Volltext Seite (XML)
aufbauende „Quartenturm" weisen auf den Einfluß der ungarischen Volksmusik hin. Und wenn nach der Dramatik des „Non con- fundar" der Hymnus mit einem lyrischen Sopransolo zart verklingt, erscheint unter sanf ten Akkorden des Chores in den Pizzicati der Streichbässe nochmals das pentatonische Grundmotiv des Werkes. „In der Schönheit dieser letzten verklingenden Töne scheinen alle Ziele und Absichten Kodälys zusammen gefaßt zu sein: Die Vereinigung des unga rischen Geistes mit dem Europäertum in einer Musik, die seine tiefe Menschlichkeit und sein Vertrauen in die Zukunft der Menschheit zum Ausdruck bringt." So hat es treffend der Kodäly-Biograph Läszlo Eösze formuliert. Welch eine Weite des Ausdrucks, welch eine Fülle von erregenden, leidenschaftlichen und innig-flehenden Bildern gestaltet dieses Stück zwischen dem einleitenden Triumphgesang des „Te Deum laudamus" mit seinen mächtigen Trompetenfanfaren und diesem verhaltenen Schluß. Als der vierundzwanzigjährige Johannes Brahms 1857 auf Grund einer Empfehlung Clara Schumanns an den kleinen lippischen Fürstenhof zu Detmold berufen wurde, war er für viele Musikfreunde in Deutschland schon längst kein Unbekannter mehr. Die Aufgaben, die ihn hier erwarteten, ähnelten jenen, die Joseph Haydn hundert Jahre früher beim Grafen Morzin oder am Fürstenhof zu Ester hazy erfüllen mußte: Klavierstunden für die Prinzessin, Mitwirkung in den Hofkonzerten und Leitung des Hofchores, dessen Repertoire er durch eigene Kompositionen zu ergänzen hatte. Was dem alles andere als höfisch Erzogenen die feudalistisch,enge Atmosphäre ertragen half, war die Tatsache, daß ihm für eigene Arbeiten reichlich Urlaub gewährt wurde, daß er eine auskömmliche Gage emp fing und daß er im nahen Göttingen in Agathe von Siebold einen Menschen gefunden hatte, der seiner unruhigen und empfindsamen Seele Verständnis entgegenbrachte. Unter diesen recht annehmbaren Vorzeichen blieben die Arbeiten dieser Detmolder Jahre — ohne in. höfische Belanglosigkeit zu geraten — frei von schweren dramatischen Auseinanderset zungen. Dies beweisen ganz besonders die beiden Orchesterserenaden, deren letzte (aus dem Jahre 1859) heute erklingt. Unter völli gem Verzicht auf den hellen Klang der hohen Streicher (die Violinen bleiben gänzlich aus gespart) neigt die Serenade Nr. 2A-Dur o p. 16, verglichen mit der nur wenig älteren Schwester, zu intimeren und wärmeren Klang wirkungen. Der erste Satz (Allegro moderato) wird von einer weit ausgeschwungenen und weich har monisierten Bläsermelodie eingeleitet. Ein sanft wiegendes, wie von Gitarren begleitetes Seitenthema bildet dazu viel eher eine Er gänzung statt eines wirklichen Kontrastes. Erst mit der aufkommenden Trioienbewegung tritt die lyrische Stimmung zugunsten energi scherer Töne vorübergehend zurück. Wie auf einem turbulenten Volksfest jagen die knap pen, wild gegen den Takt ankämpfenden Melodien des Scherzos (Vivace) einher u^J verwischen für einige Zeit den empfindsan^J Charakter des Werkes. Von eigentümlichem Reiz erweist sich das Trio: Während die Blä ser eine äußerst sangbare, mehrfach zwischen Dur und Moll wechselnde Melodie intonieren, lassen die Streicher sempre pp — wie aus der Ferne — den widerspenstigen Tanzrhythmus durchklingen. Dem Adagio non troppo liegt eine gleich förmig dahinfließende melancholische Strei cherfigur zugrunde, über der sich ein weh mütig klagender Gesang der Holzbläser er hebt. Nach einem schrillen, von Leidenschaften durchzuckten ff-Aufschrei des gesamten Or chesters stimmen die Hörner, von tremolieren- den Bratschen begleitet, eine wohlklingende Melodie an, die in ihrer Fortsetzung bis zum Hymnischen gesteigert wird und über entfernte tonale Bezirke schließlich zu einem sanft ver hauchenden A-Dur-Akkord zurückleitet. Der vierte Satz (Quasi Menuetto), in dem die Hörner ganz ausgespart bleiben, zeigt den Komponisten von einer lieblich verträumten, aber keineswegs heiteren Seite. Wie zu Be ginn des Werkes wird auch hier die in Terzen und Sexten begleitete Melodik den wcmr klingenden A-Klarinetten und Fagotten an\^B traut. Das Trio knüpft an das Gedankengut des Hauptteiles an und verleiht ihm durch Artikulationsraffinessen und eine eintönig webende Begleitung eine beinahe Mendels- sohnsche Naturstimmung. Erst mit dem Rondo (Allegro) heben sich die letzten Schleier und ein sanft beginnender, sich rasch steigernder munterer Volkstanz reißt uns mit sich fort. Noch einmal erweckt der Seitensatz (Kanon zwischen Klarinetten und Fagotten) besinnliche Gedanken, dann bricht ein wirbelnder Kehraus los und führt unter Trillern und Jubilieren (Piccolo) die geniale Jugendkomposition zu einem kraftvoll-opti