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dresdner PHILHARMONIE Freitag, den 29. März 1974, 20.00 Uhr Sonnabend, den 30. März 1974, 20.00 Uhr Festsaal des Kulturpalastes Dresden ANRECHT C UND 7. KONZERT IM 7. ZYKLUS - KONZERT TSCHECHOSLOWAKISCHE MUSIK Dirigent: Kurt Masur, Leipzig Bedrich Smetana MEIN VATERLAND — 1824-1884 Zyklus sinfonischer Dichtungen Vysehrad Die Moldau Sarka PAUSE Aus Böhmens Hain und Flur Tabor Blanik Zum 150. Geburtstag des Komponisten am 2. März 1974 iiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiihiiihiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiii ZUR EINFÜHRUNG Die vor reichlich hundert Jahren von Franz Liszt begründete, in seinem Schüler- und Freundeskreis weitergeführte und dann kurz vor der Jahrhundertwende durch Richard Strauss auf ungeahnte Höhen geführte Gattung der sinfonischen Dich tung, das heißt also eines musikalischen Werkes, das einem bestimmten, lite rarischen, malerischen oder aus der Natur geschöpften „Programm" folgt und aus ihm seine Formgesetze ableitet, hat in musikästhetischen Auseinander setzungen seit je ein lebhaftes Für und Wider erregt. Die Vertreter einer soge nannten „absoluten" Musik verwarfen den Gedanken einer Verbindung von Musik mit angeblich außermusikalischen Vorstellungen, ohne zu bedenken, daß beispielsweise auch ein Werk wie die scheinbar „absolute" 5. Sinfonie von Beethoven offenkundig Träger bestimmter Ideen ist. Dagegen wiesen die An hänger der Programmusik darauf hin. daß die manchmal durch klangmalende Kunstmittel vorgenommene Nachahmung oder Widerspiegelung von Bildern der Natur oder dichterischer Gedanken eine sehr alte Vorliebe der Komponisten bedeute und daß Musik ohne Ideengehalt zwangsläufig einer inhaltlosen tech nischen Spekulation verfallen müsse. Den erlösenden Gedanken hat Richard Strauss ausgesprochen, als er sagte: „Auch Programmusik ist nur da möglich und nur dann in die Sphäre des Künstlerischen gehoben, wenn ihr Schöpfer vor allem ein Musiker mit Einfalls- und Gestaltungsvermögen ist." Einer solchen Forderung entsprach kaum ein anderer Komponist sinfonischer Dichtungen besser als Bedrich Smetana (1824—1884). Schon in jungen Jahren war der zunächst gänzlich unbekannte tschechische Musiker mit dem aul der Höhe seines europäischen Ruhmes stehenden, außerordentlich großzügigen und hilfsbereiten Franz Liszt in Verbindung getreten. Er begeisterte sich für dessen neuartige Tonsprache, vor allem aber für Liszts Überzeugung, daß die Musik des 19. Jahrhunderts nicht allein gekennzeichnet sei durch ihre innige Verschmel zung mit dichterischen und naturhaften Vorstellungen und Programmen, sondern daß ihre Haltung vor allem auch durch ihren nationalen Charakter bestimmt sei. So gewann Smetana sehr bald die Gewißheit, daß der Befreiungskampf der tschechischen Patrioten gegen die Habsburgische Kaisermacht und die reak tionären, zur Kollaboration mit Österreich bereiten Kreise nicht ohne die Hilfe der Musik geführt werden könne. So entwickelte sich Smetana zu einem bewußten Kämpfer für die tschechische Unabhängigkeit. Seine Opern und Instrumental werke sind nicht denkbar ohne diese von ihm klar erkannte Aufgabenstellung. Auch „Mein Vaterland", ein sechsteiliger Zyklus von sinfonischen Dichtungen, wurde ein gewichtiger Beitrag zur tschechischen Nationalkultur und ein Teil des ideologischen Kampfes. Er ist wesentlich mehr als nur eine Folge historischer oder landschaftlicher Bilderbogen! Smetanas Tat ist um so bewunderungswür diger, als er gewissermaßen einen Mehrfrontenkrieg führen mußte. Zudem traf ihn persönlich das größte Leid, das einem Musiker widerfahren kann: Wie Beethoven verlor er sein Gehör. Aber statt zu resignieren, verdoppelte er seinen Arbeitseifer. In denselben Wochen des Jahres 1874, in denen ein Nervenleiden eine rasche Zersetzung seines Hörvermögens mit sich brachte, begann er die Arbeit am Zyklus „Mein Vaterland", den er nach Unterbrechungen durch die Komposition mehrerer Opern und etlicher Instrumentalwerke Ende 1878 beendete. Er hat also niemals mit dem äußeren Ohr vernommen, was seine Phantasie auf das Notenpapier gebannt hatte! „Vysehrad". Smetana beginnt seinen Hymnus auf die tschechische Heimat und ihre Geschichte nicht zufällig mit der