wolfsschlucht-Szene, die Welt des schwarzen Jägers Samiel (drohend klopfende Bässe, Streichertremoli, tiefe Klarinetten). Dieser schauerlich-dramatischen Szene folgt unversehens ein fried liches Bild, eine Klarinettenmelodie, unterstützt von den ersten Violinen: Agathes Liebeslied. Nach sinfonischem Prinzip erfolgt nun die Wiederkehr der kontrast reichen Themen und Stimmungen. Ein jubelnder C-Dur-Fortissimoakkord schließ lich kündet den Sieg des Guten an. Nochmals erklingt Agathes Liebesmelodie, nun zum strahlenden Schlußhymnus gesteigert. Mit seinen Serenaden und besonders mit den Variationen über ein Thema von Joseph Haydn in B-Dur o p. 56a schuf Johannes Brahms gleichsam Vorstudien für seine vier Sinfonien, deren erste er 1876 vollendete, übte er sich in den Serenaden in der Beherrschung klassischer Formen im Sinne Haydns und Mozarts, so brachten ihm die Haydn-Variationen aus dem Jahre 1873 — unter dem Einflüsse der Beethovenschen Sinfonik — weitere Sicherheit in der thematisch-motivischen Arbeit. Brahms’ klassische Haltung hatte sich also um diese Zeit — das Deutsche Requiem und viele seiner meister lichen Liedschöpfungen waren schon entstanden — wesentlich gefestigt. Auch räumlich war er der Welt der Wiener Klassik nähergekommen, hatte er sich doch in der Donaumetropole niedergelassen. Aber noch ein weiteres Kennzeichen der Brahmsschen Tonsprache soll hier vermerkt werden, weil es in den Haydn- Variationen bereits ausgeprägt ist: die Neigung und Fähigkeit des Komponisten zur Form- und Stilsynthese, seine Gabe, sinfonische Entwicklungen bei kontra- punktischer Anlage geradezu kammermusikalisch subtil zu gestalten. Das Thema, das den Haydn-Variationen zugrunde liegt und am Beginn des Werkes in seiner reizvollen Originalgestalt erklingt, entnahm Brahms dem zweiten Satz von Haydns Feldpartita B-Dur für zwei Oboen, zwei Hörner, drei Fagotte und Serpent: eine Andante-Melodie mit der Überschrift „Choräle St. Antoni”, die vermutlich von einem alten burgenländischen Wallfahrtslied stammt. Mit den Variationen über dieses Thema schuf Brahms eines der bedeutendsten Varia tionenwerke der deutschen Musikliteratur überhaupt, dessen Anregungen bis hin zu Reger und Hindemith spürbar bleiben. Das Werk wurde übrigens in zwei Fassungen geschrieben, für zwei Klaviere und für Orchester. In acht Variationen, die satztechnische Kabinettstücke sind, wird eine Fülle herrlichster Musik ver strömt, deren phantasievoller Einfallsreichtum, Formvollendung und gedanklich geistige Tiefe auch den Hörer fasziniert, der den Variationenzyklus nicht rationell aufnimmt, sondern die Ausdruckskraft dieser Musik gewissermaßen „unbelastet" auf sich wirken läßt. Der Höhepunkt der Komposition ist das Andante-Finale, eine Chaconne, in der siebzehnmal ein aus dem Thema entwickelter Baßgang wiederholt wird, über dem sich neue Tonfiguren und Melodien erheben, bis das Hauptthema den festlichen Ausklang herbeiführt. Clara Schumanns Worte über das Werk, die sie anläßlich einer Leipziger Aufführung Anfang 1874 dem Diri genten Hermann Levi schrieb, sind symptomatisch für die Begeisterung, die diese Komposition auslösen kann, und seien darum hier wiedergegeben: „Die Variationen sind zu herrlich! Man weiß nicht, was man mehr bewundern soll, die Charakteristik einer jeden Variation, die prachtvolle Abwechslung von Anmut, Kraft und Tiefe oder die wirkungsvolle Instrumentation — wie baut sich das auf, mit welcher Steigerung bis zum Schluß hin! Das ist Beethovenscher Geist von Anfang bis Ende." Der prominente sowjetische Komponist Edison Denisow, 1929 in Tomsk (Sibirien) geboren, erwarb 1951 an der Universität seiner Heimatstadt das Diplom als Mathematiker. 1951 bis 1956 studierte er am Moskauer Konserva torium Komposition bei Wissarion Schebalin und erhielt anschließend eine drei jährige Aspirantur am gleichen Institut. Seit 1959 wirkt er selbst als Lehrer für Kontrapunkt und Instrumentation am Moskauer Konservatorium. 1956 wurde er Mitglied des Komponistenverbandes der UdSSR und ist seit 1966 Mitglied der Leitung des Moskauer Komponistenverbandes. Während des Studiums setzte sich Denisow besonders mit dem Schaffen Scho- stakowitschs und Strawinskys auseinander, während der Aspirantur mit russischer Folklore. Seit 1960 erfolgte eine aktive Auseinandersetzung mit der Zwölfton technik, was sich erstmals in den „Variationen für Klavier" und sodann in voll endeter Form in der „Musik für 12 Blasinstrumente und Pauken" niederschlug. In den letzten Jahren traten andere kompositorische Techniken, vor allem der mobilen Struktur, speziell Aleatorik („Crescendo und Diminuendo" für Streicher und Cembalo, 4. Satz von „Sonne der Inkas“, Ode für Klarinette, Klavier und Schlaginstrumente) und Collagetechnik (Streichtrio, „Silhouetten" für Flöte, 2 Klaviere und Schlagzeug), in das Blickfeld des Komponisten. Die Hauptwerke der letzten Zeit lassen eine Synthese der verschiedensten modernen Kompo sitionstechniken erkennen, die seine eigene Handschrift ausgeprägt haben. Entstanden in den 60er Jahren vor allem Kammermusikwerke, so folgten seit 1970 verschiedene größere Orchesterwerke („Malerei für großes Orchester", „Herbstlied" für Sopran und großes Orchester, die im Auftrag des Leipziger Peters-Verlages komponierten Solokonzerte für Cello und Klavier). Neben den großen Orchesterwerken besteht das Hauptwerk des Komponisten in Vokal zyklen mit Kammerorchester („Keunergeschichten" nach Brecht, im Auftrag der Deutschen Staatsoper Berlin geschrieben, 1966; „Sonne der Inkas" nach Ga briela Mistral, 1964; „Italienische Lieder" nach Alexander Blök, 1964; „La vie en rouge" nach Boris Vian, 1973). Edison Denisow, dessen Werke nicht nur in der Sowjetunion, sondern in zahl reichen Ländern Europas und in Übersee aufgeführt wurden und werden, teilte zu der heute ihre Uraufführung erlebenden Komposition folgendes mit: „Das Konzert für Flöte und Orchester wurde in den Monaten Juli, August und September 1975 in Sortavala und Moskau im Auftrag der Dresdner Philharmonie geschrieben. Es ist Aurele Nicolet gewidmet. Der viersätzige Zyklus des Werkes ist so gestaltet, daß die äußeren Sätze — zwei Adagios — musikalisch ähnlich sind (sie beginnen mit ein und derselben Flötenfigur). Im ersten Satz musiziert die Flöte innerhalb der Grenzen der ersten und zweiten Oktave und erfaßt lediglich in der Kadenz das höhere Register. Eine große Rolle spielen im ersten und letzten Satz Mikrointervalle (vierteltönige Intonatio nen), die, wie auch im Cellokonzert, reine Ausdrucksfunktionen besitzen.