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Porträt 9. März 1979 UZ/10 „Wenn wir sie nicht hätten, brauchten wir einen Direktor" Erika Johannsen - porträtiert von Prof. Dr. sc. Gottfried Uhlig E s war ein reiner Zufall, daß wir unsere Tätigkeit an der Leipziger Universität gleichzeitig begannen. Erika Johannsen arbeitete seit dem 1. August 1952 als Reinigungskraft im Gebäude Scharnhorststraße 20, das damals zur Pädagogischen Fa kultät gehörte, und ich trat an die sem Tag meinen Dienst als wissen schaftlicher Assistent an, nur we nige Straßen weiter in der Gustav- Freytag-Straße 42, dem traditions reichen Hauptgebäude dieser Fakul tät. Kaum vier Wochen später lern ten wir uns persönlich kennen. Die Sekretärin unserer Abteilung Ge schichte der Erziehung fiel plötzlich aus, und die „neue“ Reinigungsfrau sprang als Aushilfe ein. Das war nun kein Zufall. Erika Johannsen, damals immerhin schon 42 Jahre alt, hatte ihr Berufsleben als Konto ristin begonnen. Aber das war vor 1939 gewesen. Dann kam der Krieg, Erika Johannsen heiratete, ihr Sohn Klaus wurde geboren, der Mann kehrte nicht aus dem Krieg zu rück ... „Das wird einmal meine Nachfolgerin!" Als Erika Johannsen neu be ginnen wollte, glaubte sie der Büro arbeit nicht mehr recht gewachsen zu sein, deshalb der Anfang als Rei nigungskraft. So wurde gleich am Anfang ihrer Tätigkeit an unserer Universität einer ihrer hervorste chenden Charakterzüge sichtbar — ihre Bescheidenheit, die sie mitunter ihre Fähigkeiten ein wenig unter- schätzen läßt. Weil wir damals Erika Johannsen noch nicht näher kannten, waren wir überrascht, wie schnell sie sich als Schreibkraft einarbeitete, wie ruhig und zuverlässig sie alle Ar beiten erledigte. Eine allerdings er kannte mit sicherem Blick, was für ein Mensch hier unscheinbar unter uns aufgetaucht war: Genossin Jo hanna Doser, damals die versierte Verwaltungsleiterin der Pädagogi schen Fakultät, holte Erika Johann sen ab 16. Oktober 1952 als Steno typistin in das Dekanat. Irgendwann im Jahre 1953 hörte ich einmal et was erstaunt und ungläubig zu, als mir Johanna Doser resolut erklärte: „Das wird einmal meine Nach folgerin.“ Und in der Tat übernahm Erika Johannsen ohne viel Aufhebens eine Aufgabe nach der anderen, so daß es uns allen im September 1955, als die Pädagogische Fakultät . in das Institut für Pädagogik umgewandelt wurde und Johanna Doser das klei ner gewordene Wirkungsfeld ver ließ, schon recht selbstverständlich erschien, daß Erika Johannsen die Funktion der Sekretärin des Insti tutsdirektors übernahm. Auch in diesem Falle wuchs Erika Johannsen mit der neuen Aufgabe und den Jahren ihrer Tätigkeit. Als 1969 die Sektion Pädagogik/Psycho- logie gebildet wurde — ein Jahr, bevor Erika Johannsen das Renten alter erreichte —, gab es keine än dere Kandidatin als sie für die Funk tion der Sekretärin des Sektions direktors. 1975, als diese Sektion ge teilt wurde, hielt sie den Pädagogen die Treue und blieb Sekretärin des Direktors. Ohne Schwanken an der Seite der Genossen Vielfach wurde sie seit 1955 aus gezeichnet, mit Prämien, Urkunden, Auslandsreisen, zweimal mit der „Medaille für ausgezeichnete Lei stungen“, mit dem Titel „Aktivist der sozialistischen Arbeit“. Aber das vermittelt nur eine schwache Vor stellung von der Leistung, die Erika Johannsen vollbracht hat und täg lich neu vollbringt. Nur wer weiß, welches Arbeitspensum die Sekretä rin eines Sektions- oder Instituts direktors tatgtäglich zu bewältigen hat, der kann ermessen, was es heißt, diese Funktion seit 23 Jahren