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Nr. 2b9 Beilage zur Wetheritz-Zeitung Mittwoch, am 6. November 1929 95. Jahrgang Chronik des Tages. - Reichspräsident v. Hindenburg empfing den Preußi schen Ministerpräsidenten Braun. - Im Rechtsausschub des Reichstags kam es bei der Behandlung der Ehescheioungsreform zu einem Konflikt zwischen den Regierungsparteien. — In parlamentarischen Kreisen rechnet man setzt mit der Möglichkeit, daß der Volksentscheid bereits im Dezember stattfindet. — Die Eröffnung des polnischen Landtages ist um 30 Tage hinausgeschoben. - In Düsseldorf ist wieder ein Ueberfall auf eine Frau verübt worden. - Die pfälzische Stadt Zweibrücken ist in Zahlungs schwierigkeiten geraten. — Der in Ravenna verhaftete Bak^n-Baden« Arzt und Stadtrat Dr. Hübner ist wieder auf freien Fuß ge- setzt worden. ES soll sich um eine Verwechselung gehandelt — In Dragnignau in Frankreich wurde der junge Corbett, der seine Mutter aus Mitleid vorsätzlich getötet hatte, sreigesprochen. Generaldebatte in London —- London, 6. November Das englische Parlament befindet sich mitten in einem für die wettere britische Politik und das Schick sal der Arbeiterregierung bedeutsamen Tagungsab schnitt. Fast alle wichtigen Fragen der britischen Außen- und Innenpolitik stehen zur Debatte. Am Dienstag beschäftigte sich das Unterhaus mit der Wiederaufnahme der diplomatischen Beziehungen zwischen England und Rußland, am Donnerstag wird die Regierung Erklärungen über die Lösung der indischen Frage abgeben, ferner wird Ministerpräsi dent Macdonald dem Parlament über seine Reise nach den Vereinigten Staaten und die Verhandlungen mit dem amerikanischen Präsidenten Hoover Bericht er statten. Kritisch sah es bisher für die Regierung in der indischen Frage aus. Die Arbeitenegierung hat in Indien einen Personenwechsel vorgenommen und einen Systemwechsel angekündigt. Darob Empörung in den Reiben der Konservativen. Inzwischen haben sich jedoch die Wogen der Leidenschaft wieder geglättet. An oen Kreisen oer englischen Rechten wissen auch die Unentwegten, unhaltbar« Positionen beizeiten aus zugeben, um dafür die zweite Linie um so entschiedener zu halten. Das günstige Echo, das die Ankündigungen des Vizekönigs von Indien in Indien erweckt haben, hat in London ernste Beachtung gefunden und die Stellung der Regierung gestärkt. Im übrigen hat man sich jetzt wohl auch, davon überzeugt, daß die Ankündigung des „Systemwechsels" im Grunde doch nur eine Wiederholung der feierlichen Versprechen von 1917 darstellt, nach denen es das Ziel der britischen Jndienpottttk ist, Indien die Do- mintonverfassung, also das Recht der Selbst verwaltung zu gewähren. Einen Termin, bis zu dem dieses Ziel verwirklicht werden soll, hat man aber auch diesmal in London nicht genannt. Und das ist von entscheidender Bedeutung. Ueber Macdonalds Verhandlungen in Amerika glaubt der diplomatische Mitarbeiter der Zeitung „Echo de Paris" mit sensationellen Enthüllungen auswarten zu können. Danach soll Macdonald sich Hoo ver gegenüber zur Unterzeichnung eines Abkommens über die Freiheit der Meere beretterklärt haben. Als er dann aber dem Schatzkanzler Snowden durch ein Telegramm davon Kenntnis gegeben habe, England wolle einige Flottenstützpunkte schleifen und auf das Recht verzichten, in Krkegszeiten neutrale Schiffe auf hoher See zu durchsuchen, soll Snowden mit seinem sofortigen Rücktritt gedroht haben. Und so sei alles, so versichert das „Echo de Paris", ins Wasser gefallen. Noch vor der Inangriffnahme der außenpolitischen Fragen debattierte das Unterhaus über das Problem der Arbeitslosigkeit. Auch an diesem Tage waren Haus und Tribünen überfüllt, bildete doch die Bekämpfung der