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Die Unvereinbarkeit zwischen Kunst und Leben, Wahrheit und bürgerlicher Wirklichkeit seiner Zeit erkannte Franz Schubert um so mehr, je reifer er wurde. Seit 1819 bemächtigte sich dieser tragische Antagonismus seines Liedschaffens, seiner Kammermusik und schließlich seiner Sinfonik. Wie der schmerzlich-heftige Streichquartett-Satz c-Moll aus dem Jahre 1820 blieb auch die Sinfonie h-Moll von 1822 ein Torso und ging als Schuberts „Unvollendete" in die Musikgeschichte ein. Zwingende äußere Gründe für die Nichtvollendung des Werkes gab es nicht. Daß Schubert es nicht zum Abschluß brachte, lag wohl an der noch nicht überwundenen Unschlüssigkeit seiner Haltung: Auf der einen Seite spürte er die Übermächtigkeit jener für ihn neuen und schmerzhaften ge sellschaftlichen Erkenntnis, auf der anderen Seite konnte er sich nur zögernd von einer alten Illusion lösen, vom ungetrübten Leben in der Kunst. So müs sen wir uns mit den zwei vollendeten Sätzen der Sinfonie begnügen, die uns Schuberts Durchbruch zu einer neuen, konflikthaften sinfonischen Sprache be legen, deutlich am Beethovenschen Vorbild orientiert und doch eigenständig. Wirklich tragische Gedanken finden in dem ergreifenden Werk Ausdruck. Nicht die Zerwürfnisse mit dem Vater bilden, wie vielfach angenommen wurde, den Kern des dargestellten Konflikts, sondern seine tragische Lebenserfahrung, daß seine humanistische Lebensverbundenheit unvereinbar war mit den sich unauf haltsam durchsetzenden kapitalistischen Produktionsverhältnissen, wenn ihm auch diese Ursache zu seinem Konflikt mit der Welt letztlich undurchschaubar blieb. Halten wir uns an seine Worte: „Wollte ich Liebe singen, ward sie mir zum Schmerz. Und wollte ich Schmerz nur singen, ward er mir zur Liebe. So zerteilte mich die Liebe und der Schmerz“ — darin liegt auch der Leitgedanke seiner „Unvollendeten" beschlossen. Das der Sinfonie in den Bässen gleichsam mottohaft vorangestellte düstere achttaktige Thema, das in der Durchführung und der Coda des ersten Satzes (Allegro moderato) eine große Rolle spielt, läßt diesen Leitgedanken deutlich werden. Nach einem schmerzlichen Klagegesang in Oboen und Klarinetten, ei nem Hornruf stimmen die Celli, dann die Violinen eine wunderbare Ländler melodie an, die so recht Herzlichkeit, Wärme und Volkstümlichkeit demonstriert, deren Schubert fähig war. Aber dieser Gesang von der Liebe wird von bruta len Fortissimo-Schlägen des Orchesters unterbrochen, bis die Melodie wieder Kraft findet, sich durchzusetzen. Wie schon die Exposition spiegelt auch der weitere dramatische Verlauf des ersten Satzes die „Zerteiltheit" in Schmerz und Liebe wider. Das fatalistische Mottomotiv verwandelt sich in ein heroi sches Kampfmotiv. Doch den heftigen Kämpfen und Auseinandersetzungen ist kein Sieg beschieden. Mit drei gebieterischen Schlägen scheint der Schmerz über die Liebe zu siegen, der Tod über das Leben. Der zweite Satz (Andante con moto) versucht, fern von den Kämpfen des er sten Satzes einen Märchenfrieden zu gestalten, seine träumerische Ruhe vor dem Einbruch des Schmerzes, der Realität zu bewahren. Eine friedvolle Kanti- lene vermag denn auch im ersten Teil den. Eindruck tiefer Ruhe und Ergeben heit zu erzeugen. Doch bald kommt es wieder zu einer großen Klageszene. Der Schmerz bricht erneut auf, bis er sich abermals in Liebe verwandelt. In der Reprise scheint dann die Verzweiflung noch gesteigert, bis eine endgültige Be sänftigung in Wohllaut und Frieden eintritt. Das Klavierkonzert Nr. 1 d-Moll o p. 15 von Johannes Brahms gehört zu den Jugendwerken des Meisters. Es wurde in seiner Ur form als Sonate für zwei Klaviere entworfen (1854), auch Pläne für eine Sinfo nie hatte der Komponist ursprünglich damit verbunden. Die ersten Aufführun gen des dann endgültig zum Klavierkonzert umgestalteten Werkes fanden mit Brahms als Solisten kurz nacheinander Anfang 1859 in Hannover und im Leip ziger Gewandhaus statt, wobei es allerdings besonders in Leipzig zu einem völligen Durchfall des Konzertes kam. Die Gründe für diese überaus schlechte Aufnahme der ersten bedeutenden Orchesterschöpfung des jungen Brahms bei seinen Zeitgenossen mögen beson ders darin zu suchen sein, daß es sich hier nicht um eines der üblichen Virtuo senkonzerte, sondern um ein rein sinfonisch angelegtes Werk handelte, bei dem das Klavier — kein virtuos konzertierendes Soloinstrument mehr — ebenso wie die anderen Orchesterinstrumente der sinfonischen Entwicklung nutzbar ge macht wird. Daneben mögen auch die Monumentalität und die dramatische Schroffheit besonders des ersten Satzes, der unter dem Eindruck des Selbst mordversuches des verehrten Robert Schumann geschrieben sein soll, zunächst befremdet haben. Und doch müssen wir in diesem Werk eines der großartig sten Beispiele seiner Gattung erblicken, das uns durch seine Einheitlichkeit und Intensität, durch seine düstere Größe und seinen starken Gefühlsreichtum aufs tiefste zu fesseln vermag. Der erste Satz (Maestoso) wird mit dem großartigen Hauptthema des Orche sters eröffnet Nach einem Zwischenspiel und einer kontrapunktischen Steige rung setzt das Klavier piano espressivo mit klagenden Terzen- und Sexten gängen ein. Sparsam begleitet das Orchester. Die ernste, schmerzliche Stim mung konzentriert sich. Dann erklingt — im Klavier allein — das edle zweite Thema, das zu Brahms' schönsten Einfällen gehört. Das Orchester greift die Melodie auf, das Klavier umspielt sie figurativ. Die Durchführung bemächtigt sich dieses Materials und mündet in einer Verarbeitung des Hauptthemas. Düster klingt die Reprise aus. Wie faszinierend die melodischen Entfaltungen, der großflächige Aufbau, der herbe Mollklang des Satzes wirken, läßt sich kaum mit Worten sagen. Der Einsatz des Soloklavieres erfolgt sinfonisch-kon zertant und stellt an den Solisten höchste physische Anforderungen. Andere Gefühlsbereiche eröffnen sich schon mit dem zweiten Satz (Adagio), den Brahms ursprünglich — wohl im Gedenken an Schumann — mit „Bene- dictus, qui venit in nomine Domini" überschrieben hat. Ein innig-gesangvolles Geigenthema steht im Vordergrund des Satzes. Einen weiteren edlen Gedanken bringt das Klavier. Die Anlage des Adagios ist dreiteilig. Der mittlere Teil wird von elegischen und schmerzlich-trotzigen Stimmungen beherrscht. Die variierte