Volltext Seite (XML)
Beilage zur Weitzeritz-Zeilung Nr. 232 Freitag, am 4. Oktober 1929 95. Jahrgang Chronik des Tages. — Der Reichspräsident hat anläßlich des Ablebens Dr. Stresemanns seinen Landaufenthalt in Westpreutzen abge brochen und ist nach Berlin zurückgekehrt. — Aus Anlaß des HinschetdenS des ReichSautzenmini- sters Dr. Stresemann werden die Reichsbehörden bis ein schließlich Sonntag halbmast flaggen. — Das Reichskabinett hat das Staatsbegräbnis für Dr. Stresemann beschlossen. — Der Reichstag hat die Gesetze über die Reform der Arbeitslosenversicherung mit 238 gegen 15k Stimmen bet 40 Enthaltungen angenommen. — Der erkrankte Fraktionsvorsitzende der Deutschen Volkspartet, Dr. Scholz, mußte sich einer Magenopera tion unterziehen. — Die Gesamtzahl der Typhuserkrankungen im Stadt gebiet von Saarbrücken hat sich jetzt auf 40 erhöht. Die Kranken liegen im Bürgerhospital. — In Kopenhagen wurde im Staatlichen Kunstmuseum eine Albrecht Dürer-Ausstellung eröffnet, die von der die gegensettlge Kenntnis von dänischer und deutscher Kultur pflegenden Gesellschaft von 1916 veranstaltet wird. — Bei einem im Dorfe Tolen in der Näh« von Cala- rasi in Rumänien ausgebrochenen Mühlenbrand, der aus ein Brennstofflager Übergriff, sind drei Personen getötet und vier schwer verletzt worden. — Die Erzherzög« von Habsburg sind aus ihrem Bro- pagandaflug durch die europäischen Länder wohlbehalten wieder in Barcelona eingetroffen. , Stresemann s. A. S. Mitten aus der Arbeit, mitten aus ent scheidenden außen- und innenpolitischen Verhandlun gen heraus ist Reichsaußenminister Tr. Stresemann von dieser Erde abberufen worden. In einem Alter, in dem der Mann noch auf der Höhe des Lebens steht und er im allgemeinen noch Jahrzehnte des Schaffens vor sich hat. Es ist kein Zweifel, daß dieses Sterben in den Sielen alle aufs tiefste erschüttert. Stresemanns Ziel war die Wiederherstellung der deutschen Freiheit, die Befreiung des Rheinlandes von fremder Besatzung, die Beseitigung der Kontrollorgane, die der Tawesplan nach Deutschland gebracht hatte. Vielleicht hatte Stresemann seine Ziele noch weiter gesteckt, vielleicht hatte er den Willen, auch noch ent scheidende Schritte zur Verwirklichung des deutschen Revisionsprogramms zu unternehmen, weil es ohne die Durchsetzung dieses Programms keine wirkliche Frei heit geben kann. Tie Politik, die Stresemann zur Verwirk lichung des uns allen gemeinsamen Zieles verfolgte, hat nicht immer den Beifall aller Partei lager gefunden. Auch wir hätten wiederholt da ein Nein gewünscht» wo schließlich ein Kompromiß herauskam. Aber wir wissen auch, daß in der rauhen Wirklichkeit selbst das beste Streben nicht immer zum letzten Ziele führt, und wir erinnern uns auch des Wortes des Großen Fried rich, nach dem es das Unglück der Unglücklichen ist, daß sie sich selbst für ihr Unglück verantwortlich machen, daß sie Schuld suchen, wo es sich um Schicksal handelt. Stresemanns Arbeit im Auswärtigen Amt be gann mit der Liquidierung des Ruhrkampfes. Es gelang der deutschen Politik, das Ruhrgebiet, in dem das Herz der deutschen industriellen Produktion schlägt, von Frankreichs weißen und farbigen Kriegs scharen zu befreien, wenige Monate nach dem Besuch eines westfälischen Oberbürgermeisters in Berlin, der Stresemann besorgt fragte, ob er seinen Mitbürgern sagen dürfe, daß das Ruhrgebiet nicht dauernd besetzt bleiben werde. 