Arbeitslosigkeit im Wahlkampf einen wichtigen Punkt. , „ Wesentlich Neues hat jedoch der Minister zur Be kämpfung der Arbeitslosigkeit, Thomas, in seiner mit Spannung erwarteten Rede nicht gesagt. Er entwickelte ein Programm, das Aufwendungen von etwa andert halb Milliarden Mark zum Gegenstand hat. Durch öffentliche Arbeiten für die Verbesserung der Wasser versorgung, für die Modernisierung der Eisenbahnen, die Ausbesserung der Straßen und den Ausbau des Ferniprech- und des Londoner Untergrundbahnnetzes soll für einen großen Teil des Arbeitslosenheeres Ar beit und Verdienst geschaffen werden. Minister Thomas unterstrich bei dieser Gelegenheit die Tatsache, daß die Arbeitslosigkeit gegenwärtig wett langsamer anschwelle als im Vorjahre, während der Amtszeit des Kabinetts Baldwin. Das mag sein, trotz dem hat Minister Thomas mit seinen Darlegungen niemanden davon zu überzeugen vermocht, daß durch die Verwirklichung des angekündigten Programms di« Arbeitslosigkeit in England bald eine wesentliche Ver ringerung erfahren wird. Man sieht also, daß Deutschland mit seiner Sorge um die Arbeitslosen nicht alleinsteht. Von gewissem Interesse waren noch kurze Aus führungen des Außenministers Henderson über die Entwicklung in Deutsch-Oesterreich und die Umwand- lung der englischen Gesandtschaft in Warschau in eine Botschaft. Als Grund für die Umwandlung der britischen Gesandtschaft in eine Botschaft gab Henderson an, daß Polen eines der größten Länder und Warschau ein wichtiger politischer Mittelpunkt sei, wo Botschaften bereits von anderen Mächten, z. B. Frankreich und Ita lien, errichtet worden sind. Auf die Frage des So zialisten Wedgwood, ob die Erhebung der britischen Gesandtschaft in Warschau zur Botschaft die Behand lung der Minderheiten in Polen von feiten der polnischen Regierung berühren werde, erfolgte kein« Konflikt im Rechtsausschutz. Am Kampf um die Ehescheidungsreform. — Die Zeu- trumsabgeordneten verlassen den Ausschuß. — Berlin, 6. November. An der letzten Sitzung des RechtSauSschusseS ve» Reichstags kam es 1« der Frage der Ehescheidungs reform zu einem Konflikt zwischen den Regierungspar teien. Der Zeutrumsabgeordnete Dr. Bell teilte na mens seiner Fraktion mit, daß seine Partei bet der Retchsregiernng wegen der Behandlung dieser Frage im Ausschuß vorstellig geworden sei, jedoch noch keine Antwort erhalten habe. Solange das Zentrum in dieser Krage nicht Unterrichtet fei, könne <S an den Sitzungen im RechtSansschuß nicht teilnehmen. Rach der Abgabe dieser Erklärung erhoben sich die Vertreter des Zen trums und verließe« de« Saal. Für die übrigen Parteien erklärte Abg. Hane mann von der Deutschnationalen BolkSpar- tei, seine Partei verschließe sich keineswegs der Not wendigkeit der Reform der Ehescheidungsgesetze. Dazu sei jedoch eine Gesamtvegelung erforderlich, eine Teil lösung lehne seine Fraktion ab. Der Sprecher der Bayerischen BolkSpartei, Dr. Pfleger, brachte in einer Erklärung zum Ausdruck, daß kein Mit glied seiner Partei einer Regierungsgemetnschaft an gehören könne, deren Mehrheit sich für die Erleich terung der Ehescheidung auSspreche. Er beteilige sich nur deshalb an den weiteren Beratungen, um Ver- besserungSanträgen zur Annahme zu verhelfen. Der Vorsitzende des Ausschusses, Professor Dr. Kahl, teilte mit, der Reichskanzler habe ihn loyaler Weise von den Bedenken des Zentrums und der Bayerischen Volkspartei unterrichtet. Ueber die Wei terberatung oder Absetzung der Ehescheidungsanträge könne jedoch nur der AuSsthuh selbst entscheiden. Der Sprecher der Sozialdemokraten, Dr. Rosenfeld, befürwortete die Einsetzung eines Unterausschusses; Ab geordneter Dr. Bredt von der Wirtschaftspartet wandte sich gegen die Erleichterung