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ZUR EINFÜHRUNG Zoltän Kodöly, neben und nach Bela Bartök prominentester Repräsentant der unga rischen Gegenwartsmusik, verstarb am 6. März 1967 in Budapest. Am 16. Dezember jenes Jahres wäre er, der Schöpfer des „Psalmus Hungaricus“, des großartigen nationalen chor sinfonischen Werkes, und volkstümlicher unga rischer Opern wie „Hary Jänos" und „Die Spinnstube“, 85 Jahre alt geworden. In diesem Jahr nun gedenkt die Musikwelt des 100. Ge burtstages des großen ungarischen Kompo nisten, dessen Schaffen wie das seines Freun des Bartök zutiefst in der Volksmusik, ganz besonders in den urtümlichen Bauernliedern seines Heimatlandes wurzelte, die Bartök und er systematisch, mit wissenschaftlicher Genauig keit sammelten und zur Grundlage ihrer künst lerischen Aussagen machten. Jahrgang 1882, also ein Jahr jünger als Bartök, studierte Kodöly ebenfalls an der Budapester Musikakademie. An der Universi tät der ungarischen Hauptstadt promovierte er zum Dr. phil. Gemeinsame Neigungen und Pläne verbanden Kodöly und Bartök früh zu freundschaftlichem Kontakt, der sich bald zu wissenschaftlicher und künstlerischer Zusam menarbeit erweiterte. Seit 1910 trat er in zunehmenden Maße als Komponist substanz reicher Chor-, Orchester-, Kammermusik-, Büh nen- und Gesangswerke — auch im Ausland — hervor. Besonders im Chorkomponisten Kodöly begrüßte man den Erneuerer der ungarischen Musik. Bedeutendste Dirigenten der Welt, darunter Ansermet, Furtwängler, Toscanini, Kussewitzky, Molinari u. a., setzten sich für sein Schaffen ein. Kodälys Ausstrahlungskraft als Komponist, Mensch, Pädagoge und Wissen schaftler war außerordentlich bedeutend. Zahl reiche Schüler verdanken ihrem pädagogisch ungemein befähigten Lehrer Entscheidendes. Es sind vor allem zwei Momente, die Kodölys musikgeschichtliche Bedeutung ausmachen. Das ist einmal seine schöpferische Begabung, die seinen Namen international bekannt werden ließ, und zum zweiten seine — mit Bartök gemeinsam unternommene — folkloristische Forscher- und Sammlertätigkeit. Aufschlußreich ist es, daß Bartök, der vom Komponisten be kanntlich nicht bloße Volksliedzitate, sondern eigenständige, lebendig-schöpferische Imita tionen, Entwicklungen im Sinne der Folklore und ihrer Atmosphäre forderte, bescheidener weise in Kodälys Schaffen das beste Beispiel für solche Musizierhaltung sah. Ein Komponist dieses Typs hat — sagte Bartök — „das Wesen der (ungarischen) Bauernmusik gänzlich in sich aufgesogen, sie zu seiner musikalischen Muttersprache gemacht", „er beherrscht sie so vollkommen wie ein Poet". Eine derartig schwerwiegende Äußerung aus dem Munde des Freundes gibt uns wichtige Ansatzpunkte für eine Einschätzung der Musik Kodölys, die sich trotz einiger Berührungspunkte dennoch von der Bartöks sehr unterscheidet. Denn im Grunde löste sich Kodaly —bei aller bewußten Ablehnung überschwenglicher spätromantischer Ausdrucksmittel — nie ganz von der roman tischen Tradition. So meidet er auch bei aller urwüchsigen Vitalität Bartöks explosive Schr^^ heiten, ist Einflüssen Bachs (ja sogar Pales^V nas), Liszts, Debussys oder Strawinskys nicht verschlossen und gibt sich insgesamt gemä ßigt „modern“, farbig, sinnenhaft, frisch, witzig, temperamentvoll übermütig, nicht sel ten auch geistreich-doppelschichtig. Vor allem aber ist das ungarische Volkslied die inspira tive Grundlage seiner klassizistischen, von innerer Wahrhaftigkeit und tiefem Humanis mus erfüllten Tonsprache gewesen. Das zweite Moment der musikhistorischen Bedeutung Kodälys sind seine Leistungen als Folklorist. Seit 1905 ging er zusammen mit Bartök an die systematische Erforschung der „bis dahin schlechtweg unbekannten unga rischen Bauernmusik", aufräumend mit den — seit Franz Liszts „unsterblichem Irrtum“ — gängigen falschen Vorstellungen von unga rischer Musik. Die Ergebnisse dieser wissen schaftlichen Volksmusikforschung wurden 1934 von der ungarischen Akademie der Wissen schaften herausgegeben. Bartök und Kodöly hatten ein Material von rund 3000 Haupt melodien mit über 10 000 Varianten für den Druck vorzubereiten! (In diesem Zusammen hang sollte man nicht versäumen, Kodälys grundlegendes Buch „Die ungarische Vol^B musik", deutsch: Budapest 1956, zu studieret^) Ungarn hat Kodöly auch die Grundlage des heutigen Hochstandes im Musikerziehungs wesen zu danken. Schon 1929 erklärte er: „Das ungarische Publikum muß aus seiner musikalischen Erstarrung herausgehoben wer den. Und zu diesem Ziel kann man nur ge langen, wenn in den Schulen mit der Erzie hung begonnen wird." Zur Zeit der unga rischen Räterepublik bekannte sich der Kom ponist zum Fortschritt und gab der Budapester Musikakademie nationale Impulse. Unter dem Faschismus ging er in die „innere Emigration“, erlebte 1945 