auszu füllen. Die Leitungstätigkeit eines Sektions-, oder Institutsdirektors ist in hohem Maße auf das Verantwor tungsbewußtsein und die Umsicht seiner Sekretärin angewiesen. Sie hat großen Einfluß darauf, ob die Arbeit im jeweiligen Kollektiv „läuft“. Für Erika Johannsen. gilt das in besonderem Maße. Zweimal hatte ich die Gelegen heit, besonders eng mit ihr zusam menzuarbeiten: 1963 bis 67 als In stitutsdirektor und seit 1976 als Sek tionsdirektor. Stets war und ist sie mir wie allen meinen Amtsvorgän gern, Gedächtnis, mahnendes Ge wissen, helfende Hand und oft auch kluger Ratgeber. Vier Dinge sind es, die ich neben ihrer Bescheidenheit besonders schätze und die ihre Per sönlichkeit bestimmen: ihre Energie, ihre Zuverlässigkeit, ihre Einsatz bereitschaft und ihre politische Reife. Viele der Jahre ihrer Tätig keit an der Karl-Marx-Universität waren Zeiten harter Klassenkämpfe und bewegten politischen Gesche hens. Immer stand Erika Johannsen ohne Schwanken an der Seite der Genossen, und noch heute erfaßt sie die politische Bedeutung von Leitungsentscheidungen mitunter schneller und klarer als mancher Genosse Wissenschaftler. Untätig sein ist für sie nicht vorstellbar Eine Unpünktlichkeit Erika Jo hannsens wäre’geradezu sensationell, und ihre Arbeitszeit nutzt sie vor bildlich. In den mehr als zweiein halb Jahrzehnten ihrer Tätigkeit an der Universität war sie selten krank — und „krankmachen“ gibt es bei ihr nicht. Dafür gehört sie zu jenen Mitarbeitern, die man ab und zu mit Nachdruck nach Hause schik- ken muß, weil , sie nichts unerledigt lassen möchten. Mit der Zeit wurde ihr Haar grau, aber an ihrer Ar beitshaltung hat sich nichts ge ändert. Manchmal werde ich den Verdacht .nicht los, daß ihr das alles durchaus nicht so leicht fällt, wie es scheinen möchte, aber sie läßt sich das nicht merken. Auch wenn sie die Familie ihres Sohnes besucht, der seit langem als Offizier unserer NVA seinen Dienst tut, scheint sie mehr ihre beiden Enkel und den Haushalt zu betreuen als Urlaub zu machen. Man kann sie sich einfach nicht untätig vor stellen, und ■ den Gedanken an eine Nachfolgerin in der Sektion weist sie von sich. Natürlich hat eine solche erstaun liche Frau nicht immer nur Freunde. Gegen Unpünktlichkeit, Vergeßlich keit, Terminüberschreitungen, Be quemlichkeit und Eigenmächtigkei ten kann sie sehr unduldsam sein. Doch das wird respektiert, weil sie, die in wenigen Tagen ihren 69. Ge burtstag feiert, sich selbst der gleichen nie erlaubt. Nichts wäre jedoch falscher, als wenn man sich Erika Johannsen als eine verbissen arbeitende oder gar hektisch aufgeregte Sekretärin vor stellen wollte. Sie lacht gern und macht jeden Spaß bereitwillig mit. Es muß ziemlich dick kommen, wenn es ihr die gute Laune ver derben soll. Auch das gehört, so scheint mir, ganz wesentlich zu einer guten Sekretärin. Nicht schlechthin übt sie Funktionen aus Das Bild, das hier von Erika Jo hannsen zu zeichnen ist, wäre un vollständig, wollte man eine sehr wichtige Tatsache unerwähnt lassen. Seit 1954 — das ist kein Schreib fehler — gehört sie der Gewerk schaftsleitung unseres Instituts und später unserer Sektion an. Niemand hat gezählt — sie selbst am wenig sten - an wievielen Sitzungen sie in all den Jahren teilgenommen hat und wieviele Stunden Freizeit sie opferte, um für ihre Kollegen tätig zu sein. Kaum ein anderes Mitglied der Sektion kennt die Sorgen und Nöte der Mitarbeiter so genau wie sie, kaum ein anderer hat so viel geholfen, oft unaufällig und ohne daß der Betroffene davon erfuhr. Man muß