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Franz Schubert Sinfonie in h-Moll (Unvollendete) Über dem frühen sinfonischen Schaffen des Meisters lag der Schatten seines großen Zeit genossen Beethoven. Nachdem Schubert die geistige Auseinandersetzung mit Beethoven in seinen drei ersten Sinfonien (1813—1815) noch vermieden hatte, führte er sie in der ,,Vierten“ (1816) entschlossen durch. Es scheint aber, daß er die ungelösten Widersprüche dieses Werkes selbst empfunden hat; denn in der im gleichen Jahre entstandenen fünften Sinfonie wandte sich Schubert spontan Mozart zu. Für die sechste Sinfonie (1817/18) hin gegen waren Beethoven und Mozart ungleich weniger wichtig als Rossini, der Schubert damals stark beeinflußte. Erst nach einer vierjährigen Pause schrieb der Meister sein näch stes sinfonisches Werk: die h-Moll-Sinfonie. Hier fand er endlich seinen eigenen Weg als Sinfoniker. In diesem Werk und in der sechs Jahre später vollendeten C-Dur-Sinfonie ge langte Schubert zu einer selbständigen Nachfolge Beethovens. In der Reihenfolge ihrer Entstehung ist die h-Moll-Sinfonie nicht die achte sondern die siebente Sinfonie Schuberts. Die falsche Numerierung rührt wohl daher, daß die Partitur dieses Werkes erst im Jahre 1865 aufgefunden wurde, während man die in Schuberts Todes jahr (1828) vollendete C-Dur-Sinfonie bereits 1838 entdeckt hatte. Die im Jahre 1822 entstandene h-Moll-Sinfonie ist aus unbekannten Gründen nicht voll endet worden und daher unter dem Namen ,,Unvollendete“ in die Musikgeschichte ein gegangen. Ein andeutender Entwurf eines dritten Satzes ist erhalten, während der vierte Satz vollständig fehlt. Bis heute ist noch nicht geklärt, ob Schubert die Sinfonie absichtlich unvollendet gelassen hat (vielleicht glaubte er, die Größe Beethovens nie erreichen zu können? — vielleicht hat er dem in seiner Zweisätzigkeit innerlich vollendeten Werk nichts mehr hinzufügen wollen?), oder ob die fehlenden Sätze durch irgendeinen Umstand ver lorengegangen sind. Eins steht jedenfalls fest: das zweisätzige Fragment bietet einen ge schlosseneren Eindruck und ist weitaus „vollendeter“ als die ersten sechs Sinfonien Schu berts. Sowohl die Gesamtanlage des zweisätzigen Werkes als auch die Gestaltung der Sätze in sich ist von einer wundervollen Einheit. Das antithetische Langsam-Schnell wird hier gegen standslos. Aber nicht nur im Zeitmaß sind beide Sätze einander angenähert, sondern sie entsprechen sich auch im Ausdruck. Auch die formale Anlage der Sätze stimmt überein: beide stehen in Sonatensatzform. Die aus der Tiefe aufsteigende und wieder in sie zurücksinkende Einleitungsmelodie er öffnet das Werk wie mit einer schmerzlichen Gebärde: Über einer belebten Sechzehntelfigur der Violinen erhebt sich dann in Oboen und Klari netten ein sehnsüchtig-schmerzlicher Gesang, der sich zu erschütternden Ausbrücherr steigert. Eine der schönsten Melodien Schuberts ist das dritte Thema. Die Violoncelli stim-J men es an: Auf diesen drei Themen baut sich der erste Satz auf. Aus ihnen, namentlich aus dem ersten, einleitenden, brechen die verschiedenen heroischen Anstürme hervor. Auf sie gehen auch die gelegentlichen dämonischen Verdunklungen zurück. In der vom Einleitungsgedanken getragenen Durchführung verdichtet sich das musikalische Geschehen zu verzweifelter Auflehnung. Den tragischen Ausgang der Durchführung scheint die Coda zu bestätigen. Der zweite Satz überbietet den ersten noch an Klangschönheit und Poesie. Aber auch er ist nicht frei von dem tragischen Konflikt, auch in ihm kommt es zu leidenschaftlichen Aus brüchen. Die friedvolle Stimmung, die das schlichte erste Thema um sich verbreitet, wird durch die verhaltene Wehmut des in den Klarinetten auf klingenden zweiten Themas ge stört : In diesem Satz offenbart sich die ganze Tiefe des Schubertschen Geistes. Hier zeigt sich der erstaunliche Reichtum seiner Natur, in der neben der Naivität des einfachen, volksverbunde nen Menschen auch jene Größe der Empfindung wohnt, die Beethoven eigen war. Felix Mendelssohn-Bartholdy Violinkonzert e-Moll, op. 64 Wie Beethoven, Brahms und Tschaikowski hat auch Mendelssohn nur ein Violinkonzert geschrieben. Es gehört zu seinen Hauptwerken und hat ihn jahrelang beschäftigt. In einem Brief vom 30. Juli 1838 an seinen Freund Ferdinand David, einen der berühmtesten Violin virtuosen des 19. Jahrhunderts, erwähnt Mendelssohn zum ersten Male den Plan, ein Konzert für die Violine zu schreiben. Aus weiteren Briefen geht hervor, daß David ihm bei der Arbeit beratend zur Seite gestanden hat. Erst im Jahre 1844 wurde das Konzert voll endet. Die erste Aufführung fand am 13. März 1845 im Leipziger Gewandhaus mit David als Solisten statt. Mendelssohn, der dem Gewandhaus Orchester seit 1835 als Kapellmeister vorstand, weilte damals nicht in Leipzig, und so leitete der dänische Komponist N. W. Gade die Uraufführung. Der Erfolg war so groß, daß das Violinkonzert schon in der nächsten Spielzeit wieder auf das Programm gesetzt wurde. Die Virtuosität des Soloparts stellt höchste technische Ansprüche. Sie verliert sich aber nie in Effekthascherei, sondern ist stets mit reicher musikalischer Substanz erfüllt. Der große melodische Reichtum des Mendelssohnschen Violinkonzertes hat wohl nicht wenig dazu beigetragen, daß sich dieses Werk die Herzen der Hörer im Fluge eroberte. Mit den Violin konzerten von Bach, Mozart, Beethoven und Brahms hat das von Mendelssohn, nach W. Dahms, „die Tendenz gemeinsam, das virtuose Element nur als selbstverständlichen, willkommenen Faktor mitsprechen zu lassen, den musikalisch-symphonischen Charakter aber in möglichster Klarheit und Großzügigkeit durchzuführen, wenn auch der solistische Ehrgeiz der Violine durchaus selbständige Wege geht und sich mehr an Mozart als an Beethoven oder gar Brahms anschließt“. Der erste Satz verzichtet auf die übliche Orchestereinleitung und beginnt unmittelbar mit dem weitausschwingenden Hauptthema, das zunächst die Solovioline anstimmt: Es folgen ein Nebengedanke und ein bezauberndes zweites Thema in G-Dur. Diese Themen bestimmen das musikalische Geschehen des ersten Satzes. Das besinnliche Andante er innert an die „Lieder ohne Worte“, während Mendelssohn in dem geistsprühenden Schluß satz noch einmal den zauberhaften Elfenspuk der Sommernachtstraum-Ouvertüre Klang werden läßt: