Volltext Seite (XML)
^aquatica) in Nord-Minnesota bei den Ojibwa-Indianern an einem See namens Nett Lake auf einer völlig isolierten Reser vation finden würden. Furchtbar ist das Klima im Lande der Ojibwa, wo wir im Sommer 1947 eintrafen. Seit den großen französischen Entdeckern hat kaum ein Weißer den Mut aufgebracht, sich den Moskitoschwärmen der Reis sümpfe, den eine Blaseninfektion erzeu genden schwarzen Fliegen, der ewigen Po- liomyelitis-Gefahr und dem überreich dort vorkommenden „poisened ivy“, einer gifti gen Efeuart, zu nahen, die im feuchtheißen Tropenklima gedeihen. Auf der Hinreise besuchten wir den be rühmten Steinbruch des „heiligen“ Pfei fensteins, die nur Indianern zugänglichen Catlinit-Brüche, aus deren feuchtrotem Schiefer die Friedenspfeifen geschnitten werden. Dort hausen als Herren des Lan des die Dakota-Indianer, traditionelle Feinde der Ojibwa. Von ihnen reisten wir weiter zu den Ojibwa und nahmen dort unsere Notizen auf, photographierten mit Armen schwarz von Moskitos, wurden nachts im Gemeinschaftshaus den stamp fenden Rundtänzen eingegliedert, durften im Kanu aus Birkenrinde an der Reisernte teilnehmen ünd trugen endlich die Früchte unserer Arbeit nach New York zurück. Julius LIPS große populäre Kulturge schichte der Menschheit „Vom Ursprung der Dinge“ war inzwischen erschienen. Auch warteten Briefe in Menge. Manche aus Europa, Briefe mit Berufungsangeboten nach Köln, nach Nancy, nach Innsbruck und — nach Leipzig, der alten Alma mater. Im Oktober-1948 kreuzten wir zum ach ten Male den Atlantik, sahen die Küste Europas erscheinen und gingen von der „Batory" in Gdynia an Land. „Einmal muß die Emigration ein Ende haben“, schrieb Julius LIPS an seinen Freund Heinrich Mann, „meine ist beendet“. Er ging dar an, das mißbrauchte Leipziger Institut von den Nazischlacken zu reinigen. Mit dem Feuer seiner Begeisterung brei tete er vor seinen Studenten die Schätze seines Wissens aus, entflammte er die jun gen Menschen, die im Hörsaal vor ihm saßen, schuf neben dem völkerkundlichen Institut noch ein zweites für die Erfor schung des Rechts der Vorklassengesell schaft: das Institut für Vergleichende Rechtssoziologie, und stellte sich, den ihm wichtigen gesellschaftlichen Aufgaben zur Verfügung. Als man ihn, kaum ein Jahr nach seiner Rückkehr, zum Rektor der Universität wählte, erschrak er und gedachte seiner „armen Indianer“ (denn noch war die Reis ernte der Ojibwa nicht geschrieben und publiziert); aber er fühlte, daß man seiner Frische, seiner Erfahrung und seiner Kom- promißlosigkeit bedurfte, und so sagte er denn ja. Die große Freude seines Rektorats war die Verleihung der Ehrendoktorwürde an den geliebten Dichter Martin Ander- s e n N e x ö. wobei öffentlich Gefühle ausgetauscht wurden, wie sie sonst kaum bei offiziellen Gelegenheiten laut werden: und wo ein Bund innigster Freundschaft gegründet wurde, der bestehen blieb, über den Tod hinaus. Jähe Krankheit fällte ihn, der niemals krank gewesen war, wie einen Baum, den der Sturm für reif erachtet, innerhalb von dreizehn Tagen. Er starb im Alter von vierundfünfzig Jahren, am 21. Januar 1950. Wer ihn kannte, wird ihn nie vergessen. Wenn Julius LIPS einen Raum betrat - immer wieder ist dies von seinen Freun den und selbst von ihm nur flüchtig Be kannten festgestellt worden — empfing jeder Anwesende den Eindruck einer Frei heit und Frische, wie man ihnen in diesem Jahrhundert nur selten in einem Menschen begegnet. In Paris, in London und New York, in den Palmblätterzelten afrikani scher Nomaden und auf den Indianerjagd gründen der kanadischen Subarktis fragten Fremde, die seiner ansichtig wurden: „Wer ist das?“ — instinktiv von seinem Magne tismus angezogen. Er selber war unbewußt dieser spontanen Wirkung seines Wesens. Groß genug von Seele, um ohne Pose leben zu können, war er vollkommen natürlich, ohne Komplexe, ohne Klischees. Die scharfe Analyse der Umwelt, durch die er an seine Wissen schaft gewöhnt war, merkte man ihm nicht an. Er nutzte seine Erkenntnisse nur aus, wenn er sich anschickte, das Beobachtete zu formen. Sein Schweigen bei Sitzungen und Diskussionen war bekannt — am Schlüsse stundenlanger Deduktionen an derer pflegte er in einem Satze kurz das Wesentliche zusammenzufassen, die Gegen sätze zu glätten, das Konstruktive nutzbar zu machen und das Unbrauchbare fallen zu lassen. Unmerkbar fast tat er das. Und immer geschah es, daß in seiner Gegen wart die Schüchternen ihre Hemmungen verloren und frei aus ihrem Herzen heraus redeten und daß die Nachlässigen und Sa loppen sich plötzlich zusammennahmen und ihre Gedanken ordneten, ehe sie zu ihm sprachen. Vertrauen flößte er den Beschei denen ein und Distanz den Undiszipli nierten. Nie habe ich einen anderen Mann ge troffen, der mit den Menschen jeglicher Herkunft, aller Alter und aller Bildungs stufen so brüderlich umgehen konnte, wie er. Am schönsten offenbarte sich sein Cha rakter in der Art. wie er mit den Menschen der Wildnisse verkehrte oder mit Fenster putzern aus Harlem und mit chinesischen Wäschemännern, die seinen Rat erfuhren und seine Hilfe. Den Mächtigen dieser Welt trat er unbe wegt entgegen — beeindruckt nur vom Grad der Wahrhaftigkeit, den er in einem