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UMSTRITTENE 11. Feuerbach these in Aktion Die „Universitätszeitung" handelte rich tig, als sie uns wieder einige Kostproben des Schaffens der jungen Lyriker unter uns offerierte. Lobenswert ist das beson ders als Beitrag für die geistige Vorberei tung des Deutschlandtreffens. Nun reicht die Skala der Kostproben von ersten Ver suchen bis zu reifen poetischen Äußerun gen. Es ist klar, daß ich in dieser Zu schrift nicht alle Gedanken und Stim mungen beschreiben kann, die mich beim Lesen der einzelnen Gedichte bewegten. Bemerkenswert und einprägsam halte ich zum Beispiel das Gedicht „Erkenntnis“ von Rüdiger Bernhardt. Die praktische Idee des Gedichtes tritt klar in Erschei nung und bemächtigt sich unserer Gedan ken und Gefühle. Gedichte sind wie Mosaiksteine. Sie bringen einzelne Beziehungen und Bezie hungskomplexe des Dichters und seiner Umwelt zu ihrer Zeit und Gesellschaft zum Ausdruck. Demzufolge muß jedes Gedicht für sich und im Zusammenhang mit anderen gelesen und empfunden wer den. Gewöhnlich lesen wir das Gedicht mit der größten Aufmerksamkeit, welches uns gegenwärtig am meisten Antwort auf unsere Fragen verspricht. Und hier dürfte das Geheimnis für Volker Brauns Publikumswirksamkeit lie gen. Stets sucht er aktuelle Probleme zu gestalten. Dieses Aktuelle gestaltet er aber nicht thesenhaft und schlagzeilen artig, sondern als Besonderes, das die in nere Dialektik der gesellschaftlichen Be wegung und Entwicklung ausdrückt. So begrüße ich die „Gebrauchsanweisung zu einem Protokoll“. In diesem Gedicht ist kein Wort überflüssig. Dieses Gedicht pro voziert, soll verändern und regt unbe dingt zur Veränderung an. Überhaupt scheint mir, daß Brauns „provokatorische Lyrik“ eine spezifische Umsetzung der 11. Feuerbachthese ist. Das Gedicht ist eine reife Begründung für die „Provoka tionen“. In der Tat ist es die Aufgabe der Jugend und ihrer Sprecher, und Volker Braun weist sich als solcher bei uns im mer nachdrücklicher aus, alle „Bürger Karl Schmidtmüllerschulze“ zur „Beru fung am Arbeitsplatz“ zu bewegen. Audi „Kommt uns nicht mit Fertigem“ besitzt ganz nach dem Willen Volker Brauns die große Zielrichtung, uns und unsere Welt zu verändern. Die ganze Größe und auch Schönheit der Aufgaben wird verdeut licht, aber diese Größe wird weit über ragt durch das geschichtliche Subjekt, die Gesellschaft und ihren „Kontrollposten Ju gend“. Der Jugend wird mit Recht die Rolle des Akteurs zugewiesen: „Alles Alte ■prüit: her, Kontrollposten Jugend! Hier wird Neuland gegraben und Neu himmel angeschnitten — Hier ist der Staat für Anfänger — Halb fabrikat auf Lebenszeit.“ Hoffentlich bekommt keiner den „Staat für Anfänger“ in die falsche Kehle! Die Jugendlichen werden allzeit Anfänger in Staatsgeschäften sein. Der Arbeiter-und- Bauern-Staat ist der deutsche Staat der Jugend, der Zukunft, also immer „Staat für Anfänger“ und insofern „Halbfabrikat auf Lebenszeit“. Ich habe bewußt auf detaillierte Ana lysen verzichtet und meine, daß ein Ge dicht als künstlerisches Gesamtbild auf uns wirken muß. Als Gesamtbilder haben Volker Brauns Gedichte an Inhalt und Formung gewonnen. Braun hat gegenüber „Agitatoren“ (dazu „UZ“ Nr. 8, 21. 2. 