der Ehescheidung. Zum Schluß der Debatte wurde die Einsetzung eines Unterausschusses beschlossen. Der Unterausschuß wird seine Beratungen über die mit der Ehescheidungs- resorm zusammenhängenden Fragen am Freitag auf nehmen. Der Rechtsausschuß selbst, der heute wieder zusammentritt, wird sich mit anderen Fragen befassen. * Schlaganfall des bayerischen Bevollmächtigten. Der bayerische Bevollmächtigte, Staatsrat von Nüßlein, erlitt während der Arbeiten der ReichSratS- ausschüsse im Reichstag einen Schlaganfall. * Volksentscheid am 15. Dezember? Am heutigen Mittwoch, unmittelbar nach der amt lichen Feststellung des EinzcichnungScrgcbnisseS beim Bolksbegehren, wird der Reichskanzler gemeinsam mit den zuständigen Reichsministern und den Führern der Regierungsparteien die nach der Annahme des Volks begehrens entstandene Lage erörtern. Das Reichsinnen. Ministerium hat bereits alle Vorbereitungen getroffen, damit der Volksentscheid ohne Verzögerung stattfinden kann. Wenn keine außenpolitischen Bedenken geltend gemacht werden, so will der Reichsminister des In nern am Donnerstag die Verbindung mit den Regie rungen der Länder aufnehmen, um festzustellen, ob eS möglich wäre, den Volksentscheid bereits am 1S. De zember stattfmden zu lassen. Die Reform des HaushalLsrechts p-itsätze des Industrie- und Handelstags und deS Reichsverbandes der deutsche« Jndnstrie. — Berlin, 6. November. In der Erkenntnis, daß eine der wichtigsten Vor bedingungen der notwendigen Kapitalbtldung in Deutsch land erhöhte Sparsamkeit auch im Reichshaushalt ist, haben der Deutsche Industrie- und Handelstag sowie > der Reichsverband der deutschen Industrie ihre An« I sichten zu der zur Zeit vom Haushaltsausschutz behan« ; delten Frage der Reform der Reichshaushaltsordnung ! in zehn Leitsätzen ntedergelegt. i Die einschneidenste Aenderung gegenüber dem gel tenden Rechtszustand würde Leitsatz 1 schaffen, dessen wesentlichster Teil lautet: ' ! " _ ES ist notwendig, daß sich der Reichstag eine «e- ! schrankung seines AusgabebewilligungSrechtr» anferlegt, di« , eS ausschließt, daß ohne die Zustimmung der ReichSregierung Ausgaben im Reichshaushaltplan erhöht »der neu« Ans gaben eingesetzt, Gesetz« verabschiedet und Beschlüsse gefaßt werden, die eine Erhöhung der AnSgaben im Haushalt- plan deS laufenden Jahres vorsehen. Ta» gleiche muß für die Erhöhung der im Entwurf de» Haushaltsplan» ent haltenen Einnahmeschätzungen, und zwar gleichermaßen für Reichsrat nnd Reichstag, gelten. Leitsatz 2 will die Stellung des Reichssparkom missars festigen und die Befugnisse des Retchsspar. kornmissarS erweitern. Leitsatz 3 verlangt ein fünf jähriges Sperrjahr für Anleihen sur Deckuns neuer Ausgaben, ferner eine Festlegung bei AtüDilbeH deren Deckung durch Anleihen überhaupt zulässig tsd Leitsatz 4 macht sich die alte Forderung zu «gen, wonach größere Kosten verursachende Gesetze mit DeL kungsvorschlägen verbunden fein müssen. Leitsatz 8 macht Vorschläge zur Vertiefung UN» Beschleunigung der Arbeiten des RechnunaShofeil und fordert ferner die Ausdehnung seiner Komp««-, zen aus die Kontrolle der Betriebe, Dr deren Lotstwn- gen das Reich Bürgschaften etnaeganaen ist; fern« aus die Tochtergesellschaften der Bemeoe, an denen da» Reich beteiligt ist. Leitsatz 9 fordert di« Vorlegung des Termins für die, Einbringung des Haushaltsent wurfs beim Reichstag vom 6. Januar auf den 10. September. Leitsatz 10 will die Verpflichtung de» Steuerfiskus sestleaen, Dr Zahlungen, die vor der gesetzlichen Fälligkeit erfolgen, eine» angemessenen Dis» kont zu vergüten. Gefahr für die Wirtschaft. Bolksparteiliche Ausschußtagung 1« vreme«. — Die St«erkraft ist ««»geschöpft. Der ReichSauSschutz Dr Handel und Industrie