Volltext Seite (XML)
Beilage zur Wetheriy-Zeitung Nr. 79 Freitag, am 5. April 1929 95. Jahrgang ! Chronik des Tages. — Im Alter von 84 Jahren starb in Ladenburg Dr. Karl Benz, einer der bekanntesten Pioniere des deutschen Autoinobiuvesenö. . ! — In Wien wurden Verhandlungen über die Neu- ? bildung der Regierung eröffnet. — Ein Angestellter der russischen Handelsvertretung in Berlin, ÄlpanaSjewitsch, gab in einer polnischen Kreis stadt an der russischen Grenze Schüsse auf polnische Polizei beamte ab. — In ganz Deutschland lagen am Donnerstag die Tem peraturen unter dem Gefrierpunkt. Stellenweise hat es bei 8 Grad unter Null stark geschneit. i — In der Strafsache wegen Anleihebetruges ist das ! Hauptverfahren gegen Hugo Stinnes, Rothmann, v. Waldoff, i Bela Groh, Leo Hirsch und Schneid eröffnet worden. ' — In Kattowitz wurde die Familie eines Lokomotiv führers, bestehend aus der Schwiegermutter, der Ehefrau und dem vor einigen Tagen geborenen Kind, in der Wohnung mit durchschnittenen Kehlen aufgesunden. Die Bluttat konnte bisher nicht aufgeklärt werden. — Infolge zweier Großfeuer sind in Südtirol 30 Häuser emgeäschert worden, lieber 60 Personen sind ob dachlos. — Cillh Außem muß pausieren, da ihr der Arzt wegen eines Augenleidens zunächst die Ausübung des Tennis spieler verboten hat. Was bedeutet Seipels Verzicht? Ein Opfer im Interesse des inneren Friedens? — Be sprechungen über die Neubildung der Regierung. — Wien, den 5. April. Der Rücktritt des Kabinetts Seipel hat in Deutsch- Oesterreich größte Ueberraschung hervorgerufen. Die Verwunderung ist in parlamentarischen Kreisen nicht geringer als draußen im Lande, hatten doch so gar die Leute, die sonst das Gras wachsen hören, keine Ahnung von der Amtsmüdigkeit der Minister! Was werde» wird, ist schwer zu sagen. Die wahren Gründe, die den Rücktritt des Bundeskanzlers herbeigesührt Haven, sind völlig unbekannt. Neigung, die bisherige Koalition ans den Christlich-Sozialen — die dem deutschen Zentrum gleichzusetzen sind — den Großdentschen und den Landbiindlern unter Dr. Seipel fortzusetzen, ist allenihalben vorhanden, nnr ist es fraglich, ob Dr. Seipel bereit sein wird, aber mals Pas Amt des Bundeskanzlers z« übernehmen. Es gewinnt den Anschein, als wolle Bundes kanzler Dr. Seipel durch seinen Rücktritt den Anstoß zu einer neuen Entwicklung für Deutsch-Oester reich geben. In Deutsch-Oesterreich haben sich bekannt lich infolge der erzwungenen staatlichen Selbständigkeit des Landes, das nur im Rahmen Deutschlands gedeihen könnte, Schwierigkeiten und Gegensätze in Hülle und Fülle ergeben. Man ist in Deutsch-Oesterreich radi kaler als im Reiche, und die Kluft zwischen der Linken und der Rechten »st tiefer als in anderen Ländern. Von sozialdemokratischer Seite wurden wiederholt scharfe Angriffe gegen Dr. Seipel gerich tet. An der Zuspitzung des Konflikts zwischen der Opposition und Dr. Seipel scheiterte bisher u. a. auch die Verständigung über die Neuregelung der Mieten- ge setze. Aber auch sonst fehlt es vielfach an einem Ausgleich, so z. B. in der Polizei frage. Leben doch in Wien die Beamten der staatlichen und der Kommunalpolizei mit einander aus dem .Kriegsfuß: es ist ihnen ausdrücklich verboten, einander zu grüßen! An Versuchen, eine Verständigung mit der Opposition herbeizuführen, hat es nicht gefehlt, doch scheinen die Sozialdemokraten mit Dr. Seipel nicht haben zusam- menarbeiten wollen. Im Parlament hört man bereits Namen der ver mutlichen Nachfolger Dr. Seipels. Sicher handelt es sich hierbei um bloße Mutmaßungen. Die Berhand, luvgen über die Beilegung der Krise werde» nicht mit Namensnennungen beginnen, sondern im Vordergrund steht vorerst die Frage, welche Haltung wird die Oppo sition einnehmen, wenn ihr die alte Koalition mit einem neuen Kanzler