1963) bedeutende Schritte nach vorn gemacht. Seine Gedichte bringen heute wichtige Anliegen, die unser Weltbild als soziali stischer Jugend formen, in eine unserem Lebensgefühl entsprechende künstlerische Form. Hauptsächlich sollte deutlich werden: Volker Braun hat uns Jugendlichen etwas zu sagen, spricht in unserem Namen. Es bleibt nur zu hoffen, daß sein Ge dichtband möglichst bald veröffentlicht wird. Außerdem unterstütze ich auf Grund dessen, was seine Gedichte für die Jugend sind, den Vorschlag, Volker Braun mit dem Kunstpreis der FDJ auszuzeichnen. Peter Haehnel, Philosophiestudent NEUE TEXTE Konfektion I - Ausnahme: Volker Braun ...? „Was hältst du von den Gedichten in der ,UZ‘ (6/64)?" fragte ich jüngst einen „Kenner.“ — „Konfektion! — Mit einer Ausnahme: Volker Braun!“ — Ich fand: eine sehr bedenkens» werte Antwort? Hier meine Bedenken: 1. Solch eine summarische Ableh nung der veröffentlichten lyrischen Ver suche ist nicht richtig, sie dient weder un serem literarischen Gespräch noch der Entwicklung des einzelnen Verfassers. Allerdings weisen die Gedichte insgesamt eine Reihe Mängel auf. Die meisten sind ästhetisch nicht gemeistert, auch ist ihre ideelle Aussage zu alltäglich und zu di rekt. Das Plakative ist nicht immer über wunden, und eine registrierend-belehrende Haltung muß befremden. Nicht immer ist die Gedankenführung logisch und sind die Vergleiche brauchbar. Viele Reime sind abgegriffen. Meist verschwindet das Indi viduelle hinter der Allgemeinheit der Aussage, die dazu der historischen und sozialen Konkretheit entbehrt. Den mei sten Gedichten fehlt die weltanschaulische Vertiefung. Ich fühle mich tatsächlich nicht gedrängt, sie ein zweites Mal zu lesen. — Das ist sehr hart; aber man muß den Mut haben, daß Unzulängliche auch als unzulänglich zu bezeichnen. Auf der anderen Seite handelt es sich hier um erste Versuche, das eigene posi tive Lebensgefühl auszudrücken und auf diese Weise die Bereitschaft zum „Bauen einer beßren Welt“ zu dokumentieren. Die wachsende Literaturgesellschaft, die die produktive und rezeptive Seite der Kunst zu einer Einheit verbindet, erschließt täg lich neue Talente, sammelt alle Versuche, gelungene und noch nicht gelungene, und präsentiert so den Willen unserer Bürger, unsere sozialistische Gegenwart schöpfe risch zu bewältigen und sich einen kul turvollen Lebensstil anzueignen, der sich durch hohe gesellschaftliche Aktivität und Bewußtheit auszeichnet. Jeder gestalte rische Versuch ist ein Schritt auf diesem Wege; auch Veröffentlichungen dieser Art provozieren das klärende Gespräch, ohne das allerdings keine echten künstle rischen Maßstäbe angeeignet werden kön nen, ohne das sich allerdings kein echter ästhetischer Geschmack bildet. In der Kunstdiskussion um das lyrische Gegenwartsschaffen, um die wir uns an der Universität stärker noch als bisher be mühen müssen, deutet sich an, daß — wie Johannes R. Becher sagt — der Poesie auf der Grundlage sozialistischer Produktions verhältnisse eine „ungeahnte Entwicklung“ bevorsteht. Aber dazu muß man jeden Tag etwas tun; erst dann wird „Kunst sein ... einst: allen das Gemäße...“ 2. Man wird zugeben, daß die Gedichte Volker Brauns die Aufmerksamkeit des Lesers fesseln, zum Nachdenken zwingen, zum Widerspruch reizen. Auch Wenn man der Aussage seiner Gedichte nicht immer zustimmen kann, ist es lohnend, sich mit ihnen auseinanderzusetzen. Es geht uns keineswegs bloß darum, zu Brauns Talent ein Bekenntnis abzugeben. Das ist zur Genüge getan worden: z. B. durch Prof. Scholz in „Forum“ 24/63, S. 22, und unlängst durch Prof. Kurella in der „Alten Börse“ am 13. 