die Zerstörung Budapests — in den Kellern des Opernhauses, wo in einer Garderobe die Uraufführung seiner „Missa brevis" erfolgte. Der Kriegsopfer gedachte er nach der Befreiung mit dem großen Chorwerk „Am Grab der Märtyrer“. Mehrere Jahre war Kodöly auch Präsident der Ungarischen Aka demie der Wissenschaften, kämpfte unermüd lich für die Hebung der Schulmusik, galt im In- wie Ausland als künstlerischer Repräsen tant Ungarns. Als Vorsitzender eines 1957 ins Leben gerufenen Musikrates intensivierte er wesentlich seine künstlerischen und erziehe rischen Absichten. Später wurde er Ehrenvor sitzender des ungarischen Musikerverbandes. «hrfach erhielt er den Kossuth-Preis, zu lern 80. Geburtstag wurde er mit dem Ver dienstorden der Ungarischen Volksrepublik ausgezeichnet. 1964 weilte er das letzte Mal in der DDR und wurde hier begeistert gefeiert. Die Franz-Liszt-Hochschule in Weimar verlieh ihm die Würde eines Ehrensenators und die Berliner Humboldt-Universität die Ehrendok torwürde der Philosophischen Fakultät. Be zeichnendes Licht auf das Ethos dieses großen Künstlers und Menschen wirft folgende Äuße rung des Komponisten: „Es ist meine Über zeugung, daß jedes Volk so lange lebt, wie es der Menschheit noch etwas zu sagen hat. Die Ungarn haben diese Botschaft noch nicht ausgesprochen, besonders nicht auf dem Ge biet der Kultur: mußten sie doch Jahrhunderte hindurch kämpfen, um das nackte Leben mit der Waffe zu schützen. Aber die Sendung der Völker kann nur in den Werken des Friedens zu bleibendem Ausdruck kommen". Bartöks und Kodälys Lebenswerk stellen wesentliche Bestandteile dieser Botschaft, dieser Sendung des ungarischen Volkes dar. „Die Kunstmusik wächst aus der Volksmusik heraus, sie ist ihre organische Fortsetzung einer verfeinerten, höheren Stufe“, äußerte IVtän Kodöly in seiner Arbeit „Volksmusik und Kunstmusik" (1941). Noch stärker als in der Instrumentalmusik verwirklichte der unga rische Meister in der Vokalmusik, in der der auch umfangmäßige Schwerpunkt seines künst lerischen Werkes zu sehen ist, die Idee einer Erfüllung der nationalen Tradition. Sein Schaf fen ist nicht nur mit Elementen der ungarischen Volksmusik, sondern auch mit solchen der historisch-literarischen Überlieferung und der Sprache seines Volkes untrennbar verbunden. Der ganz eigene Deklamationsstil und der Melodienbau seiner Vokalkompositionen sind derart aus dem Geist, dem Rhythmus, ja der Melodik seiner Muttersprache erwachsen,' daß Übersetzungen in andere Sprachen nur ein unvollkommenes Bild der Originale bieten können. Das ist sicher der Grund, weshalb von dem außerordentlich umfangreichen Vokal schaffen Kodälys bei uns kaum etwas be kanntgeworden ist, ausgenommen die orato- rischen Werke, in denen sein vokalsinfonischer Stil zu höchster Reife gelangte (bei denen aber auch bis auf den „Psalmus Hungaricus“ das sprachliche Problem nicht steht). Im Zu sammenhang mit den epochemachenden Chor kompositionen stand auch seine beispielhafte musikpädagogische Tätigkeit, die sich vor allem auf die Entwicklung des Lied- und Chor gesanges in Ungarn richtete. Das B u d a v ä r i T e D e u m für Soli, Chor, Orgel und Orchester, ein Gegenstück zum „Psalmus Hungaricus“, kom ponierte Kodöly 1936 im Auftrag der Stadt Budapest anläßlich des 250. Jahrestages der Befreiung der Festung Buda (Ofen) von den Türken. Die Uraufführung erfolgte am 2. Sep tember 1936 in der Krönungskirche zu Buda. Es ist wohl das konzentrierteste Werk Kodälys überhaupt und darüberhinaus wie der „Psalmus Hungaricus" eines der schon klassischen Mei sterwerke der Vokalsinfonik des 20. Jahrhun derts. DasTe Deum beeindruckt gleichermaßen durch seinen humanistischen Geist wie durch seinen formvollendeten, wohlproportionierten Aufbau und durch die Homogenität, zu der hier die verschiedensten Errungenschaften europäischer vokaler Musik aus der Vergan genheit mit dem persönlichen Tonfall der Kodälyschen Handschrift vereinigt wurden. Dabei dominiert durchaus die ungarische Intonation, die dem Stück ein unverwechsel bares nationales Profil verleiht. Die einzelnen Abschnitte des Werkes, die dem Strophenbau der zugrundeliegenden alten lateinischen Hymne folgen, sind zu Trio-, Sonaten- und Rondoformen zusammengefaßt. Gleichzeitig gelingt dem Komponisten durch eine Verbindung dieser kleineren Formen eine großartige Brückenform, die von einem zwei mal erscheinenden Fugato-Abschnitt getragen wird: am Anfang zu dem Text „Pleni sunt coeli et terra“ und am Ende zu den Worten „Non confundar in aeternum“. Diese beiden Fugati, in denen die alte Chorpolyphonie mit neuem Geist erfüllt ist, bedeuten zugleich die Höhepunkte des Te Deums. Der pentatonische Charakter der Melodik und Harmonik und der sich jeweils zum Abschluß der beiden Ab schnitte aus aufeinanderfolgenden Quarten