1925 schloß Stresemann mit Frankreich, England, Italien und Belgien in Locarno den großen Sicher heitspakt. Tie Mächte garantierten sich ihren jetzigen Besitzstand, nachdem Deutschland mit dem Verzicht auf Elsaß-Lothringen ein Opfer von historischer Bedeu tung gebracht hatte. Die Rückwirkungen dieser Ver- träge hätten in der Räumung des Rheinlandes be stehen müssen. Laß es statt der Aufhebung des Be satzungsregimes nur zu Erleichterungen und teilweisen Truppenabrufen kam, hat Stresemanns Arbeit er schwert und die deutsch-französischen Beziehungen er heblich belastet. Trotzdem verfolgte Stresemann den einmal beschrittenen Weg beharrlich weiter, bis es Deutschland dann im Haag gelang — freilich unter materiellen Opsern — die Räumung zu erreichen und Verhandlungen über die Rückgabe des Saargebietes einzuleiten. , , Es liegt eine tiefe Tragik darin, daß Stresemann das Ziel, für das er lebte und temperamentvoll kämpfte: die Befreiung des Rheinlandes nicht mehr erleben wird. Ter Tod, der bereits seit Jahren in seinem Körper steckte, hat ihn in dem Augenblick auf die Bahre gestreckt, in dem er sein Wer! im Parlament verteidigen sollte. Mit dem Tode Stresemanns hat Deutschland aber nicht nur den Leiter seiner Außenpolitik verloren, sondern auch einen Mann, der auch aus die Gestaltung der Innenpolitik den größten Einfluß ausübte. Strese manns letzter Tag auf dieser Welt war dem Bemühen gewidmet, die Differenzen in der Frage der Reform Arbeitslosenversicherung zu beseitigen. Und als ihm das gelungen, als die Regierungskrise überwunden war, drückte man Stresemann die Augen zu. Tie Folgen, die das Ausscheiden Stresemanns aus t^r deutschen Volittk haben wird, sind noch nicht -u üblichen Und diese Folgen werden sich nicht nur auf die Auhenpolittk erstreckm, sie werden auch die dmtsche Innenpolitik beeinflussen. Stresemann war nicht nur Reichsaußenminister, er war auch Bartei- Pihver. GS liegt auf der Hand, daß die Muna der Füyrerfrage, vor die sich nun die Deutsche Völkspartei so völlig unerwartet gestellt sieht, sehr schwierig sein und tvelt über den Nahmen der Völkspartei hinaus von Bedeutung sein wird. Trauerglocken läuten durch Deutschland. Aufs > tiefste bewegt stehen wir alle an der Bahre Strese manns, dessen bewußt, daß Deutschland einen großen und tapferen Mann verlören hat. Auch wer die Klingen mit Stresemann gekreuzt hat, wird dem toten Staatsmann aus ehrlicher Ueberzeugung zuerkennen, daß er allezeit das Beste für sein Vaterland erstrebt, daß er immer mit reinen Händen und bis zur Aus- j zehrung seiner letzten Kräfte leidenschaftlich für Deutsch- j land und des Vaterlandes Größe gekämpft hat. Das ! Reichskabinett beklagt den Verlust seines größten Mannes. Als Vermächtnis Stresemanns wollen wir den Gedanken nehmen, den Stresemann so oft in seinen Reden entwickelt hat: Was edel und groß an Deutsch lands Vergangenheit war, das lieben wir; aber stir das gegenwärtige Deutschland mit seiner bitteren Not leben wir. .' ! Staatsbegräbnis für Stresemann Hindenburg unterbricht seinen Urlaub. — Trauersitzung des ReichSkabtnetts. - Berlin, 4. Oktober. Der plötzliche Tod des ReichSaußenministerS Dr. Stresemann, der am Tonuerstagfrüh gegen 3.S0 Uhr nach einem Schlaganfall eintrat, hat überall tiefstes Mitempfinden anSgelöst. Auf den Regierungsgebände« und ans den Gebäuden der fremden Missionen wehe« die Fahnen auf