2. 1964 in Leipzig. Es geht uns um einige Besonderheiten der Gedichte Brauns, die uns interessieren müssen, denn er gehört zu unserem Kol lektiv. Mir sind etwa 30 Gedichte Brauns be kannt, sie sind in den öffentlichen Le sungen vorgetragen oder in Zeitschriften wie „Neue Deutsche Literatur“, „Forum“ und „Sinn und Form“ veröffentlicht wor den. — Was für Brauns Gedichte charak teristisch ist, zeigt sich zum Teil auch an den beiden Beispielen in der „UZ“, Für Brauns Gedichte ist kennzeichnend, daß er in ihnen vorwiegend große gesell schaftliche Anliegen gestalterisch zu be wältigen, die gewählten Gegenstände aus dem persönlichen Erleben heraus weltan schaulich zu vertiefen versucht. Er bemüht sich, seine Gegenstände von innen her zu erfassen, wobei es ihm aller dings nicht immer gelingt, die notwendige Distanz zu erreichen. Seine Verse zeich nen sich durch große Dynamik und starke Emotionalität aus, seine innere Beteili gung bestimmt die Leidenschaft seiner Sprache und die Gewalt seiner Bilder und Vergleiche. Aber seine Metaphorik ist un gebärdig, er hat sie offenbar nicht in der Gewalt. Absicht und Verwirklichung fal len mitunter auseinander. Ihm wird zwar bescheinigt, die „Empfindungs- und Ge staltenwelt der Jugend“ zu treffen, aber Tatsache ist, daß Volker Braun mit vie len seiner Gedichte weder bei jugend lichen noch erfahreneren Hörern und Le sern ankommt. Dafür haben wir Beispiele. — Wer will an dieser Tatsache vorüber gehen? — Dem kritischen Leser muß man sagen, daß ein lyrisches Gedicht als leben diger Organismus aufgefaßt und die in haltlichen und gestalterischen Momente eines Gedichtes in ihrer Ganzheit gedeutet und beurteilt werden wollen. Es ist nicht erlaubt, einzelne Fügungen aus ihrem Kontext zu lösen und als selbständige Aussagen zu behandeln. Was wird aus einer solchen Partie, wenn ihr als Teil eines Ganzen ein selbständiger Aussage wert zugebilligt würde? „Messerscharf ist die Wahrheit. Mein Gedicht Turnt auf der Schneide des Messers: ein Schritt zur Seite: Ich stürze. Mein Mut hat die Freiheit des Seiltänzers: Hohe Kunst der Beherrschung. Tausend Möglichkeiten Der Lüge: eine Möglichkeit der Wahrheit. Und Ungewagter Schritt; weder Lüge noch Wahrheit!! Ungeschriebener Vers: Kapitulation! Und Von wo den ersten Schritt tun? Wo stehn? Wo Stellung bezieh’n zum neuen Tag? (NDL 1/1963, S S4) Aber wo Stellung bezogen werden soll, wird durch die Bilderfolge der nächsten Strophe verdeutlicht. Sie ist, konkret be zeichnet, die Praxis unseres sozialistischen Aufbaus, die bewußt den revolutionären Traditionen verpflichtet wird. Aber ande rerseits liegen die Schwierigkeiten, die sich dem Verstehen der Braunschen Verse entgegensetzen, in ihrer inhaltlichen und gestalterischen Eigenart begründet. Braun ist Student der marxistisch-leni nistischen Philosophie; mir scheint, er pro fitiert einerseits von der Philosophie wie er andererseits an ihr „leidet“. Die ge dankliche Auseinandersetzung mit unserer Weltanschauung drängt sein poetisches Bedürfnis zur Gestaltung großer weltan schaulicher Probleme. Aber es gelingt ihm vielfach nicht, sein Wissen vollständig in die Gestalt umzusetzen. Es gibt Wider- Sprüche und Brüche in seinen Gedichten, die auf Widersprüche und Brüche in sei nem eigenen Bewußtsein