miterlebt haben, wie sie in den fünfziger und sechziger Jah ren die Weihnachtsfeiern für die Kinder der Institutsangehörigen all jährlich vorbereitete, um ganz zu verstehen, daß es ihr bei ihrer Tä tigkeit' in der Gewerkschaft nicht schlechthin um die Ausübung einer Funktion geht. Das ist auch der Grund, weshalb ihre Kollegen ihr seit Jahrzehnten immer wieder das Vertrauen aus sprechen. Übrigens würde es sich lohnen, einmal zu prüfen, ob an der Karl-Marx-Universität noch Kolle gen arbeiten, die längere Zeit als Erika Johannsen als Gewerkschafts funktionär ununterbrochen tätig sind. Irgendwann zu Beginn der sechzi ger Jahre prägte jemand das Scherz wort: „Wenn wir Erika Johannsen nicht hätten, würden wir einen Di rektor brauchen.“ Zu ihrem Ärger wird es seitdem immer wieder zitiert. Es liegt eine Portion Kritik am Direktor in die sem Satz, aber eine ganze Menge Lob für Erika Johannsen. W as meinst du, ist wichtig, um eine gute Ärztin zu werden? Heidrun Rudolph, Medizinstu dentin im zweiten Studienjahr, hatte nicht gleich eine fertige Antwort parat. Und das ist gut so. Wir be gannen gemeinsam zu überlegen. Schwer war es nicht, mit ihr ins Gespräch zu kommen. Aufgeschlos sen und bereitwillig antwortete sie auf meine Fragen. Schweiften wir etwas vom Thema ab, steckte mich ihre Fröhlichkeit an. „Um Ärztin zu werden, muß man sehr fleißig sein?!“ Sie nickte nur dazu. Ihr Abitur hatte Heidrun vor drei Jahren an der EOS „Karl Marx“ hier in Leip zig mit „Auszeichnung“ bestanden. Ein günstiger Start, sich um ein Studium zu bewerben. Auch ihre jetzigen Leistungen sind gut. „Man muß sehr viel lernen, auch aus wendig, das gehört nun einmal zu unserem Studium.“ Bis Mitternacht über den Büchern zu sitzen, ist oft notwendig dabei. Weit wichtiger als der Fleiß er scheint mir jedoch ihre Zielstrebig keit. Schon von der fünften Klasse an wollte Heidrun Ärztin werden. Nun gut, wird da mancher ein wenden, aber in dem Alter, wer wollte da nicht Arzt, Kapitän, Leh rer oder Lokomotivführer werden! Das waren doch nun mal diese „Traumberufe“. Heidrun hat aber bewiesen, daß sie es ernst meinte. Ihre Eltern haben ihr jedenfalls nie ‘reingeredet. „Du mußt selbst wissen, was du willst, Mädchen“, sagten sie vertrauensvoll zu ihrer Tochter. So arbeitete sie in den Fe rien schon als Schülerin der 11. Klasse in der Kinderklinik. Sie wollte damals unbedingt wissen, ob ihr Interesse nach diesen Wochen in der Leipziger Oststraße noch weiter besteht, ob die Vorstellungen von den Anforderungen mit der Wirk lichkeit übereinstimmen, ob sie es überhaupt verkraftet, täglich Kran ken Mut zu machen, Kinder zu um sorgen. — Heidrun arbeitete auch im folgenden Jahr wieder dort. „Eine Kinderstation, das ist eine ganz besondere Aufgabe. Die Kinder sind trotz Krankheit so lebhaft und fröhlich. Sie finden sich nicht mit ihrem Leiden ab. Und das ist wich tig. um schnell wieder gesund zu werden.“ Ihre erste Bewährungsprobe für den zukünftigen Beruf hatte Heidrun also bestanden — und bewarb sich nun für das Studium. Nach dem Warum Heidi eine gute Ärztin werden kann Abitur absolvierte sie ein Kranken pflegepraktikum. Auf einem Dorf arbeitete sie in einer Zweigstelle der Kinderklinik in der Inneren Ab teilung ein halbes Jahr lang außer halb Leipzigs. Danach folgte in der Zweigstelle der Klinik für Kinder chirurgie Theresienstraße das wei tere Praktikum. Was sie in dieser Zeit lernte, waren nicht nur prak tische medizinische Handgriffe. „Hier mußte ich mein Ideal von diesem Beruf korrigieren, es nahm konkrete Formen an“, meinte sie. Die Ärzte und vor allem Schwestern hatten noch nicht so richtig Ver trauen zu den „Anfängern“. Um je den kleinen Schritt mußten sie da mals kämpfen, man wollte sie z. B. nicht mit in den Operationssaal nehmen. Aber wie sollte sie so ler nen? Schließlich suchten sie Unter stützung bei den jungen Ärzten und führten mit dem leitenden Arzt eine Aussprache. Von nun an ging es besser. „Während der Operationen bekamen wir viel erklärt.