Halbmast. Reichspräsident von Hinden burg, der zur Erholung auf Gut Neudeck in West- Preußen weilte, unterbrach sofort seinen Urlaub und kehrte «ach Berlin zurück. Reichskabinett und Reichs tag versammelten sich zu Trauerfeiern, ferner gedachte« Fraktion und Borstand der Deutschen Bolkspartei ihres toten Führers. Miklas, sprach in einem Telegramm an Hindenburg das Beileid Teutsch-Oesterreichs aus. Weitere Bei leidstelegramme sandten der österreichische Bundes kanzler Schober, die Ministerpräsidenten der deutsche« Länder und die fremden Regierungen. Der französische Außenminister Bria«d drückte dem deutschen Botschafter vo« Hoesch sei« Beileid a«S, ferner sandte Briand ein Telegramm an Ara« Strese mann. Der englische Außenminister Henderkv«, der in Brighton dem Parteitag der Arbeiterpartei bei wohnte, fügte der Bekanntgabe der Rachricht vo« Tod« Stresemanns die Worte Hinz«: ,Me werden vir de« Mut und die Geduld vergessen, mit der Dr. Strese mann für den Eintritt Deutschlands i» de« Völker bund, für die Politik vo« Locarno u«d für die all gemeine Sache der Weltabrüftnng «nd der Zusammen arbeit zwischen den Nationen gearbeitet hat." Die De legierten erhoben sich z« Ehren Stresemanns vo» de« Plätzen. Wie Stresemann starb. Ein kurzer Todeskampf. — Die Familie am Sterbebett. Ueber die letzten Stunden des ReiWguheü- ministers Tr. Stresemann verlautet, daß der Minister, der am Mittwoch noch ausgedehnte Verhandlungen zm> Beseitigung der Differenzen in der Frage der Reform der Arbeitslosenversicherung geführt hatte, noch Mitt woch abend guter Dinge war. Etwa um 10 Uhr abend» wollte sich der Retchsaußenminister zur Ruhe bege ben, um für die Ministerpräsidenten-Konferenz am Don nerstag frisch und munter zu sein. Dr. Stresemann war gerade damit beschäftigt, sich die Zähne zu putzen, als sich sein Gesichtsausdruck Plötz lich verzerrte. Er ließ die Zahnbürste falle«, griff mit der Rechten in die Lust« machte einige »<veg««gch, versuchte zu sprechen, vermochte aber kaum zx lalle« und fiel röchelnd zurück. Tie Familienmitglieder riefen die Professoren Dr. Kraus und Dr. Zondeck ins Haus, die van-n einen Schlaganfall seststellten. Dr. Stresemann tag noch immer ohne Bewußtsein. Die linke Seit« war völlig gelähmt. Die Aerzte glaubten trotzdem, Stresemann noch retten zu können, gaben jedoch zu verstchen, daß Stresemann in diesem Falle zumindest dauern dem Siechtum verfallen sei. Sie ganze Nacht über lag Minister Dr. Strese mann röchelnd «nd bewußtlos im Bett. In de« Mor genstunden scheint ihn dann ei« «euer Schlaganfalt getroffen zu haben. Um 5.17 Uhr setzte der Todes- kampf ein, um 5,25 Uhr schloß Minister Stresemann seine Augen. Am Sterbebett weilten die Familienmit glieder «nd der Privatsekretär Stresemanns, Konsul Bernhard. Die Krankheit des Ministers. Reichsaußenminister Dr. Stresemann, der am 10. Mat seinen 51. Geburtstag feierte, litt seit Jahren m einem Nierenleiden, von dem er trotz aller sturen nicht genesen konnte. Verschlimmert wurde der Gesundheitszustand Stresemanns noch durch die autzer- srdentlichen Anspannungen seiner Kräfte durch die sechs jährige Ministertätigkeit. Um Weihnachten 1927 wurde Stresemanns Gesunoheit dann durch eine Lungenent- jündung aufs empfindlichste erschüttert; im Mai 1988 folgte eine neue schwer« Nierenerkrankung. Trauerfeier im Reichstag. Ter Bundespräsident Deut sch-Oesterreichs, . > Vizepräsident