hindeuten. Man vergleiche z. B., was Prof. Scholz im „Fo rum“ über das Gedicht „Kommt uns nicht mit Halbfakrikaten" gesagt hat. Viele seiner Verse sind mehrdeutig, bis weilen unverständlich. Es herrscht mitun ter ein eigenartiges Widerspiel zwischen dem Pathos zukunftsträchtiger Visionen und dem ins Kleine zurückgenommenen Gefühl der „Unbeholfenheit“ der Gegen wart. Übertreibungen verkehren richtige Ansätze ins Gegenteil; was richtig ge dacht war, wird auf diese Weise objektiv falsch. In der zitierten Textstelle gibt sich Braun den Anschein durch und durch be wußten Gestaltens. Ist das so? — Vieles scheint mir nicht genügend durchsonnen. Der lyrische Dichter soll sich selbst ge stalten; jedoch gestaltet er keineswegs, indem er sich gestaltet, automatisch die Zeit. Das setzt voraus, daß sich das künst lerische Subjekt zum „repräsentativen Charakter“ auswächst. — Ein solcher Pro zeß ist, wie Johannes R. Bechter sagt, „ein Lebensprozeß, der widersprüchlich ver läuft und der im künstlerischen Werk selbst sichtbar wird". — Ist Volker Braun schon ein lyrischer Charakter“? Ja, aber ein werdender. Robert Zoppeck LYRIK Helga Neubert SONETT DER ERDE Als Feuerball dem Schoß des All entwunden nahm sie Gestalt in Feld und Wald. Und Meere versuchten brandend sich im Sang der Ehre für einen Helden, der noch nicht gefunden. In Kraft und Schönheit hat sie ihn entbunden* den Knaben Mensch. — Sein Spiel war Kühnheit, Feuer und ein Erraten, daß das Steingemäuer der Mutter Erde ihm nur taugt für Stunden. Die Himmel öffnen sich und Ewigkeiten gewinnen Raum und Zeit. Der Sohn der Erde erforscht das Reigenspiel der Mutter Ahnen. Und sein Geschlecht zieht auf der Sterne Bahnen* daß sich ihm endlich ganz enthüllen werde der Grund des Seins und aller Herrlichkeiten. Helga Neubert BEGEGNUNG Du stilltest nie mein Liebesliedverlangen; Du schriebst mir niemals ein Gedicht. Ich kannt’ den Frühlingsblütenpark schon lange. Doch deinen Namen wußt’ ich nicht. Ich buchstabierte ihn zum ersten Male In einem Zeitungsblatt, das nicht vergißt. Er stand als roter Obelisk im Saale, Wo ein getarnter Mörder Urteil spricht. Verbannt in eine ungreifbare Ferne War mir ein Mensch noch nie so nah Verbunden. Und behutsam lerne Ich, wie Großes auf der Welt geschah Nur um des einen Wortes Wirklichsein: Kämpfend für einander da zu sein. Rüdiger Bernhardt NEUBAUTEN Kräne, die himmelwärts stürzen, Wände, nicht Ziegel, nicht Stein; Tage, die Nächte verkürzen, können nicht lang genug sein. Meisel und Hämmer zerspringen, Himmel voll tragender Last, Flüche und manchmal ein Singen, Menschen mit Plänen und Hast. - e Kinder mhit lachenden Lippen, dämmerndes Grün der Alleen, schwebende Schaukeln und Wippen ich dort träume und seh. Horst Fischer BEGEGNUNG Deutsches Turn- und Sportfest Leipzig 1963 Mir schien der weite Stadionbogen Ein mächt'ger Kelch, daraus ich trank. Tief hab’ die Luft ich eingesogen Und brachte stumm euch meinen Dank. Als Beifall klang mit vollen Tönen, Könnt' ich nicht gleich zu Dank euch sein, Denn Zeit brauch ich, eh mir zum Schönen Als Blinden sich die Bilder reih’n. Von eurem Turnen hört’ ich sagen Die liebe Frau, und mir entsprang In meinen Sinnen übertragen Ein Bild so schön und währt nur» lang. Auf der Traverse luft’gem Rande Stand ich und hörte die Schalmei’n - Ich trank die Luft, die mir bekannte Noch inniger, wie guten Wein.