an der Spitze entgegentritt? Bo» der Beantwortung dieser Krag« hängt alles weitere ab. * Vorbesprechungen der Christlich-Sozialen. Die ersten Vorbesprechungen über die Klärung oer innerpolitischen Lage haben am Donnerstag ihren Anfang genommen. Der Vorstand der Christlich-Sozi alen hat in einer Sitzung, an der auf kurze Zeit auch Bundeskanzler Dr. Seipel und Finanzminister Kienböck teilnahmen, dem Bundeskanzler und den anderen Negierungsmitgliedern das Vertrauen aus gesprochen. Ler ehemalige Vizekanzler Fink wurde beauftragt, mit den übrigen Fraktionen Fühlung zu nehmen. Als Berater steht dem Unterhändler u. a. der steierische Abgeordnete Gürtler zur Seite, der sich wiederholt um einen Ausgleich bemüht hat. Wie verlautet, soll der Nationalrat am DienS- k»g zur Entgegennahme der Regierungserklärung zu- sammentreten, doch ist es fraglich, ob das neue Ka- btnett bis dahin schon im Amte sein wird. Man rech net mit einer längeren Dauer der Regierungskrise. * Seipels Gründe für den Rücktritt. LMinisterrat begründete Bundeskanzler Seipel de« Rücktritt damit, es bestehe di« Gefahr, daß infolge der Spannungen wichtige Fraaen keine befriedigende Losungen fänden, die, rein sachlich betrachtet, durchaus möglich wären. „Der Auswirkung der Möglichkeiten zum inneren Frie- den und zur Kräftigung d«S Staates," fo fuhr Dr. Seipel fort, „stehen die Spannungen entgegen, die zu einem erheb- Uchen Teil, wenn auch mit Unrecht, der gegenwärtigen Re gierung zur Last gelegt werden. Durch eine beharrliche Agitation wurde viel Haß angehäuft, der, soweit er di« Personen betrifft, zu ertragen wäre, obwohl er ohne fcgn- Uchen Schein eines inneren Grundes auf meinen Stand und die Kirche ausgedehnt wird. Teswegen halt- ich es für richtig, nachdem ich in den zehn Fahren der Republik ins. gesamt fast fünf Jahre an der Spitze der Regierung ge standen habe, den politischen Parteien die Möglichkeit zu geben, in anderer Weise, als eS unter meiner Führung ge schehen konnte, die Zukunft sicherzustellrn." ' * Wenn Bundeskanzler Dr. Seipel auf seinem Rück tritt beharrt, scheidet damit ein Mann von inter nationalem Ansehen aus der österreichischen Regierung aus. Ohne Zweifel hat sich Dr. Seipel große Verdienste um die Festigung Deutsch-Oesterreichs erworben. Fest gestellt zu werden verdient noch, daß Dr. Seipel, der anfangs wenig vom Anschluß sprach, in den letzten Jahren mehr und mehr das Recht Deutsch-OesterreichS auf Vereinigung mit dem Deutschen Reiche unter strichen hat. Russisch-polnischer Konflikt. Ei«» Berliner Sowjetbeamter schießt auf polnisch« Polizisten. — Ans vcr Grenzwache. Auf der Bahnhofswache der polnischen Kreisstadt Baranowieze an der russischer» Grenze ereignete sich ein blutiger polnisch-russischer Zwischenfall. Die Einzelheiten der Vorgänge bedürfen teilweise noch der Aufklärung. Eine Untersuchung »st sowohl von russi scher als auch von polnischer Seite cingelettet worden. Fest steht bisher lediglich, daß der Angestellte de« russischen Handelsvertretung in Berlin, Apanasjewitsch, der in Begleitung seiner Frau von Berlin nach Mos kau reiste, in Baranowieze den durchgehenden Zug verließ, «m Verwandte zu besuchen. Die polnische Polizei nahm das Ehepaar in Haft, mit der Begrün dung, es habe keine Aufenthaltserlaubnis. Auf de« Bahnhofswache soll Apanasjewitsch nach polnische» Darstellung ohne erklärlichen Grund plötzlich eine« Revolver hervorgeholt, auf zwei polnische Polizei- beamte geschossen und sich dann selbst eine leichte Schlä- fenwnnde beigevracht Haber». Einer der polnischen Po lizisten ist den Verletzungen bereits erlegen. Die der Sowjetregierung nahestehenden Kreise be zeichnen die von den Polen gegebene Darstellung als unrichtig. Sie behaupten, Apanasjewitsch se» be rechtigt gewesen, sich 24 Stunden in Baranowieze auf