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Der tschechoslowakische Klassiker Antonin Dvorak wurde 1892 von Jeanette Thurber nach New York eingeladen. Jeanette Thurber wollte den von ihr hoch verehrten Meister an der Spitze des von ihr gegründeten New-Yorker National konservatoriums wissen — als propagandistisches Gegenstück zur Metropolitan Opera. Dvorak sagte zu. Und gewaltig waren für ihn die Eindrücke in der „Neuen Welt“; die Sinfonie in e-Moll, opus 95, die in der New-Yorker Zeit entstand, legt beredtes Zeugnis ab. Im letzten Augenblick, vor der Uraufführung 1893 unter Leitung des großen Wagner-Dirigenten Anton Seidl in New York, gab ihr Dvorak den Namen „Aus der Neuen Welt“. Mit diesem Namen wurde die e-Moll-Sinfonie, die neunte und letzte Sinfonie der Welterfolg, das am meisten auf geführte Orchester werk Dvofäks, das damit den anderen Sinfonien geradezu Unrecht antat. Die Echt heit des Erfolges in der Uraufführung fand in allem weiteren Schicksal der Sinfonie ihre glanzvolle Bestätigung. Bei der Ankündigung des Werkes wurde in der New- Yorker Presse viel darüber gesprochen, ob die Sinfonie wohl endlich eine „amerika nische Sinfonikerschule“ 1 heraufbeschwört — aus D vofäks New-Yorker Schule sind eine ganze Reihe namhafter amerikanischer Komponisten hervorgegangen: Harry Row Shelley, Harvey W. Loomis, Rubin Goldmark, Williams Arms Fisher u. a. Aber die Uraufführung zerreißt alle Knoten, die die Zeitungspolemiken verwirrend geschlun gen hatten. Wohl beweist die Sinfonie eindeutig, daß die volkstümliche Indianer musik ebenso sinfonischen Wert hat wie die tschechische Folklore in den heimatlichen Werken Dvofäks, aber eine Basis für die „amerikanische Komponistenschule“ ist nicht gegeben — die Sinfonie „Aus der neuen Welt“ ist und bleibt reinster, schönster, heimatlicher Dvorak! Der Meister berichtet selber: „Natürlich hätte ich die Sinfonie nie so geschrieben, hätte ich nicht Amerika kennengelernt!“, bekennt aber 1893 im New York Herald: „Ich habe nicht eine der amerikanischen Volksliedmelodien ver wendet, ich habe eigenwüchsige Themen geschrieben, denen ich Eigentümlichkeiten der Indianermusik einverleibt habe. Indem ich diese Themen zum Vorwurf nahm, habe ich sie mit allen Errungenschaften der modernen Rhythmengebung, Harmoni sierung, kontrapunktischen Führung und orchestralen Färbung zur Entwicklung gebracht.“ Die e-Moll-Sinfonie reiht sich den Dvoräkschen Tonschöpfungen an, die lediglich der schlichte, unmittelbare Ausdruck der Stimmungen und Gefühle sind, von denen der Tondichter zur Zeit der Entstehung erfüllt war. Es ist nur natürlich, daß es diesmal die Eindrücke sind, die durch das für Dvofäk so neue und von allem Hergebrachten abweichende Milieu hervorgerufen wurden: Das atemversetzende Leben und Treiben in der Weltstadt am Hudson, deren Gewimmel und Getümmel sich Dvofäk Tag für Tag überantworten mußte. Da war das sich überstürzende Wogen und Fluten der Menschenmenge an den Anlegestellen und Umschlagplätzen im Hafen mit den auf hohe See ausfahrenden und aus Übersee heimkommenden Schiffen, „die er mit dem gleichen Interesse bewundernd zu beobachten verstand, wie er es in Prag mit den Eisenbahnzügen oberhalb des Weinberger Tunnels getan“ (Sourek), es beeindruckte ihn der riesige Ameisenhaufen aller erdenklichen Völker. Dieses Bild vermitteln uns hauptsächlich die beiden Ecksätze der Sinfonie, „sie sind jäh in ihrem Gefälle, strotzen von einem geradezu siedenden rhythmischen Leben. Bilder und Eindrücke überstürzen sich in ihrem bunten Ablauf und gipfeln in schwungvollem, grandiosem Emporflug“ (Sourek). Aber auch ein anderes Amerika, ein ruhigeres, poetischeres und idyllischeres ist in dieser Sinfonie spürbar. Offenbar spielt hierbei die Einsicht in Longfellows Dichtung „Song von Hiawatha“ eine gewichtige Rolle. Dvofäk kannte die Dichtung schon lange vorher aus der Über tragung seines Landsmanns Josef Vaclav Sladek, und — nach Dvofäks eignem Aus spruch — sind die beiden Mittelsätze der Sinfonie unter dem Eindruck des Long- fellowschen Werkes entstanden. Der erste Satz beginnt mit einer langsamen Einleitung (Adagio), mit nachdenklichen, durch Synkopenrhythmus gezeichneten Motiven, die leise von den Celli zu den