der Deutschen BolkSpartei hielt in Bremen eine Tagung ab, der u. a. Staatssekretär z. D. Kempkes, Geheim rat Dr. Zapf, Prof. Dr. Leidig und der frühere Reichs» kanzler Dr. Luther beiwohnten. ReichStagSabgeord neter Dr. Hugo eröffnete die Tagung mit einem Nach ruf Dr Stresemann. In seinem Schlußwort betonte der Vorsitzende zusammenfassend, die Wirtschaft, die Erzeugerin der Lebenskraft des Volkes und die Trägerin der sozial«» Aufgaben des StaateS, sei bis zur letzten Neige von dem zur Bewältigung der Produktion erfordwliche» Kapital entblößt. Die Steuerkrast sei auSgeschöpft/dS öffentliche Finanzbedarf fei über das etträguche hinaus gesteigert, der Kasfenbedarf vielfach ungedeckt, und die öffentlichen Körperschaften seien stark verschul det. Bet Fortdauer der jetzigen Zustände sei die Er schütterung auch der sozialen Einrichtungen btt in die Grundfesten unabwendbar. Im »ordergnrxd stehe der Zwa«g z«r verrt«- ger««g der öffe«tttche« Ausgabe« «mi««« DM» »uv ver Abba« ««d Umbau der Steuer». Reichs- «uv Ver» fassuugvreform seien die wichtigste« voranSsetzuugen z«r ei«heitlichen R«ord««xg mrv Sichernug verstaat lich«« Z«stä«de. An dem Wille«, die Frhlergnelle« z» beseitige«, müßte« alle Partei« «uv Schicht« de» veutsch« Volke» einig werd«. Die Preußischen Kirchenverhandlunge«. ... In dem Kirchenausschuß der Deutschen Demokra tischen Partei erstatteten Pfarrer Geibel und Landtags abgeordneter Bohner Bericht über die Verhandlung« des preußischen StaateS mit den acht evangelisch« Landeskirchen. Trotz der großen sachlich« Schwierig keiten, so erklärten sie, schritt« die Besprechung«, die Tag Dr Tag fortgesetzt würden, in einer für beide Vertragspartner befriedigenden Weise vorwärts. Sine Be^chlermigung der Verhandlung« sei dringend er- Fürst Bülows Beisetzung. Die Trauerfeicr i« Klein-Flottbek. In Hamburg-Mtona wehten am Dienstag die Flaggen der öffentlichen und vieler privat« Gebäude aus Halbmast. Aus allen Teilen des Reiches und aus dem Auslande sind eine große Menge kostbarer Kranz- und Blumenspenden in der Elbvilla in Klein- Flottbek eingetroffen. U. a. sah man die Chry santhemenkränze der Reichsregierung nnd des Auswär tigen Amtes, ferner Kranzspend« des ehemalig« deut schen Kaisers, des Königs von Italien, der deutschen Botschaft und der Evangelischen Gemeinde in Rom, der Deutschen Kolonie in Rom, des Vereins Bonner Husaren usw. Von den Familienangehörigen war« u- anwesend der einzige noch lebende Bruder des Fürsten, Friedrich von Bülow, die Neff« des Fürsten, Geheimrat Bernhard Wilhelm von Bülow aus dem Auswärtigen Amt. AlS Vertreter der ReichSregierung hatte sich Reichskanzler Müller in Begleitung des Staatssekretärs Pünder und des Oberregierungsrats Walther eingesunden, während Staatssekretär Schubert das Auswärtige Amt und Reichstagspräsident Löbe den Reichstag vertrat. Geheimrat Graf Tatteilbach legte im Namen des Reichspräsidenten eins, Kranz nieder. Für Preußen war Staatssekretär Weißmann erschienen. Im Speisezimmer der Billa war der,wichen sarg aufgestellt. Die Feier wurde eingeleitet mit der Ver- lesung des Psalmes 90. Darauf hielt Pastor Chaly- baeuS-Nienstedten vie Gedächtnisrede, der er das Wort zu Grunde leg^: „Ich arine uub dein Bürger wie alle meine Väter « kmt habe sich der Entschlafene, so führte der Geist liche aus, vor wenigen Wochen selbst auf seinen Grab- gesetzt. In dieser Stunde grüße das Bibelwort die Trauerversammlung als daS Lebensbekenntnis des Verstorbenen, der schon an der Schwelle des Grabes, die Summe feiner reifen und reichen Lebenserfahrung in diesen Worten zusammenaeschlossen habe. Der Geist liche zeichnete sodann ein Bild von dem Werd« und Wirken des verstorbenen Fürst« als Mensch und Staatsmann.