Volltext Seite (XML)
„Ein Jahr wird vergehen oder etwas mehr, dann wird so eine Hand wie die Ihre diese ganze schreckliche Naturkraft spielend lenken. Sie brauchen mir jetzt nicht zu glauben; ich möchte nur, daß Sie das heutige Gewitter und unser Gespräch im Gedächtnis behalten." Das sagt der junge, doch schon profilierte Physiker Tulin der Studentin Shenja. Doch es ist nicht einfach, unerbittlicher Wahrheitssucher, echter Wissenschaftler zu sein. Gedankenkühnheit und selbstlose Bewäl tigung aller Mühsale des wissenschaftlichen Erkenntnisprozesses allein reichen dazu nicht aus. DANIIL GRANIN: DEM GEWITTER ENTGEGEN t 8 ' ' i ■ ■ , . . . . , .• ■ • Eine „Schlacht unterwegs" in der Wissenschaft: im hartnäckigen Ringen so wjetischer Physiker um die Geheimnisse der atmosphärischen Elektrizität und im Widerstreit gegen Abenteurertum und kurzsichtiges Nützlichkeitsstreben, Au toritätsglauben und Konservatismus bewähren sich die ethischen Normen des Wissenschaftlers der neuen Gesellschaft. Von Tulins Selbstvertrauen, seiner mutigen Entschlossenheit und seinem Spott über duck mäuserische Trägheit im Denken und Handeln bleibt nichts übrig, als es nach dem Absturz eines Forschungsflugzeuges gilt, durch den Ein satz der ganzen Persönlichkeit die Fortsetzung der Forschungen in den Gewitterwolken zu er wirken und das trotz aller Fehler Erreichte zu behaupten. Denn dazu wäre es nötig gewesen, gegen anerkannte Autoritäten aufzutreten und vielleicht vorübergehend persönliche Un annehmlichkeiten in Kauf zu nehmen. Während Tulin nahe dem Ziel sein eigenes Programm aufgibt, leichtere Wege zum Erfolg sucht, da ihm persönlicher wissenschaftlicher Erfolg mehr bedeutet als die Verteidigung der Wahrheit, beweist sein Mitarbeiter Krylow an diesem entscheidenden Punkt seine moralische Über legenheit und kann schließlich auch die Fort setzung der Arbeiten durchsetzen. Krylow, im Gegensatz zu Tulin schon seit der Studienzeit niemals bereit, um der persön lichen Karriere willen unlautere Kompromisse einzugehen und den leichteren Weg zu wäh len, findet Helfer, Tulin nicht. „Helfen muß man den Stärkeren. Den Schwachen zu helfen, hat keinen Sinn", antwortet ihm Bogdanowski, der Chef der entscheidenden Verwaltung, auf die Frage, warum er nicht sofort nach der Ha varie Tulin zu Hilfe gekommen sei. Der Leiter der Untersuchungskommission aber hatte den Abbruch der Forschungsarbeiten in seiner Be richterstattung beim Minister u. a. damit be gründen können, daß Tulin selbst verzichtet habe. ’ Krylow findet Unterstützung und siegt, weil er als ein treuer Schüler seiner großen Lehrer handelt, denen die wissenschaftliche Wahrheit über alles geht und die sich unerbittlich für diese Wahrheit einsetzen: Anikejew, einst führend beteiligt an der Ent wicklung der Atombombe, widersetzte sich den schädlichen Eingriffen Berijas mit den Worten: ulch habe Ihre physikalischen Arbeiten nicht gelesen. Und Sie meine auch nicht. Jedoch aus verschiedenen Gründen." Er wurde von den Ar beiten ausgeschlossen und wirkte illegal an dem Abschluß der Forschungen mit. - Danke- witsch verteidigt die Grundlagenforschung ge gen einen platten Utilitarismus, auch auf die Gefahr hin, daß man ihm vorwirft, er betreibe die Wissenschaft als Selbstzweck und habe sich vom Leben gelöst. Er bekämpft entschlos sen einen solchen Phantasten wie den in der Öffentlichkeit gefeierten Denissow, bei dem sich scheinbar alle Probleme mühelos lösen. („Ein Gewitter wird auf Ersuchen des Volksbil- dung/amtes demonstriert“), während Tulin die ser Auseinandersetzung unter Vorwänden aus weicht („Dankewitsch ist Akademiemitglied, und wer bin ich?