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sammen mit seinem Landsmann und Freund Zoltän Kodäly, begab er sich auf Forschungs reisen durch Ungarn, Rumänien, slawische Randgebiete und sammelte - oft unter größten Schwierigkeiten - alles echte Volksmusikgut, das ihm begegnete, namentlich „die bis dahin schlechtweg unbekannte ungarische Bauernmusik“. Bartöks Aufzeichnungen tau sender sikulischer, transsylvanischer, slowakischer, rumänischer, jugoslawischer u. a. Volksmelodien und Tänze, die Anlaß umfassender Volksliededitionen wurden, sind mit höchster Exaktheit eines Gelehrten angefertigt, der zum Folkloristen prädestiniert war durch das unerhörte Format seiner musikalischen Begabung und Kenntnisse, sein Sprach wissen (z. B. slowakisch, englisch, französisch, deutsch, spanisch, russisch, arabisch, türkisch) und durch die echte Leidenschaft des Sammlers. Wissenschaft und Kunst, Präzision des Musikforschers und künstlerische Intuition - bei Bartök gab es keinen Widerspruch auf diesen Gebieten. Der Künstler empfing Anregungen durch den Folkloristen, der Volks liedsammler wurde unterstützt durch den musikalischen Verstand des Künstlers. Die Begegnung und Beschäftigung mit der Folklore wurde für die Herausbildung von Bartöks Personalstil entscheidend. Nach spätromantischen und impressionistischen An fängen kam es zu direkter oder indirekter Aufnahme folkloristischer Motive. Die eigen artige, von westeuropäischen Einflüssen kaum berührte Rhythmik und Harmonik der uralten Volksweisen entdeckte Bartök „die Möglichkeit einer vollständigen Emanzipation von der Alleinherrschaft des bisherigen Dur- und Mollsystems“. Der Komponist begann, eine nationalungarische Musik zu schaffen, unter dem Aspekt, „die Kunstmusik mit Elementen einer frischen, durch das Schaffen der letzten Jahrhunderte nicht beeinflußten Bauernmusik zu beleben“. Der Verschmelzungsprozeß gelang Bartök in einer ganz per sönlichen Synthese. Nach seinen eigenen Worten machte er die ungarische Bauernmusik zu seiner musikalischen Muttersprache. In drei Stiletappen vollendete sich sein Werk, über eine gesunde antiromantische Opposition schließlich allmählich hineinwachsend in die ernsten, gereiften Bezirke des Geistigen, ohne dabei das Erbe der elementar-vitalen ungarischen Rhythmik zu vernachlässigen. Gleichzeitig blieben auch der Kontrapunkt im Geiste Johann Sebastian Bachs und die kontrastreiche Durchführungstechnik der Wiener Klassiker Grundlagen für die urwüchsige, vergeistigte Tonsprache Bartöks, der zahlen mäßig nicht allzu viele, jedoch höchst bedeutende Schöpfungen hinterlassen hat: Or chestersuiten, Musik für Saiteninstrumente, Schlagzeug und Celesta, Divertimento für Streichorchester, drei Klavierkonzerte, Konzert für zwei Klaviere, Schlagzeug und Orchester, zwei Violinkonzerte, die Oper „Herzog Blaubarts Burg“, die Ballette „Der hölzerne Prinz“ und „Der wunderbare Mandarin“, die Cantata profana, wertvolle Kammermusik (darunter sechs gewichtige Streichquartette), Klavierstücke und anderes mehr. Ein für die Entwicklung des Bartökschen Orchesterstiles wesentliches Werk ist die im Jahre 1923 für ein Festkonzert anläßlich der Fünfzigjahrfeier der Vereinigung von Buda und Pest zur Großstadt Budapest komponierte Tanz~Suite, die neben Dohnänyis „Fest ouvertüre“ und Kodälys „Psalmus Hungaricus“ erstaufgeführt werden sollte. Es handelt sich hierbei um fünf originelle tänzerische Sätze, die durch ein gleichbleibendes, elegisch besinnliches und leicht variiertes Ritornell mit sinfonischen Mitteln sehr einheitlich zu sammengefaßt werden. Über die Themen der einzelnen Sätze äußerte sich der Komponist folgendermaßen: „Teil No. 1 ist.teilweise, No. 4 ganz orientalischen (arabischen) Cha rakters, das Ritornell und No. 2 ist madjarisch, in Teil No. 3 wechseln ungarische, ru mänische, sogar arabische Einflüsse miteinander; das Thema von No. 5 ist aber so primitiv, daß man von nichts anderem reden kann als von primitiv-bäuerlichem Charakter und verzichten muß, der Nationalität nach zu klassifizieren“. Bei kühner Satztechnik und Harmonik gelang Bartök mit der Tanz-Suite ein übersprudelnd musikalisches, mitreißen des Werk. In sehr originellen Variationen, von verschiedenen Instrumenten vorgetragen, wird im ersten Teil (Moderato) die vor allem rhythmisch akzentuierte thematische Sub stanz mannigfaltig beleuchtet. Die Themen des zweiten (Allegro molto) und des dritten Teiles (Allegro vivace) sind