mistischen Ende. Der „Psalmus Hungaricus" wurde im Jahre 1923 zum 50. Jahrestag der Gründung der ungarischen Hauptstadt — das heißt der Vereinigung der Städte Pest, Buda und Obuda zu Budapest — geschrieben und uraufgeführt. Es handelt sich um Kodälys erste große vokalsinfonische Arbeit, mit der er seine erste, dem Lied und der Kammermusik gewidmete Schaffensperiode abschloß und sich größeren Schöpfungen zuwandte. Es ist zugleich das Werk, mit dem der Komponist — nach der Züricher Premiere von 1926 — europäischen Ruhm gewann und mit dem er auch — 1927 iduim Concertgebouw-Orchester in Amsterdam ^pseine Laufbahn als Dirigent einleitete. Der „Psalmus Hungaricus“ bedeutet fraglos einen Höhepunkt in der gesamten ungarischen Mu sikkultur. Er ist jedoch nicht nur ein nationales Kunstwerk von hohem Rang, sondern auch — unter internationalem Aspekt betrachtet — eines der großartigsten Tonwerke des 20. Jahr hunderts. Den Text des monumentalen Werkes bildet der 55. Psalm des König David in der freien Übersetzung aus dem Lateinischen in das Ungarische von Mihäly Veg aus Kecskemet, einem ungarischen Dichter-Prediger des 16. Jahrhunderts. Der Psalm war immer ein Ge sang der Verfolgten und Bedrängten, doch nicht nur Ausdruck ihres Leides, zugleich auch eine Quelle für Trost, neue Kraft und Hoff nung auf eine bessere Zukunft. Veg, ein Zeitgenosse der Reformation und der türki schen Besetzung Ungarns, gestaltete seine Umdichtung des Psalmes als ergreifendes nationales Bekenntnis, als Klage über die traurige Lage und die Not seines Volkes in damaliger Zeit. Als Kodäly diesen Text, den er schon als Student kennengelernt hatte, ^^tonte, ging es ihm von vornherein nicht darum, Klagen und Sorgen längst ver gangener Zeiten darzustellen, sondern er ließ eigenes Zeiterleben und persönlichen Schmerz in seine empfindungstiefe Partitur einfließen. So mischen sich- denn im „Psalmus Hungari cus", diesem Spiegel nationaler Not, natio nalen Freiheitsdranges, die Klage des alt testamentarischen Königs mit dem Gram des altungarischen Dichters und den schmerzlichen Gedanken des Komponisten, der für seine pro gressive Haltung zur Zeit der Ungarischen Rä terepublik 1919 von konterrevolutionären Kräften verfolgt, gemaßregelt und zum Schwei gen gezwungen worden war. Erst 1921 durfte er seine Lehrtätigkeit an der Budapester Musikhochschule fortsetzen. Kodäly erweckte die Worte des Psalmdichters mit flammender Leidenschaft zum Leben, ihren Inhalt, ihre Stimmung förmlich mit visio närer lyrisch-dramatischer Kraft erfassend. Die Musik, die sich ausdrucksmäßig und formal eng an den Text anschließt, ist ergreifend und erhebend zugleich. Ihre pentatonische Melodik, deren Wendungen selbst in den dia tonischen und chromatischen Teilen spürbar sind, verschmilzt auf organische Weise mit westeuropäischer Harmonie- und Formen sprache. Den leicht überschaubaren Aufbau bildet eine Rondoform mit sechs Zwischen spielen. Das Hauptthema erklingt mit dem ersten Choreinsatz: ein Unisono-Gesang der Alt- und Baßstimmen von pentatonischem Charakter. Dieses Thema erscheint fünfmal als Chorritornell wieder und unterstreicht die ernste, klagende Grundstimmung des Gedichts. Fast wie ein zweites Thema ist die kurze, schwerblütig-leidenschaftliche Orchestereinlei tung behandelt, die verschiedentlich, wenn auch nicht so symmetrisch wie das Chor ritornell, wiederkehrt. Während der Chor die berichtenden, kommentierenden Teile auszu führen hat, läßt der Komponist aus dem Tenorsolo die Stimme Davids sprechen. Das psalmodierende Hauptthema des Chores, Ein leitung und Epilog des Stückes verkörpernd, stellt gleichsam den episch-lyrischen Rahmen für das dramatische Geschehen dar, das aus zwei großen Teilen, Klage und Fürbitte, be steht. Beide Teile weisen je drei Episoden auf, in denen — außer der letzten, die dem Chor überlassen ist — das Tenorsolo die führende Rolle übernimmt; in der vierten vereint es sich mit dem Chor. Im ersten Teil nimmt von Strophe zu Stro phe — von dem mit verändertem Charakter wiederkehrenden Chorritornell akzentuiert —- die Bitterkeit der Klagen des Dichters zu und erreicht ihren Höhepunkt nach einer General pause mit dem im ersten Takt unbegleiteten Aufschrei der Solostimme. Das Orchester, das zunächst wie bestürzt geschwiegen hat, setzt sodann mit erregten Läufen und Tremoli ein, ein Bild von erschütternder Kraft. Drittes und viertes Zwischenspiel werden nicht durch das Chorritornell, sondern durch das zweite Thema (Orchestereinleitung) miteinander verbunden. Damit beginnt der zweite Teil der Kompo sition. Das einzige Mal vereinen sich Solo und Chor. Der Dichter und sein Volk haben sich gefunden. Seine Mission ist erfüllt, er