“). Dabei lebt Tulin nicht mehr unter den Be dingungen des Personenkults, wo es in der Tat etwas bedeutete, auf der Wahrheit zu beharren, unter jenen Bedingungen, die einen so nam haften Gelehrten wie Golizyn beugten, der sich angesichts der Veränderungen nach dem XX. Parteitag noch nicht aufzurichten ver mochte, weil sich die Furcht in ihm eingefres sen hatte, die Furcht vor Verallgemeinerungen und kühnen Ideen. Golizyn stand dem stürmi schen und natürlich manchmal auch über schäumenden Drängen seiner jüngeren Mit arbeiter fremd gegenüber wie sie seiner un nützen Gewissenhaftigkeit, dem Wühlen in Nichtigkeiten. Er hatte in einer'Zeit gearbei tet, da der Ausgang wissenschaftlicher Diskus sionen durch Anweisungen festgelegt wurde und hatte in der Angst gelebt, bei Äußerung einer eigenen Meinung des Idealismus be schuldigt zu werden. Erst die Beharrlichkeit und der Erfolg Krylows vermag ihn aufzurich ten, er erkennt die Unfruchtbarkeit seiner Ar beit und begreift, warum ihm im Gegensatz zu Anikejew und Dankewitsch keine begeisterten Schüler folgen. Was dieses Buch auch für uns so wertvoll macht, ist der Umstand, daß es nicht schlecht hin die Überwindung der Folgen des Perso nenkults in der Wissenschaft behandelt, son dern darüber hinaus das moralische Antlitz des sozialistischen und kommunistischen Wissen schaftlers, den Prozeß seiner Herausbildung zeichnet, jenen Prozeß, der in der Periode des Personenkults nicht völlig zu unterdrücken war und der sich unter den neuen Bedingungen kraftvoll entwickelt. Als Tulin Krylow fragt, welchen Sinn es habe, mit offenem Visier zu kämpfen, gut zu sein, wenn man dabei nur den kürzeren zieht, ant wortet ihm dieser darauf: „Wenn ich selber eine Gemeinheit begehe, kann ich ja nicht mehr gegen die Schurken kämpfen, sondern höchstens noch für ein Plätzchen in ihrer Mitte streiten." Aufrecht für die Wahrheit zu streiten ist aber ein ethisches Grundprinzip des sozia listischen Wissenschaftlers. Der Autor macht es den Lesern nicht leicht, Er vereinfacht die Problematik nicht, und seine Schreibweise ist in höchstem Maße geeignet, zu eigener Urteilsbildung anzuregen. Lesen Sie dieses Buch und schreiben Sie uns Ihre Gedanken dazu. Günter Lippold Universitätszeitung, Nr. 1]2, 9. 1. 1964, S. 4 Soeben erschien der neueste Roman des Autors der „Bahnbrecher“ im Verlag Kultur und Fortschritt, Berlin, 415 Seiten, Preis 7,20 DM. Kurz vor Abschluß des dritten Studien jahres war Sergej Krylow exmatrikuliert worden. In der Verfügung hieß es: ..Wegen ständigen Versäumens von Vorlesungen“. Das Rektorat hatte ursprünglich noch schärfer formuliert: „Wegen unwürdigen Verhaltens“. Danach war die Formulierung auf Betreiben Tulins gemildert worden. In den Optikvorlesungeh pflegte Krylow die Decke anzustarren r schrieb nichts mit, sondern blickte nach oben, wo sich das Sonnengeflirr des Laubes wider spiegelte. Der Dozent unterbrach seine Vor lesung und fragte, ob er Krylow störe. Krylow erhob sich und verneinte. Das Auditorium lachte schallend. Die Vor lesung war langweilig und die. fünfzig Hörer freuten sich, etwas zu lachen zu haben. Wäre der Dozent ein wenig , er fahrener gewesen, hätte er mitgelacht, doch dieser lief rot .an, schlug mit der Hand aufs Katheder und sagte, wenn Kry low den Stoff bereits kenne, brauche er nicht in der Vorlesung zu sitzen. Krylow nahm seine Worte für bare Münze. Er überlegte einen Augenblick und sagte dann, er sei wirklich nicht an der Vorlesung interessiert, da der ganze Stoff genauso im Lehrbuch stehe; es sei ein facher. das Buch durchzuarbeiten und da nach die Prüfung zu machen. 1 „Na schön, probieren Sie’s“, sagte der Dozent. Fortan besuchte Krylow diese Vorlesung nicht mehr, sondern ging zu. den Mathe matikern und hörte dort Vorlesungen über Wahrscheinlichkeitsrechnung. Er wurde mehrmals verwarnt, aber jedesmal blickte er mit seinen hellblauen Augen erstaunt drein — warum denn nicht? Seine Naivität wirkte wie Hohn und konnte einen zur Raserei bringen. Einen Monat darauf wurde er exmatrikuliert. Oleg Tulin, damals .Komsomolsekretär der Fakultät, versuchte Krylow zu über reden, beim Dekan vorzusprechen und Besserung zu geloben: er war bereit, mit ihm zu gehen. Krylow weigerte sich. Die Exmatrikulation ließ ihn