Volltext Seite (XML)
Der Komponist begann seinen schöpferischen Weg in der Auseinandersetzung mit dem Stil Carl Orffs, bis seine Handschrift nach der Beschäftigung mit der Dodekaphonie (insbesondere Webernsche Prägung) und der anschließenden Be gegnung mit Witold Lutoslawski entscheidende Veränderungen und wesentliche Differenzierung erfuhr. An Kompositionen entstanden bisher zahlreiche Or chesterwerke, ferner Kammer,- Orgel- und Chormusik. Das kurze, festliche Or chesterwerk Introduktion und Toccata wurde 1969 im Auftrag des Berliner Sin fonieorchesters zum 20. Jahrestag der DDR komponiert und erlebte im Septem ber des gleichen Jahres im Eröffnungskonzert der Berliner Festtage seine Uraufführung unter Kurt Sonderling. Siegfried Thiele äußerte zu dem Stück: „Introduktion: Energisch gespannte Blechbläserklänge, denen ein nachdrücklich deklamierender Charakter eigen ist, eröffnen das Werk. Tiefe Streicher wieder holen die von den Bläsern aufgestellte Melodik. Danach nehmen die Blech bläser wieder den Anfang des Werkes auf, diesmal in exponierter Lage. Von da aus wird der Höhepunkt dieses kurzen Einleitungssatzes in gleichmäßig schreitenden Halben erreicht. Ein Epilog stellt der eben gewesenen dynamischen Expansion eine aufs Pianissimo reduzierte Dynamik gegenüber. Toccata: Ein sich dreiteiliges Stück, das — in seiner Grundhaltung erregte und vorwärtsdrängend — verschiedene Formen lebhaft bewegten Musizierens ent faltet. Der erste Teil geht aus einem einfach rhythmisierten Kleinterz-Intervall hervor: zu Beginn des Satzes von der Pauke piano vorgetragen. Dieses Terzinter vall wird bestimmend für die allmählich sicn bildende Thematik dieses ersten Teiles. Dabei wird die Formung im wesentlichen von registerartigen Klangver stärkungen geprägt. Der weniger ausgedehnte Mittelteil setzt ein mit einem weitgespannten Quart motiv in der Tuba. Der Verlauf dieses Teiles steht im umgekehrten Verhältnis zum vorangegangenen ersten Teil der Toccata: es findet jetzt eine allmähliche Entthematisierung statt, die dazu führt, daß bloße Rhythmus- bzw. Intervallstruk turen erklingen. Energische Schlagzeug- und Blechbläsereinwürfe führen dann zurück zu Themengestalten des ersten Teiles. Wiederholung und Variation dieser Themengestalten sind Inhalt des dritten Teiles. Im Ausklang der Toccata wird noch einmal auf die Introduktion zurückgegriffen: die zu Anfang des Stückes aufgestellte Melodik erklingt auch am Schluß, jetzt im Fortissimo des ganzen Orchesters". Alexander Borodin studierte 1850—1856 an der Petersburger Militär-Medizini schen Akademie Medizin und Chemie, war zwei Jahre Militärarzt und wurde im Alter von 28 Jahren Professor der Chemie an diesem Institut. Im Jahre 1862 machte er die Bekanntschaft von Mili Balakirew, dem führenden Kopf jener Gruppe namhafter russischer Komponisten, die sich, „Mächtiges Häuflein", auch „Novatoren", „Balakirew-Kreis", „Neue Russische Musikschule" genannt, zu sammengeschlossen hatten, um die Ideen der russischen demokratischen Bewe gung der 60er Jahre für die Musik fruchtbar zu machen und, auf dem Schaffen Glinkas und Dargomyshskis aufbauend, die Entwicklung einer eigenständigen, auf der Volksmusik gegründeten nationalen russischen Tonkunst zu fördern. Zu dieser Gruppe gehörten neben Balakirew Cesar Cui, Mussorgski und