klanglichen Darstellung der alten Prager Burg Vysehrad. In ihr sah er das Symbol für die ehemalige Größe des Landes und für die tschechische Nation überhaupt. Schon in seiner historisch legendären Oper „Libusa" hatte er den Vysehrad zum Schauplatz der Ge schehnisse gewählt. Die alte tschechische Königsburg, heute nationale Gedenk stätte mit den Gräbern bedeutender tschechiscner Wissenschaftler und Künstler, darunter auch Smetana, erhebt sich in seinen Klängen vor unserer bildhaften Phantasie. Harfenakkorde des sagenhaften barden Lumir leiten ein und ver setzen uns in die alten Zeiten, aus denen uns der Meister berichten will. Natür lich ginge es zu weit, wollte man jeden einzelnen Takt, jede musikalische Wendung mittels eines konkreten Vorganges ausdeuten, also vor dem inneren Auge gewissermaßen einen Film abrollen lassen. Es genügt dem Komponisten völlig, wenn wir — um einen Hinweis Smetanas zu verwenden — „die Ereignisse um Vysehrad, den Ruhm und Glanz, die Iurniere, die Kämpfe und schließlich den Verfall und die Ruinen" in seinen Tonbildern mitempfinden. In musikalischer Hinsicht ist es angebracht, sich die fest umrissenen Motive gerade dieses Werkes gut zu merken, weil beispielsweise das Vysehrad-Motiv auch noch in anderen feilen des Zyklus als Symbol für das tschechische Volk, seine alte Größe und seine vom Meister erhoffte, aber nicht mehr erlebte Erneuerung erscheint. „Die M o I d a u". Der zweite Teil des Zyklus „Mein Vaterland" gehört zu den volkstümlichsten Werken der musikalischen Weltliteratur und wird sehr häufig auch selbständig aufgeführt. Galt der Inhalt von „Vysehrad" vorwiegend der Nationalgeschichte, so singt Smetana in der Tondichtung „Die Moldau" das Lied der schönen tschechischen Landschaft. Wir folgen dem Lauf des Moldauflusses von seinen Quellen im Böhmerwalde bis zu seiner Einmündung in die Elbe. Mit einem gleichsam quirlenden und spritzenden Motiv malt der Komponist zu Anfang das hurtig zu Tal eilende Bächlein, aus dem nach und nach ein Fluß wird. Eine volksliedhafte Weise symbolisiert ihn, bis dann noch andere musika lische Bilder hinzutreten: Fanfaren kennzeichnen eine Jagd, die in den dichten Wäldern am Ufer des Stromes stattfindet; der Rhythmus des tschechischen Natio naltanzes Polka lenkt unsere Phantasie in ein Dorf, wo vielleicht eine fröhliche Hochzeit gefeiert wird; eine geheimnisvoll stille Nachtmusik läßt Nixen aus dem mitternächtlichen Strom emportauchen; leise Marschrhythmen mögen an die Ritter auf ihren Burgen erinnern, zu deren Füßen die Moldau dahinrauscht; Stromschnellen lassen das Wasser gischtig spritzen und sprudeln. Endlich kommt Prag in Sicht. Das uns bereits aus der ersten Tondichtung bekannte majestätische Motiv des Vysehrad versinnbildlicht die Begegnung von Strom und Königsburg, bis schließlich die Moldau mit leisem Wellenschlag sich allmählich unseren Blicken entzieht und in der Ferne verschwindet. Doch zwei starke Schläge des Orchesters reißen uns aus unseren Träumen und führen uns in die Gegenwart zurück. „Sark a". Als einzige der sechs Tondichtungen schildert der dritte Teil des Zyklus, „Sarka", ein ausgesprochen dramatisches Geschehen, und es sei erwähnt, daß die Heldin des Werkes auch zur Titelfigur mehrerer Bühnenwerke tschechischer Künstler geworden ist, darunter einer Oper von Janäcek. In der sagenhaften Gestalt der Sarka, die mit der griechischen Amazonenkönigin Penthesilea ver wandt zu, sein scheint, lebt noch ein Anklang an die mütterrechtliche Gesell schaftsordnung alter Völker, deren Ablösung durch die Vorherrschaft der Männer in Sarka den Willen zur Rache am gesamten Männergeschlecht keimen läßt. (Eine etwas veräußerlichte Erklärung ihres grausigen Tuns ist die verschmähte Liebe.) Eine kriegerische, wilde Musik charakterisiert zu Beginn der Tondichtung den stolzen, ungestümen Charakter der Sarka und ihres Amazonenheeres. Nur in kurzen Augenblicken treten gefühlsinnigere Wendungen auf. Verhaltene Marschrhythmen versinnbildlichen das unter Führung des Recken Ctirad heran rückende Heer der Männer. Sarka beschließt, es nicht in offener Feldschlacht, sondern durch List zu vernichten. Sie läßt sich von ihren Gefährtinnen an einen Baum fesseln, und Ctirad verfällt in der Tat ihrem vom Komponisten durch eine