Esser, ! des erkrankten Präsidenten Loebe den Vorsitz führte, hielt namens des Reichstags die Ge- däcktnisreA Tie Abgeordneten erhoben sich von den PlW und hörten die Rede stehend an. Vizepräsident > Esser führte aus: Trauer erfüllt heute die Herzen des deutschen Bolles. Ein treuer Hüter seines Lebens« und Kampfeswillen ist in den Sielen aestorben, unser Gustav Stresemann, Reichs- i Minister des Auswärtigen. Der Deutsche ReichStaa trauert um eins seiner hervorraaendsten Mitglieder. Dr. Stress- Gedächtnisreden des Reichskanzlers und des Bizepräsi» , deuten des Reichstags. Ter Reichstag versammelte sich am Donnerstag zu einer Trauerfeier für den so plötzlich verstorbenen Reichsminister des Auswärtigen Dr. Stresemann. Die Mitglieder des Reichskabinetts hatten unter Führung des Reichskanzlers vollzählig aus der Regierungsbanl Platz genommen. Ter Platz des Ministers Stresemann war mit schwarzem Flor umhüllt und mit einem Blu menstrauß geschmückt. Auf dem Abgeordnetenplatz Stre semanns war ein Strauß weißer Chrysanthemen niedergelegt worden. Vom Reichstagsgebäude wehte die Flagge aus Halbmast. Unübersehbare Autoreihen standen vor dem Portal. Tie Nachricht vom plötzlichen Tod Dr. Stre semanns hatte die Abgeordneten aus allen Teilen der Stadt herbsigerufen. Man sah nur bestürzte, nieder geschlagene Gesichter. Man schüttelte sich ernst die Hände, und es war, als ob jeder jedem sein Beileid zu dem großen Verlust, den der Tod Stresemanns bedeutet, aussprechen wollte. Um 10,15 Uhr, als der Plenarsaal und die Tribünen längst überfüllt waren, eröffnete Vizepräsident Esser die Sitzung. Di« Ver treter des Auswärtigen Amtes und der Länder standen dichtgedrängt auf der Regierungsestrade. Etne schwere beklemmende Stille lag über dem Saal. Die letzreu qatten dem Außenminister etne ungeheure Arbeitsfülle ge brach:. Ter Minister mußte wegen eines hartnäckigen Katarrhs das Bett hüten, doch begab er sich nach einer Rücksprache mit dem Reichskanzler vom Krankenbett aus in den Reichstag, um vermittelnd in den Streit um die Reform der Arbeitslosenversicherung einzugreifen. Am Nachmittag des Mittwoch wurde im Hause Strese manns ern Briogetee gegeben; Stresemann weilte einige Zeit bei den Gästen, unterhielt sich mit ihnen und begab sich in das Schlafzimmer, um es lebend nicht wieder zu ner^ssen. Die Reichsregierung beschloß, dem Reichsanßen- Minister Stresemann ein Staatsbegräbnis zu bereite«. Die Beisetzung erfolgt auf dem alten LuisenstSvtische« Friedhof in ver Bergmannstraße. Zuvor wird die sterbliche Hülle Stresemanns im Plenarsttzungssaale deS Reichstags, der Stätte seines langjährigen Wirkens in Kriegs- und Friedenszeit, aufgebahrt werden. Hindenburgs Beileid. Reichspräsident von Hindenburg, dem die Nach richt von dem Tode des Außenministers sofort über mittelt wurde, richtete nachfolgendes Beileidstelegramm an die Witwe Stresemanns: „Tiefbewegt sende ich Ihnen und den Ihren den Ausdruck meiner herzlichen Teilnahme an dem Plötz, lichen Tod ihres Gatte«, der bis z«m letzten Atem zug« so Iren für fein Vaterland gearbeitet hat. v. Hindenburg." . «persönlichen Auftrag« des Reichspräsidenten begab sich Staatssekretär Dr. Meißner in die Billa Stresemanns und sprach der Gemahlin und den beiden Mnen, die der Reichsaußenminister hinterläßt, das tiefempfundene Beileid des Reichspräsidenten zu dem schweren Verlust aus. TaS Mitgefühl des Auslandes.