lebhafte Tanzmelodien. Von schwermütigem Charakter ist das Thema des vierten Teiles (Molto tranquillo), während das stürmische Finale (Alle gro), in dem die Themen der einzelnen Tanzsätze miteinander wetteifern, die Suite in ungestümer, freudiger Stimmung und mit hämmernden Tonwiederholungen krönt. In einem Brief Bartöks an den englischen Bratschisten William Primrose, auf dessen Wunsch er sein Konzert für Bratsche und Orchester (1945) zu schreiben begann, lesen wir: „Ich freue mich, Ihnen mitteilen zu können, daß Ihr Violakonzert im Entwurf fertig ist und bloß noch die Partitur geschrieben zu werden braucht, was gewissermaßen nur eine mechanische Arbeit ist. . . Viele interessante Probleme entstanden bei der Kom position dieses Werkes. Die Instrumentation wird sehr durchsichtig sein, durchsichtiger als beim Violinkonzert. Auch hat der dunklere, männlichere Charakter Ihres Instrumentes den Gesamtcharakter des Werkes mitbestimmt. Der höchste Ton, den ich benütze, ist A, aber ich mache vom tieferen Register häufig Gebrauch. Der Stil ist recht virtuos . . .“ Obwohl Bartök das Werk im Entwurf fertiggestellt hatte, sich auf seinem letzten Krankenlager viel mit den Skizzen beschäftigte, konnte er die Arbeit nicht mehr voll enden. Der Tod nahm ihm die Feder aus der Hand. .Tibor Serly, ein ebenfalls nach Amerika übergesiedelter ungarischer Komponist aus Bartöks nahem Schüler- und Freun deskreis, übernahm die mühsame, langwierige Aufgabe der Entzifferung von Bartöks Aufzeichnungen, der Vervollständigung von Harmonien und Verzierungen sowie die gesamte Instrumentierung. Die drei Sätze des Konzertes, die jene für Bartöks Spätstil so bezeichnende Konzentration wie Abgeklärtheit musikalischer und kompositorischer Mittel sowie höchste geistige und formale Klarheit aufweisen, gehen pausenlos ineinander über. Ein einziges, sehr melodi sches, gesangliches Thema des Soloinstrumentes bestimmt die Entwicklung des ersten Satzes (Moderato). Im anschließenden Adagio religioso herrscht eine gelöste Atmosphäre friedfertiger Weihe. Über gemessenen Streicherakkorden erklingt in der Bratsche eine rezitativische Abwandlung des Hauptthemas aus dem ersten Satz. Ein kurzer, schneller Mittelteil unterbricht das Adagio. Ein Allegretto leitet zum Finale (Allegro vivace) über, das mit seiner rhythmischen Verve und seiner folkloristischen Thematik (dudelsack artiges Seitenthema) dem Solisten Gelegenheit zu virtuoser Entfaltung bietet. Das Bratschenkonzert Bartöks erlebte seine Uraufführung in der Fassung Serlys 1949 durch Primrose. Das Konzert für Orchester schrieb Bartök während eines Erholungsaufenthaltes in der wildromantischen Gegend von Saranac Lake (im Staate Nord New York) im Sommer und Herbst 1943. Die Uraufführung dieses gewaltigsten und bedeutendsten Orchester werkes des ungarischen Meisters fand am 1. Dezember 1944 mit dem Boston Symphony Orchestra unter Serge Kusscwitzky statt. Es hat — abgesehen vom satirischen zweiten und vierten Satz - einen heroischen, großartigen Charakter. Alle Instrumente bzw. In strumentalgruppen treten charakteristisch und konzertierend hervor. Bartöks Meister schaft und Virtuosität in der Orchesterbehandlung belegt gerade dieses Werk, das die Gedankenwelt eines Menschen während des zweiten Weltkrieges widerspiegelt, wie kein anderes. In seiner glücklichen Synthese von ungarischer Folklore und kühnster Klanglich- keit, von elementarer Musizierlust und strengster Formstruktur, von konzertant-solisti- schem Musizieren und sinfonischer Dichte der motivischen Arbeit gehört es zu den be eindruckendsten musikalischen Äußerungen unseres Jahrhunderts. Die fünf Sätze des „Concertos“ sind durch einen motivischen Kern, ein Quartenschritt motiv, das in unterschiedlicher Prägung erscheint, zu organischer Einheit gefügt. Dieses pentatonische Quartenmotiv eröffnet denn auch in den Bässen die langsame Einleitung (Introduzione) des ersten Satzes, die uns gleichsam in eine ungarische Landschaft ver setzt. Einen elegischen Gedanken stimmt sodann die Flöte an, der durch das ganze Orchester wandert. Die tragisch-ernste Einleitung führt nach kurzer Steigerung zum Hauptthema des sonatenhaften Allegro vivace. Aus dem Quartenmotiv entfaltet sich ein energischer Posaunenruf, dann bringt die Oboe ein beruhigendes Thema. Ein vir tuoses Fugato für Blechbläser bildet den Durchführungsteil und den Höhepunkt des ersten Satzes, den eine kurze energische Coda beschließt.