zuhalten. Es treffe auch nicht zu, daß Apanasjewitsch „ohne erklärlichen Grund" gefeuert habe. Bei dem Zusammenstoß mit der Polizei hätten die polnischen Polizeibeamten vielmehr den Versuch gemacht, dem Russen politische Schriftstücke zu entwenden. Um diese Pläne zu vereiteln, habe Apanasjewitsch in der Not wehr schließlich zur Waffe gegriffen. Wie noch mitgeteilt wird, haben sich zur Unter suchung der blutigen Ereignisse der polnische Ge neralstaatsanwalt in Warschau und ein Beamter der Sowjetgesandtschast nach Baranowieze begebe». Apanasjewitsch und seine Frau befinden sich in Haft. Nönneburg Sstpreußenkommiffar. Wie verlautet» hat das preußische Staatsministe rium im Benehmen mit der Reichsregierung den Land rat des Kreises Franzburg, den demokratischen Reichs tagsabgeordneten Rönneburg, zum Staatskommis sar für die Durchführung der Hilfsaktion für Ostpreu ßen ernannt. Als Mitarbeiter sind Oberregierungsrat Lietmann vom preußischen Landwirtschaftsministe rium und der Referent der preußischen Zentralgenos senschaftskasse, Dr. Lauffer, bestellt worden. Dr. Karl Benz 1'. Im Alter von 84 Jahren starb der Erfinder des Starkmotors und Gründer der Bcnzwerke in Mannheim, Dr. Karl Benz. Die deutsche Automo bilindustrie hat damit einen ihrer bekanntesten Pioniere verloren. Ist doch die Geschichte des deut schen Automobilwcsens unzertrennbar mit dem Namen Benz verbunden. Seine Vorliebe für Maschinen hat Dr. Karl Benz von seinem Vater geerbt, einem Lokomotivführer in Karlsruhe, der einige Jahre nach der Geburt des Sohnes bei einem Eisenbahnunfall sein Leben einbüßte. 1871 errichtete Karl Benz in Mannheim ein eige nes Geschäft. Sein Lieblingsplan war der, ein Fahr zeug zu bauen, das sich auf allen Straßen mit eigener Ktaft fortbewegen konnte. 1878 gelang ihm die Kon struktiv,» eines Zweitakt-Motors. Bei Errichtung der neuen Firma Benz u. Cie. gestatteten ihm die Teil haber auch den Motorwagenbau, doch wurde ausdrück lich bemerkt, daß die darauf aufgewandten Kosten „als verloren angesehen werden sollten". Dennoch ge lang es Karl Benz 1885 seinen ersten dreirädrigen Motorwagen in Gang zu bringen, der heute im Deut schen Museum in München steht. Beim ersten Fahrversuch konnte das Fahrzeug mit Mühe und Not 100 Meter zurücklegen! Trotz dieses Mißerfolges und vieler anderer, die noch kamen, j trotz Hohn und Spott, hielt Benz an seinem Gedanken ! fest, und schließlich war die Bahn frei, begann der ! Stegeszug des Kraftwagens. Zum 70. Geburtstag ernannte ihn die Technische ; Hochschule Karlsruhe zum Ehrendoktor; der All- ' gemeine Deutsche Automobil-Klub ehrte Karl Benz in letzter Zeit noch durch die Verleihung der Bril- lantnadcl. Was ist in Iannowitz? Weitere Vernehmungen. — Verfahre,» gegen Fleische« Bittner. Ueber den Stand der Vernehmungen in Janno-' Witz wird amtlich folgendes mitgeteilt: Der Fleischer Bittner hat ausdrücklich bekundet, daß Graf Christian Friedrich nicht diejenige Pers«»« ist, die ihn gegen Zahlung von 8» M. zu einer Ge- walttat gegen den Grafen Eberhard verleiten wollte. Bittner hat die von einem Unbekannten angeboteue» 50 Mark übrigens angenommen. Gegen ihn ist deshalb, ei»» Verfahren eingeleitet worden. Die Berliner Kriminalbeamten haben bis in die Abendstunden gearbeitet und noch mehrere Personen vernommen. Im Interesse eines ungehinderten Fort-, ganges der Untersuchung kann jedoch über das Er» aebnis dieser Verhöre nichts mitgeteilt werden. Der Prozeß Langkopp. Ausweisung eines Zwischenrufers. — Ein erschütternde«; Fall. — Die Neberlastung des Entschädigungsamtes. — Berlin, den 6. April. Der zweite Tag des Langkopp-ProzesseS wegen des Attentats im.Reichsentschädigungsamt nahm teil weise einen dramatischen Perlaus. Zu Beginn der Sitzung ereignete sich abermals ein Zwischenfall. Den junge