Rimski- Korsakow. Borodin, der früh musikalisches Interesse und Talent gezeigt hatte, jedoch nie ein geregeltes Fachstudium in der Kompositionslehre betrieben, seine theoretischen Kenntnisse sich vielmehr autodidaktisch erworben hatte, gesellte sich nun dieser Gruppe bei und wurde von Balakirew, dessen Ideen ihn be geisterten, in Harmonielehre und Komposition unterwiesen. Als geschätzter Ge lehrter hatte Borodin freilich für seine kompositorische Arbeit nur wenig Freizeit zur Verfügung. Sein Oeuvre ist deshalb nicht umfangreich, zeichnet sich jedoch durch einen originellen, genial-schöpferischen Persönlichkeitsstil aus mit kühnen Neuerungen in Harmonik und Rhythmik, farbenprächtiger Orientierung, mit viel fach orientalischem Kolorit und realistischer Haltung. So wie er sein bedeutendstes Werk, die schon 1869 begonnene Oper „Fürst Igor", nicht mehr selbst beenden konnte (die Partitur wurde nach seinem Tode von Rimski-Korsakow und A. Glasunow vollendet), so mußte er auch seine 3. Sinfonie a-Moll, die ihn in seiner letzten Lebenszeit neben der Oper beschäftigte, als Fragment hinterlassen. Nachdem Borodin seine „Zweite" in h-Moll 1876 abge schlossen hatte, notierte er 1884 erste Gedanken zum langsamen 3. Satz einer neuen Sinfonie, an der erjedoch erst im September 1886 (mit dem 1. Satz be ginnend) ernsthaft zu arbeiten begann. Am 7. Februar 1887 schrieb er an seine Frau: „Du weißt, daß ich eine dritte Sinfonie in embryonischer Form habe, aber es wird einige Zeit dauern, bis sie ans Tageslicht kommt, da ich eine Menge Arbeit an ,lgor' habe, der langsam vorwärts kommt“. Eine Woche darauf, am 15. Februar, starb er plötzlich und hinterließ nur wenige Notizen und Manuskripte zum 1. und 2. Satz, vom 3. Satz gar nur zwei Takte (für das Andante) und nichts für das Finale, obwohl er noch wenige Tage vor seinem Ableben in Anwesen heit eines Schülers das ganze Andante (Variationen über ein geistliches Lied) und ein kräftiges Finale improvisiert hatte. Der Komponist Alexander Glasunow (1865—1936) war dank seines phänome nalen Gedächtnisses und der überlieferten Skizzen imstande, den ersten Satz auszuschreiben und Borodins bekannte Absichten für den zweiten auszuführen, eine Orchesterbearbeitung eines einige Jahre früher geschaffenen Scherzos für Streichquartett. Dieser von Glasunow vervollständigte und instrumentierte zwei- sätzige Fragment der 3. Sinfonie von Borodin, das auch in unserer heutigen Aufführung erklingt, wurde am 24. Oktober 1887 in einem Gedächtniskonzert in Petersburg unter Rimski-Korsakows Leitung uraufgeführt. Nach Glasunows Über lieferung hatte Borodin seine „Dritte" die „Russische" genannt und versichert, daß sie sein bestes sinfonisches Werk würde. Das Werk sollte im Unterschied zu den zwei vorausgegangenen Sinfonien nicht nur einzelne russische Elemente enthalten, sondern ein direktes Bild Rußlands, eine Verallgemeinerung des Na tional-Russischen (wie Borodin dies verstand) darstellen: im ersten Satz ein „Bild der russischen Natur und Verkörperung des russischen Liedes", im 2. Satz ein „Bild des russischen Volkstums", im 3. Satz „Gedanken über die Geschichte Rußlands" und im Finale die Synthese. Die nationalen Besonderheiten des Borodinschen Instrumentalstils sind ganz besonders deutlich im 1. Satz (Moderato assai) ausgeprägt, einem lyrisch-epi-