gleichgültig. Nur Tulin gegenüber empfand er Unbehagen. Es war jetzt, nach so vielen Jahren, schwer, sich zu erinnern, wie ihre Freund schaft zustande gekommen war. Von Kry- lows Seite aus hatte das mit Verehrung von Tulins Begabung angefangen und bei diesem aus dem Bedürfnis heraus, zu be treuen. zu helfen und vielleicht auch Ob jekt der Verehrung zu sein. Außerdem besaß keiner von beiden einen Bruder. Im zweiten Studienjahr hatten sie ge meinsam Laborversuche über elektrische Entladung angestellt. . „Laß uns die Elektroden winkelförmig anordnen“, schlug Tulin vor. Es war ihnen zu langweilig, das gleiche zu tun, was an den Nebentischen gemacht wurde und was hier jahraus, jahrein Gene rationen von Studenten des zweiten Stu dienjahres machten. Sie tauchten die Elektroden in Tinte und stellten sie schräg zueinander. Die Ergebnisse waren merk würdig und stimmten nicht mit der For mel überein. Der Dozent sagte, in solchen Fällen stimme die Formel offensichtlich nicht. Für ihn war das nichts Besonderes, doch Krylow und Tulin waren erschüttert. Zum ersten Mal sahen sie sich der Tat sache gegenüber, daß eine Formel, die im Buch stand, ungenau war. Als der weitere Verlauf der Arbeiten der Gruppe Dankewitsch im wissenschaft- lichen Beirat erörtert wurde,’ waren die Mitglieder der Kommission, ein blutjunger Journalist, irgendwelche Vertreter und an dere Neugierige anwesend. Die Sitzung wurde völlig demokratisch abgehaiten: dennoch empörte sich Dan und forderte die Entfernung derjenigen, die dort nichts zu suchen hatten. „Wir sind kein Zirkus“ — das klang schön beleidigend. Durch seine übertriebene Schroffheit brachte er selbst die Neutralen gegen sich auf. Er verhehlte nicht die ungünstigen Resul tate und nahm alle Schuld 'auf sich. Auf die Frage nach wenigstens annähernden Terminen für die Arbeiten verweigerte er 'zunächst die Antwort, dann machte er sich auf verletzende Weise über die Fra ger lustig: Nach Dutzenden von Jahren oder schon morgen, aber vielleicht werde er es überhaupt nicht mehr erleben, was ihn jedoch nicht im geringsten beunruhige, denn er sei überzeugt, zu jenem Zeit punkt würden auch die Mitglieder der Kommission begriffen haben, daß nur für den heutigen Tag zu arbeiten und risiko reichen Forschungen, die sich vielleicht Dutzende von Jahren hinzögen, aus dem Wege zu gehen der reinste Raubbau sei. Bei einer derartigen Einstellung könne man keine Ziolkowskis erwarten. Wir seien stark genug, um an die Zukunft zu denken. Auf die Fragen nach der praktischen Bedeutung der Forschungen erklärte er, das Thema biete keine nutzbringenden Anwendungsmöglichkeiten. Das stimmte * nicht. Man hätte die Untersuchungen un ter Wahrung maximaler Korrektheit sehr gut mit der Rundfunktechnik und der Na vigation verknüpfen, hätte auf den Wert der Theorie, sagen wir für eben jene at mosphärische Elektrizität hinweisen kön nen. Doch Dankewitsch ging blindlings drauf los, ohne die gestellten Fallen zu be merken; vielleicht bemerkte er sie auch, wollte sich aber nicht so weit herablassen, bei diesem Streit mitzumachen. „Was für einen Sinn haben Ihre Unter ¬ suchungen?“ fragte der Journalist und schwenkte seinen protzigen weißen Füller. „Wir suchen wissenschaftliche Ergebnisse zu erzielen.“' „Was hat unsere Technik davon?“ „Nichts, absolut nichts“, erwiderte Dan kewitsch. „Sie wollen wahrscheinlich hören, daß wir den Schmelzprozeß des Gußeisens beschleunigt haben, aber damit befassen wir uns nicht. Es ist einfach ein interes santes Problem. Interessant, und nichts weiter.“ r In letzter Zeit war Dan noch stärker ab gemagert. er bestand nur noch aus Haut und Knochen. „Nicht Körperbau, sondern Körperalbau", wie Poltawski zu sagen pflegte. Dan bekam oft Herzanfälle; er ärgerte sich weniger über die Mißerfolge als vielmehr darüber, daß man ihn von der Arbeit abhielt. Den mächtigen Schä- del mit dem weiß gewordenen Haar em porgerichtet, schnaubte er ungeduldig und verächtlich und erinnerte an einen in die Enge getriebenen Hirsch, stark und gleich zeitig hilflos, wie ein geharnischter Ritter vor einem Maschinengewehr. Der Journalist schrieb in seinem großen Notizbuch munter drauf los. „Sie verneinen die Notwendigkeit einer engen Verflechtung von Wissenschaft und Technik? Sie sind für eine abstrakte, reine Wissenschaft? .Was wollen Sie denn er reichen?