“ Das half uns sehr, vor allem aber erst einmal, sich zu überwinden, hinzusehen.“ „Das ist ganz wichtig für unseren Beruf“, meint Heidrun. Schwer war für sie wie für viele andere auch der Anfang in Anatomie. Aber sie über wand sich, versuchte nur daran zu denken, daß sie dabei lernen muß. „Man vergißt, wenn man sich zwingt, das Interessante bei den Sezier übungen zu sehen.“ Überwinden heißt aber für Heid run keinesfalls Abstumpfen. Denn das Wichtigste für sie ist, daß ihr Beruf ihr niemals zur Gewohnheit wird. Gerade als sie in der Kinder klinik gearbeitet hatte, wurde ihr das deutlich. Heidrun kann ver stehen, daß Ärzte, die schon jahre lang im Dienst sind, auch mit einer gewissen Routine arbeiten müssen. Aber sie weiß auch, daß es wichtig und notwendig ist, wenn man jedes mal aufs neue versucht, sich in den Patienten hineinzuversetzen. Heidrun Rudolph wurde mit der Kamera beobachtet von Lutz Wabnitz. . Was jedoch bei Heidrun trotz ih rer Feinfühligkeit keineswegs zu kurz kommt, ist Konsequenz; am richtigen Ort, zur richtigen Zeit. Das bewies sie auch, als es um ihre Aufnahme als Kandidat in die SED ging. In der Oberschule konnte man sie trotz ihrer Bitte noch nicht auf nehmen. Sie hatte sich jedoch ent schieden, noch einmal um Auf nahme zu bitten. Ihre Eltern sind beide Genossen, in Böhlitz-Ehren berg, wo sie wohnt, hat sie Vor bilder wie Irma Tuloweit, Genossen Roeder. Ihr Entschluß festigte sich besonders während des Praktikums in der Kinderklinik. Das ewige „all gemeine Gemecker“ einiger Schwe stern gefiel ihr nicht. So würde sich nie etwas ändern an ihrer schweren Arbeit. Seit Oktober ist sie Kandidat und wird sicher in diesem Jahr als Mitglied aufgenommen. Was will Heidrun noch, was liegt ihr am Herzen, wenn sie nicht stu diert, lernt, in der Klinik arbeitet? Da ist auch ihre Arbeit als Kul turfunktionär der Seminargruppe zu nennen. Das zweite Jahr engagiert sie sich schon auf diesem Posten. „Als Medizinstudent darf man nicht eipseitig sein. Gerade weil man so oft zu lernen hat, braucht man einen richtigen Ausgleich.“ Oft ist ihre Funktion kompliziert, denn es gibt da mitunter noch seltsame Ansich ten. Heidrun ärgert sich, wenn je mand lieber das Geld bezahlt, um seine Ruhe zu haben, aber dann doch nie eine Theaterkarte nutzt, das fordert Diskussionen heraus. Auf jeden Fall war es für sie eine Umstellung: Vorm Studium hatte sie ihre Freund® und ihre Freude im Singeklub in der Schule, den sie lei tete. Einige Bilder auf ihrem Schreibtisch, sorgfältig hinter Glas aufbewahrt, zeigen mir, wie schön diese Zeit für sie war. Und Kontakt hat sie heute noch zu einem großen Teil der Klasse. Sie machte auch in Böhlitz-Ehrenberg im Kabarett mit. Heidrun spielt gern Gitarre, beson ders lustige Lieder. Das paßt gut zu ihr. Wer nie richtig fröhlich sein kann, ich glaube, der kann auch nie echt traurig sein, der kann die Sor gen und Schmerzen anderer nicht so gut verstehen. Bei Heidrun wird das nie so sein. Da bin ich mir si cher. Und jetzt weiß ich auch, war um sie einmal eine gute Ärztin wer den kann. ’ Brigitte Teichert, FDJ-Redaktion