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Peter I. Tschaikowski Violinkonzert D-Dur, op. 35 Es entstand im Jahre 1878 in der Schweiz. Im Sommer des Vorjahres hatte Tschaikowski, ohne selbst recht zu wissen, warum (,,Warum habe ich das getan? Mir scheint heute, daß mich die Macht des Schicksals hingetrieben hat“), eine ungeliebte Frau geheiratet. Ihr Zusammenleben wurde eine einzige Qual. Tschaikowski war verzweifelt und bald einem Nervenzusammenbruch nahe. Er dachte an Selbstmord. Nur eine Rettung gab es: end gültige Trennung. Diese erfolgte bereits drei Monate nach der Trauung. Seelisch völlig zusammengebrochen reiste Tschaikowski ins Ausland, in die Schweiz und nach Italien. Hier erholte er sich langsam und fand seine Seelenruhe wieder. Hier schöpfte er neue Kraft für sein Schaffen. In zwei Werken jener Zeit fanden diese für den Komponisten so bedeutungs vollen Ereignisse ihren Niederschlag: in der Vierten Sinfonie und in der Oper ,,Eugen Onegin“. Bald nach Vollendung dieser beiden Werke, im März 1878, nahm Tschaikowski die Arbeit an dem Violinkonzert auf. Ein neues Lebensgefühl war in ihm erwacht, das sich in diesem lebensfrohen Konzert deutlich widerspiegelt. Er berichtet an Nadeshda von Meck, seine Gönnerin und ,,geliebte Freundin“: „Der erste Satz des Geigenkonzerts ist bereits fertig; morgen beginne ich mit dem zweiten Satz. Seit dem Eintritt meiner günstigen Stimmung! ist mir diese Stimmung treu geblieben. In diesem Gemütszustand verliert das Schaffen gänzlich das Gepräge der Arbeit; es ist andauernde Seligkeit . . .“ Frau von Meck dankte umgehend:,, Soeben habe ich Ihr Violinkonzert durchgespielt. Dieses Werk begeistert mich immer mehr. Die Canzonetta ist geradezu herrlich. Wieviel Poesie und welche Sehnsucht in diesen sons voiles, den geheimnisvollen Tönen! Gott, wie ist das schön, wieviel Genuß gibt Ihre Musik!“ Die Uraufführung, die erst im Jahre 1881 mit den Wiener Philharmonikern unter Leitung von Hans Richter stattfand, übernahm ein Freund Tschaikowskis, der junge russische Geiger Adolf Brodski. Dieser berichtet über Schwierigkeiten der ersten Aufführung: „Ich mußte mich leider mit einer einzigen Probe begnügen. Noch dazu ging für die Korrektur der von Fehlern wimmelnden Noten sehr viel Zeit verloren. Die Herren Philharmoniker be schlossen daraufhin, alles pianissimo zu begleiten, um nicht umzuschmeißen . . .“ Diese fragwürdige Wiedergabe trug wohl zu der geteilten Aufnahme bei, die Tschaikowskis Violin konzert bei dieser ersten Aufführung fand. Einerseits sprach man von einer „der originell sten und wirkungsvollsten Violinkompositionen“, andererseits meinte man in diesen zauber haften Klängen „wildesten russischen Nihilismus zu hören. Eduard Hanslick, dessen ge hässiges Auftreten gegen Wagner und Bruckner kein Geheimnis ist, verstieg sich zu Aus drücken, die beweisen, daß ihm das Verständnis für dieses Meisterwerk völlig abging: das Finale versetzt uns „in die brutale und traurige Lustigkeit eines russischen Kirchweihfestes . . . Wir sehen lauter wüste und gemeine Gesichter, hören rohe Flüche und riechen den Fusel . . . Tschaikowskis Violinkonzert bringt uns zum ersten Male auf die schauerliche Idee, ob es nicht auch Musikstücke geben könne, die man stinken hört!“ — — — Nach Beethovens D-Dur-Violinkonzert und gleichzeitig mit dem ebenfalls in D-Dur stehenden Konzert von Brahms hat Tschaikowski ein drittes D-Dur-Konzert für die Violine geschaffen, das in den Konzertsälen aller Welt begeisterte Aufnahme finden sollte. Der Solo-^ part ist technisch von höchster Vollendung (der bekannte Moskauer Violinvirtuose Leopold! Auer, dem Tschaikowski das Werk ursprünglich widmen wollte, hielt es wegen seiner enormen technischen Schwierigkeiten damals für unspielbar) und doch organisch mit dem Orchester verbunden. Das Konzert beginnt mit einer kurzen Orchestereinleitung, die schon auf das Hauptthema des ersten Satzes hinweist. Dieses mehr lyrische als dramatische Thema erklingt zunächst in der Solovioline: cCe-ra-i» aoäa.i Nach einer virtuos gehaltenen Überleitung gleitet die Violine fast unmerklich in das sang liche, leicht melancholische zweite Thema über. Die Durchführung setzt mit dem in fest lichem Glanz erstrahlenden Hauptthema ein. Ihr erster Teil wird vom Orchester allein be stritten, dann beteiligt sich auch die Solovioline, die das Hauptthema virtuos umspielt und verändert. Die zur Reprise überleitende Kadenz greift auf das zweite Thema zurück. Eine wirkungsvolle Stretta (drängend beschleunigte Schlußpassage) beschließt den Satz. Der Mittelsatz (Canzonetta) ist in der für den langsamen Satz gebräuchlichen dreiteiligen Liedform angelegt. Eine schwermütige Melodie der Solovioline bestimmt den Charakter des ersten Teils. Nach einem freundlicheren Mittelteil, dessen Thema wiederum die Violine anstimmt, wird das erste Thema wiederholt, jetzt von klagenden Klarinetteneinwürfen kommentiert. Ein stark modulierendes Nachspiel leitet zum Finale über. Nach einer kurzen Orchestereinleitung intoniert das Soloinstrument den mit der russischen Volksmusik ver wandten Hauptgedanken. Der Eindruck eines fröhlichen Volksfestes wird durch das zweite Thema mit seiner ostinaten Quintbegleitung noch verstärkt: Auch hier ist die Herkunft aus der russischen Volksmusik offensichtlich. Dieser lebensfrohe Schlußsatz ist ein klingender Beweis dafür, wie Tschaikowski die Musik seines Volkes ge liebt hat, wie sehr er, nach seinen eigenen Worten, „Russe in dem erschöpfendsten Sinne dieses Wortes“ gewesen ist. Renate Jahn LITERATURHINWEISE Wolff: Felix Mendelssohn-Bartholdy Vetter: Der Klassiker Franz Schubert Zagiba: Peter Tschaikowski VORANKÜNDIGUNG Nächste Konzerte im Anrecht A 19./20. 3. 1960 Nächste Konzerte im Anrecht B 26727. 3. 1960 3. Konzert im Anrecht — C — am 29. 3. 1960 (Freier Kartenverkauf!)