“ „Ich weiß es nicht“, erwiderte Danke witsch. „Wenn ein Forscher jedesmal ge nau wüßte, was er erreichen will, würden wir nie etwas Neues entdecken.“ Da hielt Krylow es nicht mehr aus, schrie: „Richtig!“ und klatschte Beifall, weshalb man ihn beinahe von der Bera tung ausschloß./ Golizyn schlug sein Manuskript auf und las laut den Schlußteil seiner Analyse vor. Existieren etwa ... Wie ist zu verstehen ... Es ist unklar, was gemeint ist... Genügt es denn... Krylow besann sich, machte Einwände und versuchte zu begreifen, doch das war schon Agonie. Golizyn aber las und las und entwickelte Varianten, für deren Wider legung Jahrzehnte nötig gewesen wären. Für Krylow war das immer noch seine Arbeit, für Golizyn und die anderen jedoch ein Leichnam, und Golizyn führte seine Obduktion durch, um sich von der Richtig keit seiner Diagnose zu überzeugen. Krylow trat zu Oleg — jetzt waren sie nur noch zwei gegen alle — und rüttelte ihn an der Schulter. Doch Tulin rührte sich nicht. Seine Schulter war nachgiebig wie Watte. Krylow stand hinter seinem Stuhl; von hinten war Tulin ganz der alte: bis in den Nacken reichendes, goldblondes Haar und steifer, weißer Hemdkragen. Von vorn aber hatte er sich sehr verändert Oder war gealtert. Aber das war wohl ein und dasselbe. Man verändert sich immer zum Alter hin. „Wir brauchen Zeit, um uns damit aus einanderzusetzen“, sagte Krylow. „Wir werden eine Antwort vorbereiten. Ich bin überzeugt, daß wir., „Wer ist wir’?" fragte Lagunow. „Tulin, ich, unsere Gruppe.“ „Wie kommen Sie dazu, für alle zu ant worten? Die Gruppe hat einen Leiter. Darf ich bitten. Oleg Nikolajewitsch.“ Tulin drückte die Zigarette im Asch becher aus. „Arkadi Borissowitschs Einwände sind sehr ernst. Einiges läßt sich bestreiten, aber am Wesentlichen ändert das nichts. Man muß den Mut haben, dem ins Auge zu sehen,“ Er sprach gelassen und mit leiser, deutlicher Stimme, wie von etwas Neben sächlichem, das längst klar ist. , „Was sagst du da!“ Krylow konnte sich nicht beherrschen. „Wem ins Auge sehen? Im Gegenteil, hier muß man suchen. Das sind doch nicht nur Fehler.“ Er stürzte auf Golizyn zu. „Das sind Widersprüche. Wir müssen die Erklärungen dafür finden. In ihnen liegt das Wesentliche des Prozesses. Ich bin überzeugt..." „Serjosha!" Tulin sagte es geduldig; so entschuldigt sich ein Vater für die Unver nünftigkeit seines Kindes. „Wir haben kein Recht, auf unserem Standpunkt zu behar ren. Weder ein wissenschaftliches noch ein moralisches. Wer seine Fehler zu verbergen 'sucht, will neue begehen. Aber ich will nicht.“ „Das ist ehrlich und vernünftig“, entgeg nete Lagunow beinahe freudig. Er strebte sein Ziel in der glücklichen Überzeugung an, daß das, was er tat, weit wichtiger und notwendiger war als alles, womit sich Kry low, Tulin und die anderen bisher beschäf tigt hatten. Rot angelaufen, starrte Krylow auf Tulins von Metallkronen blitzenden Mund. Bist selber schuld, sagte er sich. Hättest seinerzeit auf deiner Meinung bestehen und Oleg von der Jagd nach Ergebnissen um jeden Preis zurückhalten sollen. Du hättest auf das hinarbeiten sollen, was du für notwendig hieltest. An allem bist du selber schuld. Jedes Unglück läßt sich er tragen, aber wenn man selber schuld ist, gibt es kein Ausweichen. Jetzt war er ganz allein. Wie Richard im Flugzeug. Wäre Richard noch am Leben, wären sie zu zweit. Doch dort, wo Richard stehen müßte, war es leer und kalt. „Ich fürchte. Sie überschätzen Ihre Rolle“, fuhr Lagunow liebenswürdig fort. „Wir können Oleg Nikolajewitschs Meinung schwerlich außer Betracht lassen."