Mann, der schon am Vortage Zwischenrufe ge macht hatte, erhob sich erneut und ries: „Gestatten Sie, Herr Vorsitzender, es ist höchst bedauerlich, daß hiev zwei Unschuldige angeklagt sind." Der Vorsitzende ließ darauf den Zwischenrufer aus dem Saale führen. Die Zeugenvernehmung begann mit der Aussage des 76 jährigen früheren Ju- stizrats Ruhland aus Kolmar i. Elsaß. Justizrat Ruhland war nicht geladen worden, er hatte sich je doch freiwillig gemeldet, um über die Not der Geschä digten auszusagen. Die Vernehmung des schwerlei denden Mannes, der auf Krücken in den Saal geführt worden war, ergab erschütternde Einblicke. Der Zeuge erklärte, 1914, am ersten Mobilmachungstag, habe er sich freiwillig zur Front gemeldet, obwohl er 61 Jahre alt gewesen sei. Er habe ein Vermögen von 450 000 Goldmark gehabt, durch den Krieg und die Inflation jedoch alles verloren. Unter Tränen erklärte Ruh land, er habe oft hungern müssen und hätte nur in Rücksicht auf seine Tochter den letzten Schritt nicht getan. Zeuge schilderte dann seine Verhandlungen mit den Entschädigungsbchörden und beklagte sich dabei darüber, daß seine Versuche, den Präsidenten Kar pinski zu sprechen, schroff abgewiesen worden seien. Niemand habe ihm geholfen, nur ei,»er sei ihm bei gesprungen: Hindenburg, dem er geschrieben und der ihm darauf aus seinem Fonds monatlich 100 M. an gewiesen habe; von diesem Gelds lebe er heute. Regierungsrat Lazarus, der darauf als Sach verständiger gehört wurde, sagte aus, der soeben ver nommene Zeuge Ruhland gehöre zweifellos zu den am schwersten betroffenen Geschädigten. Nach der Gesetz gebung dürften nur Sachschäden vergütet werden, und der Sachschaden des Zeugen sei auf 147 000 M. bezif fert worden. In der Schlußentschädigung sei Ruh land ein Betrag von 20 650 M. zuerkannt worden, der als Schuldbuchforderung mit 6 Proz. Zinsen ein getragen worden sei. Präsident Karpiust» vom Reichsentschädigungsamt gab Auskunft über die Behandlung der Geschädigten. Er erklärte, das Amt habe 350 OVO Fälle zu bearbeiten gehabt nnd 300 000 Anträge a«S den Härtcfonds. Der Posteinlanf des Amtes betrage 1,4 Millionen Stücke im Jahr. In den letzten elf Monate» hätten ihn 43 000 Geschädigte persönlich zu sprechen gewünscht. Dein habe er na türlich nicht stattgebe«» können. Geheimrat Bach als Zeuge. Als letzter Zeuge wurde der frühere stellvertre tende Vorsitzende des Reichs-Entschädigungsamtes Ge heimrat Bach vernommen, der die Vorgänge bei dem versuchten Attentat im Reichs-Entschädigungsamt schil derte. Er erklärte u. a., Langkopp habe ihn keinen Augenblick aus dem Auge gelassen und die Zündschnur zum Sprengstoff nicht aus der Hand gelegt. Als dev Vorsitzende den Zeugen fragte, ob er sich während des Zusammenseins mit Langkopp bedroht gefühlt habe, erwiderte Geheimrat Bach, er habe sich die ganze Zeit über als unter einem Zwange stehend gefühlt. Politische Rundschau. — Berlin, den 5. April 1929. . Oberbefehlshaber des Gruppenkommandos l Generalleutnant Hasse, ist zum General der Infanterie befördert worden. „—„"77 Der verstorbene preußische Zentrumsabgeordnete Loe- nartz wurde in Köln unter großer Beteiligung beigesetzt. * . _ :: König Fuad von Aegypten will nunmehr am 10. Juni morgens zum Besuch des Reichspräsidenten von Hindenburg nach Berlin kommen. Der Besuchs- termtn wurde vorverlegt, weil Hindenburg Mitte Juni seinen Urlaub antreten wird. :: Die deutschen Sisenbahnbeamten im besetzte« Gebiet dürfen in Zukunft auch die Fahrkarten der Mi litärpersonen nachprüfen. Bisher durfte die Kontrolle der Militärfahrkarten nur durch Beauftragte der Be satzung üuSgeübt werden! :: Der Präsidierende Bürgermeister von Hamburg, Dr. Petersen, begab sich zu einem mehrtägigen Be such nach Kopenhagen und wurde dort von dem däni schen König Christian empfangen.