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April 1888. STAHL UND EISEN.“ Nr 4. 279 ; Nachruf. George Henry Corliss }. Aus den Vereinigten Staaten von Nordamerika erreicht uns die Trauerbotschaft, dafs die Welt einen ihrer ersten Ingenieure verloren hat. Am 21. Februar d. J. verschied in Providence R. I. George Henry Corliss, der unstreitig den Namen des weitbekannte sten Ingenieurs der Vereinigten Staaten verdient. Corliss war am 2. Juli 1817 in Easton, Washington County, N. J., geboren; seine Schulbildung war eine nur mäfsige, indem er 6 Jahre lang eine Dorfschule und 3 Jahre eine höhere Schule in Castleton be suchte. Im Alter von 21 Jahren übernahm er einen Kramladen, beschäftigte sich aber damals schon mit Vorliebe mit mechanischen Problemen. 27 Jahre alt, verband er sich mit John Barstow und E. J. Nightingale unter der Firma Corliss, Nightingale & Co. in Provi dence R. I., begann 2 Jahre später sich mit Ver besserungen an der Dampfmaschine zu beschäftigen und nahm im Jahre 1849 die ersten Patente zum Schutze seiner Erfindungen. Der Kampf, den er bei der Einführung seiner Neuerungen zu bestehen hatte, war kein kleiner, indem sowohl Maschinen bauer wie Fabricanten ungläubig auf die geistreich erfundene Einrichtung zum Oeffnen und Schliefsen der Ventile blickten. Hätte der Erfinder nicht unumstöfsliches Vertrauen in den Werth seiner Neuerungen gesetzt, so würde er zweifelsohne nicht gegen die sich wider ihn erhebende Opposition durch gedrungen sein. Trotz aller Entmuthigungen hielt er aus und nachdem erst einige Maschinen in Betrieb waren und für sich selbst Zeugnifs ablegten, indem sie eine unerhörte Ersparnifs an Brennmaterial und einen regelmäfsigen Betrieb ergaben, der namentlich von den Baumwollspinnereien von Rhode Island gewürdigt wurde, war sein Ruf gesichert. Die erste Corliss-Maschine, welche Europa zu sehen bekam, befand sich auf der Pariser Welt-Ausstellung im Jahre 1867, woselbst sie sich den höchsten Preis holte. Die Schnelligkeit, mit welcher das Princip auf dem europäischen Festlande Eingang fand, mag durch die Thatsache erwiesen werden, dafs von den 400 Dampfmaschinen, welche in Wien 1873 zu sehen waren, also nur 6 Jahre später, die Mehrzahl Corliss- Steuerungen oder Nachbildungen derselben besafsen. Trotzdem Corliss daselbst nicht ausgestellt hatte, wurde ihm in Anerkennung dieser Thatsache der höchste Preis zu theil. Auf der Centennial-Ausstellung in Philadelphia im Jahre 1876 zeigte Corliss, der dem Thätigkeits-Ausschüsse derselben angehörte, eine Dampfmaschine von 1400 HP, welche zum Betriebe der gesammten Maschinen im Ausstellungsgebäude diente und die gröfste Bewunderung erregte. In jener Zeit wurden seine Verdienste auch voll ständig anerkannt, so wurde ihm 1870 die Rumford- Denkmünze durch die amerikanische Academie der Künste und Wissenschaften, 1878 die Montoyon-Denk- münze aus Frankreich verliehen, während 1886 der König der Belgier ihn zum Ritter des Leopold-Ordens schlug. In den Jahren 1868 bis 1870 war er auch Mitglied des Staatssenats; er bekleidete im amerika nischen Gemeinwesen einige hohe Ehrenämter, ob gleich er die meisten ihm angetragenen ausgeschlagen hat. Bis in die letzten Jahre seines Lebens war er das Haupt der Corliss Steam Engine Company in Providence. Corliss hat dem neuen Dampfmaschinenbau die Pfade gewiesen, unbewufst steht die Mehrzahl der Constructeure unter dem Einflufs seiner Werke. Beredtes Zeugnifs hierfür legen die Patentlisten aller Länder ab, welche gefüllt sind mit den verschieden sten Arten von Präcisions-Steuerungen, deren erste von ihm erdacht und ausgeführt wurde. Seine Thätigkeit beschränkte sich jedoch nicht auf die Steuerung der Dampfmaschine allein, rücksichtslos brach er mit allen Ueberlieferungen, entwickelte neue Formen auch in der äufseren Bauart seiner Maschinen mit solchem Glück, dafs dieselben thatsächlich einen Siegeszug durch die ganze Welt gemacht haben. Mit dem mechanischen Aequivalent der Wärme, mit der Kinematik und ähnlichen Dingen befafste sich der grofse Mechaniker wohl kaum, aber ein ge borener Constructeur, ein Mann der glücklichsten, fruchtbarsten Gedanken auf dem Gebiete des prak tischen Maschinenbaues war - er unstreitig. Corliss kennzeichnet so recht die eigenthümliche Richtung der amerikanischen Technik, die unbedingte Speciali- sirung, die Beschränkung auf einen oder wenige Gegenstände unter Aufbietung aller Kräfte. Darin liegt gröfstentheils das Geheimnifs der überraschenden gewerblichen Erfolge in den Vereinigten Staaten. Wir wollen keineswegs behaupten, dafs alle von Corliss entworfenen Maschinenänderungen mustergültig und tadellos sind. Unseres Erachtens macht sich oftmals eine absichtliche Sucht, aus dem Rahmen des Ueblichen herauszutreten, die Welt durch ganz neue Formen zu verblüffen, etwas stark geltend. Dem Grundsätze, auf dem kürzesten Wege mit den einfachsten Mitteln die Lösung zu suchen, wird nicht immer Rechnung getragen. Es betrifft dies weniger seine normale Dampfmaschine, als vielmehr andere Aus führungen, deren Formen manchmal an die Bauart der Barockzeit streifen, aber stets eigenthümlich und geistreich sind. Eine Lebensbeschreibung des merkwürdigen Mannes, unter voller Berücksichtigung seiner constructiven Thätigkeit, wäre eine dankenswerthe Aufgabe. Welchen Eindruck Mr. George H. Corliss auf seine Zeitgenossen, die ihm näher traten, machte, davon giebt der treffliche Bericht des Hrn. Professor Radinger in Wien über die Dampfmaschinen auf der Ausstellung 1878 zu Philadelphia ein beredtes Zeugnifs. „Ehre dem jungen Lande, Ehre dem grofsen Corliss!“ schrieb damals der berufene Sachkenner. Mit den selben Worten der gerechten und warmen Anerkennung wollen wir die Todesnachricht des unvergefslichen Bahnbrechers beschliefsen.